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Wie Zeitungen berichten, hat der Leiter des Leipziger Thomanerchors, Rotzsch, bereits vor längerer Zeit bei der Stadt Leipzig, in deren Diensten er steht, eine Erklärung unterzeichnet, daß er niemals für die DDR-Staatssicherheit gearbeitet habe. Jetzt wurde gleichfalls durch Zeitungen bekannt, Rotzsch sei jahrzehntelang Inoffizieller Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit gewesen. Sowohl er selbst wie auch sein ehemaliger Führungsoffizier bestätigten die Tatsache und teilten Einzelheiten der Kooperation mit. 

Statt der sonst in solchen Fällen üblichen Empörung in der Öffentlichkeit gab es diesmal bloß Beweise von Zuneigung und Vertrauen. Der Kantor habe das beste für den Chor gewollt. Der Mann sei immer introvertiert gewesen und eigentlich unpolitisch. Die Eltern der Thomaner stellten sich vor Rotzsch. Der Leipziger Oberbürgermeister sah sich genötigt, die Fortsetzung von Rotzschs künstlerischer Arbeit zu garantieren. 

Von der wissentlich falschen Erklärung des Kantors zur eigenen Person war nicht die Rede. Man erkannte zugleich, daß dem Fall eine förmliche Präzedenz zukam. Man wußte genau, daß, was Rotzsch eingeräumt wurde, anderen Stasi-Informanten schwerlich zu verweigern war. Tatsächlich scheint die Bedrohung, die von einer öffentlichen Stasi-Verdächtigung bisher ausging, jetzt nicht mehr wie gewohnt zu greifen. 

Ein Journalist schrieb, am häufigsten falle gegen von außerhalb vorgetragene Vorwürfe zu Rotzsch ein Satz, dem im Osten eine ähnliche Karriere drohe wie einst im Westen dem bekannten »Geht doch nach drüben«. Der Satz laute: »Die haben hier alle nicht gelebt.«

Der erste Thomaner-Auftritt nach den Enthüllungen lief vor einer vollbesetzten Kirche ab. Zum Schluß spielte die Orgel von Max Reger »O Lamm Gottes unschuldig«.

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Über den Chef der ehemaligen DDR-Staatsgewerkschaft, Harry Tisch, dem wegen Amtsmißbrauchs und Veruntreuung von organisationseigenen Geldern der Prozeß gemacht wird, lese ich diese Sätze: »Als erster der Bankrotteure des alten Regimes steht er vor Gericht. Die Anklage ist, gemessen am Bedürfnis zur Abrechnung und den zahllosen schweren Verbrechen, die im Namen des Regimes begangen wurden, kläglich. Tisch hat nicht gemordet und nicht gefoltert. Doch er hat ein System mitgetragen, in dem gemordet und gefoltert wurde. Und nun hält man ihm Hotelrechnungen vor.«

 

Die demonstrative Friedensgesinnung vieler zumal deutscher Künstler im Zusammenhang mit dem Golfkonflikt findet eine einfache Erklärung. Sie läßt sich nachlesen in der von einer konservativen Zeitung gedruckten Bemerkung eines Kritikers: Allein der Gedanke an Truppenunterhaltung schon verpflichte zum Pazifismus.

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Auch nach der Währungsreform ist das Bestattungsgeschäft zwischen den ehemals beiden deutschen Staaten grenzüberschreitend geblieben. In der kleinen Stadt Quedlinburg wurden allein in den ersten sechs Wochen des Jahres 1991 ein rundes Dutzend Leichen aus Goslar und Bad Harzburg zur Einäscherung angeliefert. Die 50 bis 70 Kilometer weite Fahrt und der Rücktransport der Urnen kamen immer noch billiger als die Verbrennung in entsprechenden Einrichtungen des Landes Niedersachsen. So beläuft sich eine Einäscherung in Quedlinburg auf 126, im alten Bundesgebiet auf 500 bis 600 D-Mark, die ärztliche Untersuchung pro Leiche kostet in Quedlinburg drei, im Alt-Bundesgebiet 50 bis 80 D-Mark. Während die neuen Bundesländer aufgrund des starken Wirtschaftsgefälles an den Westen ihre Lebenden verlieren, revanchiert sich, aus gleichem Anlaß, der Westen mit seinen Toten.

 

Die Nachricht, der dortige Staatsschutz habe jahrelang auch Schweizer Schriftsteller wie Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt bespitzelt und Dossiers über sie angelegt, ist für mich, Autor mit Wohnsitz auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, zu lesen beinahe tröstlich.

 

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Der Schriftsteller Martin Walser erfand einen Detektiv, der, um ins Geschäft zu kommen, die Problem­situationen, die er erfolgreich lösen würde, zuvor selber ausgedacht und inszeniert hatte. Was wie die Kopfgeburt eines Belletristen erscheinen mag, ist in Wahrheit die korrekte Wiedergabe von Wirklichkeit. Phantastisch ist bei Waliser allein der Ort des Geschehens, der, statt wie behauptet am Bodensee, sich vielmehr auf dem Gebiet der vormaligen DDR befindet. Dort nämlich haben sich zahlreiche Angehörige der früheren Staatssicherheitsbehörden inzwischen als Detektive niedergelassen und sind häufig mit Problemen befaßt, die sie jener Behörde verdanken, der sie einst dienten. 

So werden etwa die fehlenden Unterlagen in Fällen anstehender politischer Wiedergutmachung von ihnen beigebracht. Selbst scheinbar private Sachverhalte wie eheliche Untreue oder Fluchten von unehelichen Vätern werden erfolgreich von ihnen geklärt, da sie sich der Datensammlungen ihrer ehemaligen Behörde versichern können. Ebenso verhält es sich in Fällen von umstrittenen Eigentumsansprüchen bei Grund und Boden, wo Auskünfte und Unterlagen durch sie sehr viel rascher und verläßlicher beigebracht werden können als durch die völlig überlasteten staatlichen Ämter. Verschiedentlich ist schon der Verdacht geäußert worden, auf diese Weise bestünden die alten Stasi-Strukturen fort. Die Detektive weisen das entschieden von sich. Sie erstreben ihre Aufnahme in den ehrwürdig-bürgerlichen »Bund Deutscher Detektive«. 

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Von fast schon wieder belletristischem Reiz ist der folgende wahre Vorfall: Ein Mann aus Ostberlin glaubte sich von Angehörigen der alten Stasi beschattet. Er suchte deswegen eine Detektei auf, die einem ehemaligen Stasi-Angehörigen unterstand. Die Auskunft, die der Mann schließlich erhielt, bestand darin, daß er tatsächlich von einem ehemaligen Stasi-Mann beschattet wurde. Dieser arbeitete jetzt gleichfalls als Detektiv, und zwar im Auftrag der Frau jenes Mannes, dessen eheliche Treue in Zweifel stand.

 

 

An die Wand einer Omnibus-Haltestelle im Ostberliner Stadtteil Marzahn schrieb jemand das Graffito Rot Front verr. Mittendrin muß der Sprayer entdeckt haben, daß er eigentlich einen Nachruf formuliert, und ließ darum von seinem Vorhaben ab.

 

Es ist die melancholische Eigenart guter ostjüdischer Witze, daß sie mit einer Pointe eine gesamte Weltsituation erhellen. Das jüngste Beispiel stammt aus der Sowjetunion. Wenn dort während des Februar 1991 Juden einander begegneten, stellten sie sich die Frage: »Fährst du in Saddams Krieg oder bleibst du in unserem?«

 

Kohl hat erreicht, was er wollte. Er ist in die Geschichte eingegangen. Für mich hat sich dadurch nichts geändert«, antwortete gegenüber einem Leipziger Demoskopie-Institut auf die Frage, wie er seine gegenwärtige Befindlichkeit beurteile, ein dreizehnjähriger Schüler.

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Der letzte noch von der DDR akkreditierte Korrespondent einer großen Hamburger Redaktion gibt seinen Abschied. Seine Wohnung liegt in der Leipziger Straße, in einem der Häuserblocks aus den siebziger Jahren. Sie wurden damals errichtet für die ins Land strömenden Ausländer. Es war die Zeit der internationalen Anerkennung der DDR. In den anderen Etagen des Hauses wohnten Angehörige ausländischer Missionen. Vor dem Hauseingang stand immer ein uniformierter Polizist. Der Empfang heute hat den üblichen Zuschnitt. Kaltes Büfett. Lohnkellner. Drängelnde Leute. 

Ich kenne diese Wohnung seit den Anfängen. Ich erinnere mich, wie ich Günter Gaus, ersten Leiter der Ständigen Vertretung, hier erstmals traf; Anlaß war, daß die Wohnung eingeweiht wurde. Mit einem der späteren Korrespondenten war ich befreundet. Jede Woche holte ich politische Zeitschriften bei ihm ab. Er brachte Manuskripte von mir über die Grenze. Er brachte mir Bücher mit und wichtige, für mich bestimmte Post. 

Die gesamte inoffizielle Exportbelletristik der alten DDR wäre nicht zustande gekommen ohne solche Leute. In Wohnungen wie dieser wurden Zeitungsartikel verabredet, die hernach politische Geschichte machten. Über die Zahl der Geheimdienstmikrofone in den Wänden gibt es nur Mutmaßungen. Die Wohnung hat in der Zeit, da sie dieser Redaktion diente, drei-, viermal gründlich ihr Aussehen gewechselt. Zum Abschied sind auch ein paar ehemalige Angehörige der Ständigen Vertretung erschienen. Sie haben sich während der letzten Monate verstreut, über ein Halbdutzend Berufe und Ämter.

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In ihren Gesprächen ist viel Erinnerung an die alte DDR. Die Worte klingen fast wehmütig. Die Wohnung, wie das gesamte Haus, gehört inzwischen der Bundesgebäudeverwaltung. Unten vor der Haustür steht kein Polizist mehr. An der Wand hängen Bilder eines Jungen Wilden aus Ostberlin. Er ist selber nicht anwesend. Er hält sich zu einem Studienaufenthalt in Brasilien auf. Vor zwei Jahren wäre die Vorstellung einer solchen Reise phantastisch gewesen. Wo sie nun geschehen kann, kommt sie beinahe banal vor. Ich denke daran, daß in dieser Wohnung zwei Jahrzehnte meines Lebens mitbestimmt wurden. Der Blick vom Balkon geht in den Westen der Stadt. Ich sehe die Mauer nicht, da sie nicht mehr steht. Bei abendlicher Dunkelheit, wie jetzt, konnte ich sie auch früher nicht sehen.

 

 

Das Wesen des Reimes besteht darin, daß zumeist grundverschiedene Begriffsinhalte durch Klangähnlichkeit einer heimlichen Identität entgegengeführt werden. Der Ausspruch, zwischen dem 5. November 1990 und der Gegenwart liege der Weg von der Einigung zur Peinigung, ist deswegen von einer gewissermaßen melancholischen Weisheit.

 

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Ich erhalte einen Brief aus der Verwandtschaft. V. ist von Beruf Ingenieur. Er hat das Glück, in jenem kleinen Teil eines der ehemaligen DDR-Kombinate zu arbeiten, der von einer großen westdeutschen Maschinenfabrik übernommen worden ist. Er wird seine Arbeit behalten. Die anderen Teile des Kombinats werden aufgelöst, mehrere tausend Menschen werden stellungslos. N. und ihr Mann haben noch bis zum Sommer Arbeit. Dann wird das wissenschaftliche Institut, in dem sie beschäftigt sind, drastisch verkleinert, von 1700 Mitarbeitern auf 400. Ihr einstiger Institutschef, treuer SED-Mann, wurde unrühmlich bekannt, da er für westdeutsche Pharmafirmen Patientenversuche mit riskanten Medikamenten durchführen ließ, ohne Zustimmung und Kenntnis der Probanden. Er wurde schon vor längerem entlassen. Er übernimmt jetzt, heißt es, eine leitende Stellung in Südkorea.

 

An den ehemaligen DDR-Staatsgrenzen zum Ausland gibt es immer noch ein Flüchtlingsproblem. Während vor dem Ende des SED-Regimes darauf geachtet werden mußte, daß keine Deutschen illegal die Grenze überschritten, um in die Bundesrepublik zu gelangen, muß jetzt darauf geachtet werden, daß keine Ausländer unerlaubt die Grenze in umgekehrter Richtung passieren, um in die Bundesrepublik zu gelangen. Damals wie jetzt werden riskante Einsätze unternommen, um zum Ziel zu gelangen, etwa das Durchschwimmen von winterlichen Flüssen, auf denen Eis treibt. 

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Die Angehörigen des Bundesgrenzschutzes, die über solche Aktionen berichten, in Sendungen des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, haben den Ton amtlicher Mißbilligung und reden ostdeutsche Dialekte. Offensichtlich waren sie früher Angehörige der DDR-Grenztruppen, denn sie benutzen noch die einstige Terminologie, mit Wörtern wie ausländische Bürger und Grenzverletzer.

 

Zu den zynischsten Äußerungen westdeutscher Glücksritter, die unmittelbar nach Öffnung der Mauer in die ostdeutschen Regionen strömten, um dort ihr Schnäppchen zu machen, gehörte jene, daß die Leute in der DDR wie die Neger in Afrika seien, denen man problemlos Glasperlen andrehen könne. Wenn ich sehe, wie die Leute in den fünf neuen Bundesländern heute noch auf ihre veränderte Situation reagieren, ohne Widerstand, hilflos, staunend, zu trösten mit dem allerbilligsten Tand und dankbar für jede autoritäre Anweisung, muß ich zubilligen, daß jener Ausspruch nicht so sehr zynisch als vielmehr wahrhaftig ist.

 

Die Deutschen haben mit der Grenze leben lernen müssen. Hin und wieder flackerte Hoffnung auf, es könnte sich daran doch noch etwas ändern, so als die Sowjets Anfang der fünfziger Jahre Angebote auf Verhandlungen zur Vereinigung beider deutscher Staaten machten«, lese ich in einem Text, der dann fortfährt: 

»Der Mauerbau 1961 ließ solche falschen Träume platzen. Es war dieser Einschnitt, der Jahre später zu mehr Realismus gegenüber dem Osten führte, jedenfalls den Nachdenklichen klarmachte, daß nur eine neue Politik für die Menschen hüben und drüben Besserung bringen konnte.«

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Der Text enthält noch diese rhetorische Frage: »Wollen wir Deutsche überhaupt, daß es anders sei in unserem geteilten Land?« Das alles entstammt einem Reisebuch, das sich seines politischen Realismus rühmen konnte und 1985 erschienen ist, in Darmstadt und Neuwied am Rhein. Der Verfasser ist ein Lehrer. Tröstlich zu erkennen, wie wenig Pädagogik manchmal vermag.

 

 

Eine Zeitung druckt einen langen Bericht über die gegenwärtigen Zustände in der Tschechoslowakei. Im großen sei die Ordnung dahin, heißt es. Im Parlament verstünden vielleicht noch zwanzig oder dreißig Leute, was wirklich verhandelt werde. Die meiste Zeit werde mit Wiederholungen oder Nebensächlichkeiten vertan. Die politischen Kräfte seien zersplittert. Die neuen Parteien hätten keine Kontur gewonnen, die Kommunisten die ihre verloren. In der Ökonomie regiere das Geld und nur das Geld. Die Regierung habe die Wirtschaftspolitik zu lange schleifen lassen. Die Betriebsleiter hätten nicht gewußt, mit welchen Wechselkursen, Zöllen, Preisen und Eigentümern rechnen. Sie hätten sich mit planwirtschaftlichen Reflexen gewehrt, ergänzt durch Preiserhöhungen nach Gutdünken. Die Freigabe fast aller Preise habe dann einen Sprung um fünfzig Prozent gebracht. Die Ersparnisse seien um ebensoviel abgewertet. 

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Schwarzwechsler und Lagerhalter seien die Sieger. Die Begleiterscheinungen des Umbruchs seien enervierend. Der einzelne habe keinen einigermaßen zuverlässigen Regelkodex zur Verfügung, er könne keine Entscheidungen für sein Leben und das seiner Kinder treffen. Wer die Sünden der Vergangenheit benenne, werde mit den alten Methoden verfolgt, ihn erreichten Drohungen, meist anonyme. Irgendwann müsse eine gesellschaftliche Reinigung erfolgen. Der innenpolitische Barometerzeiger rücke auf Sturm. Dies alles liest sich wie ein Szenario jener Entwicklung, die auch die DDR durchlaufen hätte, wäre sie ein selbständiger Staat mit bürgerlichen Rechtsformen geblieben. Viele linke Intellektuelle im geeinten Deutschland trauern ihm immer noch nach, zum Beispiel Günter Grass.

 

Gelegentlich erfaßt mich eine nostalgische Neigung zu den untergegangenen Produkten der alten DDR-Warenwelt. Beim Aufräumen fand ich ein Kopftonikum, dessen Beipackzettel eine günstige Wirkung des Flascheninhaltes auf die Haarzwiebeln rühmte, was immer das sei.

 

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Sie glauben nicht, mit welcher Arroganz und welchem frechen Lächeln mir täglich die Leute begegnen, die mich abgeholt und mit Handschellen ins Auto gebracht, die mich mit den unflätigsten Sprüchen zur Stasi-Zentrale in Erfurt gefahren haben«, sagt der ehemalige Häftling Nummer 1285/61. Ihm waren einst politische Äußerungen als staatsgefährdende Propaganda ausgelegt worden, wofür er dann drei Jahre und vier Monate Haft in der Strafvollzugsanstalt Waldheim verbüßte. Ende Februar 1991 wartet er immer noch auf seine juristische Rehabilitierung.

 

Die meistzitierten Gedichtzeilen zu Beginn des Jahres 1991 entstammen dem »Kriegslied« des Matthias Claudius und lauten: »'s ist leider Krieg - und ich begehre / Nicht schuld daran zu sein!« Das Zitat soll gewöhnlich den Eindruck erwecken, man suche nach einer Alibi-Erklärung, denn die Deutschen, mit sich selber und ihrer Vergangenheit beschäftigt, wollten sich der aktuellen militärischen Verantwortung entziehen. Matthias Claudius, der Christ, nahm die Gewaltlosigkeitsforderung der Bergpredigt ernst. Die Gründe für seine Schuldabweisung liefert er in allen Strophen des Liedes, die absolut pazifistisch klingen, da er bekennt, völlig ratlos zu sein, wenn »Hunger, böse Seuch und ihre Nöten / Freund, Freund und Feind ins Grab / Versammelten und mir zu Ehren krähten/Von einer Leich herab...« Diese Zeilen werden nirgends zitiert.

 

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Der höchste Mann in diesem deutschen Staat wurde durch die katastrophalen Folgen seiner eigenen Politik zur Abdankung gezwungen. Er floh mit seiner Frau in die Obhut einer fremden Macht. Die öffentliche Forderung, ihn vor Gericht zu stellen, wurde nicht befolgt und verstummte rasch. Ein Teil der Deutschen hing ihm weiterhin nostalgisch an. Sein Hang zur militärischen Hochrüstung und seine naive Freude am preußischen Parademarsch hinterließen tiefe Spuren. Aufgeklärtere unter den Zeitgenossen schauderten im nachhinein vor seinem glanzlosen und hochstapelnden Sprachstil, vor allem aber vor seinem spießigen Geschmack in Sachen Kunst und Architektur. Zu den wenigen Dingen, die man ihm nachrühmen konnte, gehörte der Umstand, daß er den Juden wohlgesonnen war. Von der Richtigkeit seines politischen Weges blieb er selbst nach seinem Sturz unerschütterlich überzeugt. Daß er sein altes Amt nicht mehr wahrnehmen konnte, sah er als das Resultat einer allgemeinen Verschwörung. Solche Dinge erfahre ich, anläßlich einer Ausstellung von Gegenständen aus dem Schloß Doorn, über Wilhelm II., letzten Kaiser der Deutschen. Es scheint bevorzugt der immergleiche Herrschertypus zu sein, durch den wir uns ruinieren lassen.

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In der Kritik über einen ostdeutschen Spielfilm ist zu lesen von der »durch Sachlichkeit bemäntelten Larmoyanz«, die in der alten DDR als kritische Kunst geduldet worden sei. Dies scheint mir ein treffendes Urteil, und es gilt allgemein. Der Kritiker benennt noch richtig die Reaktion, die solche Art von Kunst in der Gegenwart und Zukunft erreichen wird: »Gleichgültigkeit«.

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Eine nicht untypische Geschichte aus der alten DDR ist jene des Frank Pfütze. Er war Sohn eines ehrgeizigen Vaters, der seinem Kind eine Sportkarriere ermöglichen wollte. Die besten Ausbildungschancen bot zu jener Zeit der Club Dynamo, der dem Ministerium des Inneren und dem Ministerium für Staatssicherheit unterstand. Frank Pfütze wurde Schwimmer. Sein Vater hielt sich während der Trainingsstunden immer in der Nähe, »mit zwei Stoppuhren auf dem dicken Bauch«, wie sich ein Zeuge erinnert. 1974 nahm Frank Pfütze an den Schwimm-Europameisterschaften in Wien teil. Er gewann überraschend den Wettbewerb über 1500 Meter Freistil. Es wurde sein größter sportlicher Erfolg. Seine letzte bedeutende Leistung erbrachte er bei den Olympischen Spielen in Moskau, wo er, als Staffelmitglied, eine Silbermedaille gewann. Das war 1980. Seine Sportkarriere ging dann zu Ende. Er hatte in den schulischen Fächern immer Einzelunterricht erhalten, bis zum Abitur, vor allem anderen hatte das sportliche Trainingsprogramm seinen Platz. Frank Pfütze wollte jetzt von Beruf Journalist werden. Er studierte in Leipzig. Er wurde Presseoffizier bei seinem Club, Dynamo, er schrieb für dessen Hausblatt, er fotografierte, er betreute andere Journalisten.

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Nach den Herbstereignissen von 1989 wurde der Sportclub Dynamo aufgelöst. Frank Pfütze erhielt noch eine befristete Anstellung, als Pförtner. Er saß in einem kleinen Wachhäuschen hinter einer Glasscheibe und langweilte sich. Am 1. Januar 1991 wurde er in den Wartestand versetzt. Die Bewegungslosigkeit und die Apathie ließen ihn dick, fast unförmig werden. Mitte Januar 1991 litt er, wie schon vorher oft, unter heftigen Rückenschmerzen. Er fuhr zu einem Krankenhaus. Während der Anmeldung brach er zusammen. Eine Stunde lang bemühten sich Ärzte um seine Reanimation, es war alles vergeblich. Bei der Obduktion fand sich ein Blutgerinnsel in seinem Herzen. 

Frank Pfütze war 42 Jahre alt geworden. Er hinterließ eine Witwe und einen dreijährigen Sohn. Als Ursache seines körperlichen Verfalls wurde fehlerhaftes Abtrainieren genannt, auch die mögliche Nachwirkung von Doping-Präparaten. Pfützes Vater, der jetzt arbeitslos ist, redet von Kummertod.

  *(d-2015:)  wikipedia  Frank_Pfütze  1959-1991 

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Wir sind stumme Zeugen böser Taten gewesen, wir sind mit vielen Wassern gewaschen, wir haben die Künste der Verstellung, der mehrdeutigen Rede gelernt, wir sind durch Erfahrung mißtrauisch gegen die Menschen geworden und mußten ihnen die Wahrheit und das freie Wort oft schuldig bleiben, wir sind durch unerträgliche Konflikte mürbe oder vielleicht sogar zynisch geworden - sind wir noch brauchbar?« 

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Die Frage klingt, als wäre sie nach den Herbstereignissen von 1989 in der DDR gestellt. In Wahrheit handelt es sich um Worte des 1945 von der Gestapo verhafteten, 1945 im KZ Flossenburg hingerichteten protestantischen Theologen Dietrich Bonhoeffer.

 

 

Zum ersten Mal seit Jahren gehe ich wieder durch Potsdam. Der größte Verkehrsstau begibt sich an der Brücke der Einheit, nach Westberlin, die achtundzwanzig Jahre lang nur benutzt wurde, wenn die beiden Weltmächte dort ihre verurteilten Spione austauschten. In den Fußgängerzonen mischen sich westlicher Nepp und östlicher Verfall. An den zahlreichen Imbißbuden versammeln sich Alkoholiker. Das holländische Viertel zeigt sich in erbärmlichem Bauzustand. An den Fensterscheiben einer reformierten Kirchengemeinde kleben die Insignien jener radikalpazifistischen religiösen Bewegung, die einst den Sturz des Honecker-Regimes mitbewirkte. Jetzt wirken die Poster und Sticker sonderbar altmodisch. Ihr Anblick berührt mich sehr. Im Großen Garten begegne ich zwei uniformierten sowjetischen Offizieren. Ihre Haltungen offenbaren Verlegenheit und Trotz. Die beiden Männer wirken, als müßten sie sich für ihre Existenz entschuldigen. Das Schloß Cäcilienhof zeigt Brandspuren. Im Inneren des Hotels hasten Industriemanager zum Telefon und verständigen sich unter lautem Gelächter. Es existiert kaum noch ein Hinweis, daß dies, Austragungsort der Potsdamer Konferenz, eben noch eine bedeutende Gedächtnisstätte des DDR-Sozialismus gewesen ist. Auch die historischen Gebäude im Park verfallen. Der Blick nach Westberlin trifft auf keinerlei Hindernis. Alle unnatürlichen Grenzen sind aus der Topographie entfernt. Als hätten sie niemals existiert.

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Der abschließende Bericht des Bundesinnenministeriums über die mögliche Tätigkeit des ehemaligen DDR-Ministerpräsidenten für das frühere Ministerium für Staatssicherheit hat Lothar de Maiziere ausdrücklich nicht entlastet. Daraufhin nahm er alle seine politischen Ämter wieder auf, während gleichzeitig zwei mit der Untersuchung beauftragte Historiker ihre Ämter verloren.

 

In dem nördlich von Berlin gelegenen Dorf Glambeck erschienen bald nach der Währungsunion Bauunternehmer aus Westberlin. Sie unterbreiteten ihre Pläne, einen Freizeitpark sowie einen Golfplatz in Glambeck anzulegen, sie sprachen von den finanziellen Vorteilen für die Kommune und sicherten sich damit die Unterstützung der Ortsverwaltung. Bäuerliche Familien, deren Felder von der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft bewirtschaftet wurden, trennten sich von ihrem gesamten Grundbesitz. Die vereinbarten Kaufpreise lagen bei einer Mark pro Quadratmeter. Die Ortsverwaltung verwendete sich für das Geschäft, in Fällen, da Bodeneigner zögerten. 

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Das Argument war, derart fließe viel Geld in die Kommune, und es würden neue Arbeitsplätze geschaffen. Inzwischen erweist sich, daß in der näheren Umgebung insgesamt 55 Golfplätze und 20 Freizeitzentren geplant sind. Das wäre das Zehnfache des anzunehmenden Bedarfs. Es erweist sich, daß die Grundstückskäufe nur zu Zwecken der Spekulation erfolgten. Es erweist sich, daß der ausgehandelte Bodenpreis zu niedrig war. Die früheren Eigner haben gleichwohl bisher noch kein Geld erhalten, da im abgeschlossenen Vertrag vereinbart wurde, daß Zahlungen erst erfolgen, wenn die Böden erschlossen sind. Die Erschließungsarbeiten soll laut abgeschlossenem Vertrag die Kommune leisten, die aber dafür keine Mittel besitzt. Die früheren Eigner sollen jetzt Grundsteuern zahlen. Sie wissen nicht, woher die Gelder dafür nehmen. Ihre Böden zu Zwecken landwirtschaftlicher Nutzung zu verpachten, ist ihnen durch die abgeschlossenen Verträge untersagt. Manche Leute von Glambeck reden von Rattenfängern, Bauerntölpeln und Dummheit. Der zuständige Landesminister redet von großräumigem Flächenmißbrauch.

 

Ein auch im internationalen Spielbetrieb viel eingesetzter Fußball-Schiedsrichter aus der ehemaligen DDR soll heimlicher Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit gewesen sein. Er hätte, wenn die Nachricht denn stimmt, die Tätigkeit des Verpfeifens sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne ausgeübt.

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Ich begegne einem hohen Beamten der Bundesregierung, den ich seit längerem kenne. Er hatte die Aufgabe, ein großes Ministerium der ehemaligen DDR aufzulösen, nachdem die staatliche deutsche Einheit vollzogen war. Er amtierte in den Räumen eines Stellvertretenden Ministers, in einem durch die DDR neuerrichteten Gebäude. Die Räume bestanden aus einem Empfangssaal, zwei Vorzimmern, einem Ruheraum, einem Krankenzimmer, einer geheimen Nottreppe für unvorhergesehene Anlässe. Alle Stellvertretenden Minister, deren es in dieser Behörde mehrere gab, verfügten über solche Räume. Der Saal hatte schloßartige Dimensionen, war mit exotischen Hölzern getäfelt und protzig möbliert. Der Beamte, mein Bekannter, hat sich, erzählt er mir, jetzt nach Bonn zurückversetzen lassen, da er das erwähnte Ambiente nicht länger ertrug.

 

Der ehemalige kommunistische Diktator Bulgariens, Todor Schiwkoff, ist in Sofia vor ein Gericht gestellt worden. Wegen einst begangener politischer Untaten macht man ihm den Prozeß. Wie Zeitungen berichten, hält sich der siebzigjährige Angeklagte aufrecht, zäh und souverän. Seine Reaktionen kommen geistes­gegenwärtig. Er antwortet witzig und selbstbewußt. Er ist ein offensichtlicher Zyniker, immerhin einer von Format. An Honecker und Tisch darf ich da gar nicht denken, Scham und Neid greifen nach mir.

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Der Chemnitzer Dieter Noll wollte Karriere machen. Seine ersten Erfolge verdankte er einer gewissen Akzeptanz durch das breite Publikum. Er verschrieb sich rechtzeitig der herrschenden politischen Partei und beförderte sein eigenes weiteres Vorankommen mit ihrer Hilfe. Schließlich ließ er sich auf miese Händel ein. Er wurde, da dies ein öffentlicher Vorgang und er selbst eine öffentliche Person war, zu einem Objekt allgemeiner Verachtung. Selbst ehemalige Anhänger distanzierten sich nun von ihm. Die Rede ist von dem Schriftsteller dieses Namens, Nationalpreisträger aus der ehemaligen DDR. Die Rede ist von dem Oberbürgermeister dieses Namens, importiertem Politiker aus Rheinland-Pfalz. Es scheint, daß gleiche Namen manchmal mehr als ein Zufall, nämlich eine wortmagische Vorbestimmung sind.

 

Ein Hamburger Journalist ist erstaunt darüber, daß in der ehemaligen DDR so wenig öffentliche Auseinander­setzungen stattfinden. Er will dies deutlich machen am Beispiel einer Veranstaltung im Brechtzentrum zu Ostberlin, die er besucht hat. Dabei befanden sich wenigstens in diesem Falle Thema und Teilnahme in problemklärender Übereinstimmung. Es geht dies aus der Schilderung des Journalisten deutlich hervor, was der aber nicht zu bemerken scheint. Angebotenes Thema nämlich war die Frage: »Was bleibt vom Marxismus?« Antwort darauf gab die Beschaffenheit der Teilnehmer: »Zehn bedrückte Damen und Herren.«

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In jedem Linken, lese ich, stecke ein Kapitalist. Er wolle, lese ich weiter, die Menschen beglücken mit Produktion, Konsumption und einem Aufstieg auf der endlosen Glücksleiter, jedoch tief in seinem Inneren nage der Verdacht, daß dies der Kapitalismus eigentlich viel besser könne. Man muß wissen, daß der Verfasser dieser Feststellung natürlich ein Linker ist.

 

Trotz seiner offensichtlichen Unsinnigkeit, oder eben deswegen, hat der Begriff Gesinnungsästhetik sich in der öffentlichen Diskussion gehalten und soll nun außer der ehemaligen DDR, auf deren Intelligentsia er ursprünglich gemünzt war, auch noch bedeutende Teile der westdeutschen Nachkriegskultur betreffen. Bekanntlich entstand der Begriff in Analogie zu Max Webers Begriff Gesinnungsethik. Max Weber erfand das Wort als Gegensatz zu der gleichfalls von ihm erfundenen Verantwortungsethik. Die neuen Begriffsfinder sollten in ihrer Analogiebildung konsequent sein und hinfort auch eine Verantwortungsästhetik ins Spiel bringen. Als mögliche paradigmatische Vertreter dieses Typus böten sich Karin Struck, Bazon Brock und Eckhard Henscheid an.

 

Der deutsche Bundespräsident hatte zu einer Schriftstellerlesung eingeladen in seinen Berliner Amtssitz Schloß Bellevue. Es würden vortragen ein Autor aus dem deutschen Osten, einer aus dem deutschen Westen, beide Angehörige der gleichen Generation. 

Der Autor aus der ehemaligen DDR wirkte schmal, bescheiden, fast schütter, er las einen einfachen Text über die eigene Biographie, er versprach sich manchmal, er wirkte, als fühle er sich durch diese öffentliche Präsentation etwas überfordert und müsse gleichsam dafür um Entschuldigung bitten. 

Der Autor aus dem Westen war perfekt, raumgreifend, strotzend vor Selbstsicherheit, er referierte europäische Kulturgeschichte und grundsätzliche Ansichten zu Tod, Leben, Politik, Krieg, Frieden in kunstvoller, hochmanieristischer Prosa, er schloß mit einer drastischen Provokation, die völlig gerechtfertigt und auf Schlagzeilen aus war. Alles geschah wie im vereinten Deutschland auch sonst.

 

Vielleicht«, lese ich, »hatte Honecker doch recht, und die Mauer steht noch hundert Jahre, die im Kopf.«

 

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