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Angesichts der steil anwachsenden Arbeitsplatzverluste in den fünf neuen Bundesländern ist gesagt worden, zum ersten Mal in der neueren menschlichen Geschichte stimme auch im Wortsinn der Satz Die Revolution entläßt ihre Kinder.

 

Ein Theatermann erzählt mir, die ärgsten Gefährdungen des Dresdner Opernbetriebs entstünden nicht etwa durch Geldmangel oder durch die desolate Situation von Publikum und Tourismus, sondern durch die massiven Intrigen der Stadt München. Dort, zumal am Nationaltheater, bestehe die Furcht, die Dresdner Semper-Oper könne ihren einst zu Zeiten der Richard-Strauss-Uraufführungen gehaltenen Weltrang wiedererlangen. München als Musikstadt würde damit zurückfallen in die alte, vergleichsweise bescheidene Situation, die es zwischen den Kriegen hatte. Diese Argumentation leuchtet mir ein. Bisher hatte ich die Behauptung, der Kulturbetrieb in den Altbundesländern wolle jenen in der ehemaligen DDR aus Gründen von Marktanteilen und Konkurrenz auslöschen, immer bloß für ein dummes Gerücht gehalten.

 

Karriere eines Bauwerks in neuerer deutscher Zeit. Der Gebäudekomplex am Bogensee, gelegen nord-östlich von Berlin, war ursprünglich ein Geburtstagsgeschenk für den Nazi-Gauleiter und Propagandaminister Joseph Goebbels. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs benutzte ihn die Rote Armee, als Lazarett. Dann ging er über in den Besitz der kommunistischen Jugendorganisation FDJ, die darin eine Hochschule für ihre Funktionäre betrieb. Jetzt werden dort Nachwuchsmanager der Deutschen Bank trainiert.

 

Ida Blutreich aus Galizien wurde im Herbst 1941 von ihren Eltern veranlaßt, sich in ein ukrainisches Bauernmädchen zu verwandeln. Sie sollte auf diese Weise dem Holocaust entkommen. Mit gefälschten Papieren und einem Kruzifix am Hals wurde sie als Fremdarbeiterin bis nach Österreich geschickt, wo sie im Hause eines SS-Führers als Hausmädchen arbeitete. Sie war so anstellig, daß sie von ihren Arbeitgebern adoptiert werden sollte. Die dafür erforderlichen Rasseuntersuchungen bestand sie problemlos. Um der drohenden Adoption zu entgehen, wurde sie plötzlich in ihrer Tätigkeit unachtsam und faul, verlor deswegen ihre Stellung und mußte daraufhin in der deutschen Rüstungsindustrie arbeiten. Die Gestapo wollte sie als Spitzel beschäftigen. Sie sollte Juden denunzieren, die sich als Fremdarbeiter tarnten, um so der Verfolgung zu entgehen. Da verlor sie die Nerven und schrie, sie selber sei eine Jüdin. Man brachte sie nach Auschwitz. 

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Da sie infolge ihres bisherigen Lebens noch in vergleichsweise guter körperlicher Verfassung war, überstand sie den Aufenthalt. Nach dem Kriegsende floh sie vor den Drohungen des polnisch-russischen Antisemitismus nach Israel. Ihre Immigration dauerte insgesamt drei Jahre, denn sie mußte längere Zeit in einem Internierungslager auf Zypern zubringen. In Tel Aviv heiratete sie, bekam Kinder und Enkelkinder, machte Karriere in einem Ministerium und schrieb ihre Lebensgeschichte auf. Während eines Luftalarms, da aus dem Irak russische Scud-Raketen, möglicherweise mit von Deutschen hergestelltem Giftgas, auf Israel flogen, starb sie, in der Nacht vom 18. zum 19. Januar 1991. Zunächst hieß es, sie sei beim Anlegen ihrer Gasmaske erstickt. Inzwischen weiß man, daß ihre Todesursache die Angst war.

 

In Dresden, wo, wie in der gesamten ehemaligen DDR, auf Grund der drohenden Arbeitsplatzverluste eine Selbstmordwelle droht, ist letzte Zuflucht der Suizidgefährdeten eine Klinik für Neuropsychiatrie, die ihrerseits von Arbeitsplatzverlusten bedroht wird.

 

Das größte Kreditinstitut des Landes, die Deutsche Bank, hat Filialen der ehemaligen DDR-Staatsbank übernommen mitsamt allen Mitarbeitern. Da deren Zahl zu groß war, mußten Entlassungen vorgenommen werden. Die Filiale in einem nördlichen Bundesland wurde ursprünglich von zwei gleichberechtigten Mitarbeitern geleitet. 

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Einer der beiden hatte sich vor dem Herbst '89 in kirchlichen Gruppen organisiert und gehörte später zu den Gründungsmitgliedern des Neuen Forums. Der andere war ein politischer Opportunist gewesen und hatte willig mit dem Ministerium für Staatssicherheit kooperiert. Die Deutsche Bank übernahm den Opportunisten und schult ihn derzeit auf entsprechenden Lehrgängen für seine künftige Führungsaufgabe. Er habe sich durch seine größere Flexibilität empfohlen. Der dafür verantwortliche Direktor des Kreditinstituts sagt noch: »Wir schauen nicht auf die Vergangenheit. Wir fangen neu an: Jeder ist willkommen, der will und kann.«

 

Eine Frau in Schwerin verlor ihre Arbeitsstelle als Reinigungskraft. Offenbar war ihr es peinlich, Schulden zu machen oder Sozialhilfe zu beantragen. Nachbarn fanden die erst 42jährige Frau tot in ihrer Wohnung. Sie war an Kälte und Hunger gestorben.

 

In der sächsischen Stadt Leisnig stürmten eines Nachts 50 Betrunkene das örtliche Ausländerasyl. Mit Zaunpfählen, Spaten und Eisenstangen verfolgten sie die Asylanten, meist Eritreer und Pakistani, die sich überwiegend durch die Flucht aus dem Fenster retten konnten, woraufhin die Betrunkenen das Mobiliar zertrümmerten. Hilferufe der Opfer blieben ungehört, Schwerverletzte konnten erst nach Stunden versorgt werden. Das Ereignis, das als die bisher schwerste Ausschreitung gegen ein Asylantenheim in Deutschland gilt, blieb weitgehend unbekannt, denn, wie ein Journalist aus der Region sagte, Ausschreitungen gegen Ausländer seien »eben keine Nachricht mehr«.

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Ein Kulturfunktionär aus der ehemaligen DDR erhielt längere Zeit vor dem Herbst '89 ein Besuchervisum für Westdeutschland. Bei seiner Rückkehr wurde in seinem Gepäck Haschisch entdeckt, worauf man ihm den Reisepaß entzog. Nunmehr möchte er als Opfer politischer Verfolgung gelten.

 

Die Deutschen hätten den Krieg verloren, der Europa ins Unglück stieß, aber sie seien die Gewinner des Friedens geworden, bei welchem andere, die Sieger von einst, ihr Versailles erlebten, schreibt der Kulturhistoriker Karl Schlögel. Er ist studierter Slawist, und so läßt sich ahnen, an wen er zuerst denkt, da er von einem modernen Versailles redet. Der Hauptleidtragende des klassischen Versailles, Deutschland, verlor nach 1919 seine politische Einflußsphäre sowie große Teile seines staatlichen Territoriums. Die Währung verfiel, und das Volk verelendete, bis es sich einer faschistischen Diktatur ergab.

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Ich hätte am liebsten eine Pistole«, sagt ein Deutscher aus den neuen Bundesländern. »Aber ich wüßte nicht mal genau, wen ich damit erschießen soll: Die Lügner von heute, die Lügner von damals oder mich selber, damit ich nicht mehr belogen werde.«

 

Eine für die ehemalige DDR charakteristische Biographie ist jene des Peter Bohdin. Als junger Mensch gehörte er 1948 zu einer sozialdemokratischen Initiativ-Gruppe. Er wurde verhaftet. Wegen antisowjetischer Hetze und konterrevolutionärer Tätigkeit wurde er zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt. Er verbüßte sie zunächst in dem ehemaligen Nazi-Konzentrationslager Sachsenhausen, später im sowjetischen Workuta. Seine Leidensgefährten waren deutsche Sozialdemokraten und deutsche Kommunisten, unter anderen.

Das Teuflische am Stalinismus, sagt er heute, sei die Systemlosigkeit des Terrors gewesen. 1953, drei Wochen nach Stalins Tod, kam er vorzeitig frei. Er mußte die schriftliche Versicherung abgeben, daß er über seinen Aufenthalt in Sibirien zu niemandem eine Äußerung machen werde. 

Er fuhr heim mit der Legende, daß er, im Zusammenhang mit deutschen Reparationsleistungen, für einige Jahre in der UdSSR als Spezialist gearbeitet habe. Der Versuchung, nach seiner Rückkehr über die damals noch offene deutsch-deutsche Grenze zu wechseln, gab er nicht nach, mit Rücksicht auf seine Familie. 

Da seine Personalakte keinerlei negative Vermerke aufwies und er zudem fließend russisch sprach, machte er rasch Karriere. Er reiste mehrfach wieder nach Moskau. Von seinen Erlebnissen zwischen 1948 und 1953 erzählte er nicht einmal seinen Kindern.

»So merkwürdig es klingt«, sagt er heute, »aber man muß ehrlich sein: Ich habe mich mit der DDR identifiziert.« Seine Leidensgeschichte schrieb er erst nach dem Fall der Mauer auf. Inzwischen ist sie als Buch erschienen.

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Die alten Fehden gehen weiter, und wie sollten sie nicht. Wolf Biermann nennt Hermann Kant den Karl-Eduard von Schnitzler der Literatur. Eine ostdeutsche Kritikerin nennt Wolf Biermann den Willy Millowitsch des politischen Entertainments.

 

Zu den Lieblingsvokabeln der politischen Klasse in der alten DDR gehörte das Wort unverbrüchlich. Es wurde bevorzugt verwendet im Zusammenhang mit Treue und Freundschaft, beides besonders im Hinblick auf die Sowjetunion. Man könnte die Vorliebe für das Wort unverbrüchlich mit der auch sonst in der alten DDR verbreiteten Neigung zu altertümlich-barocken Sprachfiguren erklären, aber wahrscheinlich wirkte außerdem das Unterbewußtsein mit, denn es ist nicht zu überhören, daß in diesem Wort der Begriff Verbrechen wohnt.

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Es zeuge vom Sarkasmus der Geschichte, schreibt ein Journalist, daß die Deutsche Demokratische Republik sich erst dann zum Zusammenbruch entschloß, als Bild und Welt sich mit der Existenz dieses Staates abgefunden und auf die bekannten ominösen Anführungszeichen bei der Namensnennung verzichtet hatten.

 

Die Familie stammte aus Ostpreußen, aus einem kleinen Dorf, wo Werner M., Nationalsozialist der ersten Stunde, später zum gefürchteten Ortsbauernführer wurde. Beim Nahen der Roten Armee 1945 begab sich die Familie auf die Flucht. Sie gelangten bis zum östlichen Ortsrand von Berlin, wo sie von der Front und dem Kriegsende eingeholt wurden. Das Dorf, wo sie jetzt leben, gehörte zu einem großen Gut, das 1946 unter die Bestimmungen der Bodenreform fiel. Familie M. erhielt ihren Bodenanteil, sie wurden Neubauern. Heinz M., der älteste Sohn, trat der SED bei und engagierte sich in der Kollektivierung zu Beginn der fünfziger Jahre. In der Genossenschaft, der er beitrat, wurde er erst Parteisekretär, später Vorsitzender, daneben hatte er hohe Parteiämter inne. Nach dem politischen Zusammenbruch der DDR wurde die Genossenschaft auf Wunsch der Mitgliedermehrheit aufgelöst. Heinz M. erhielt den eingebrachten Boden zurück. Er verkaufte ihn, der verkehrstechnisch günstig lag, an einen Grundstücksmakler aus Westberlin als Baugrund und wurde in dem Dorf der erste Millionär.

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Eine Frau aus Mecklenburg-Vorpommern, die gleichzeitig mit ihrem Ehemann und ihrem Sohn arbeitslos wurde, tat den erbitterten Ausspruch: »Was soll ich machen? Soll ich denn nach Hamburg auf'n Strich gehen?« Melancholisch fügte sie hinzu: »Aber da will mich ja auch keiner mehr.«

 

Graffito an einer Leipziger Hauswand: »Mietenhaie zu Fischstäbchen!«

 

Der Tonsetzer hatte sich, wie manch anderer aus seiner Branche, dem politischen Herrschaftssystem ganz verschrieben. Er vertrat jenen auf die deutsche Volksmusik gründenden populären Kompositionsstil, der den ästhetischen Überzeugungen der Herrschenden entsprach. Er vertonte politische Kantatentexte, er schrieb Musiken für öffentliche Veranstaltungen von Partei und Staat und wurde dafür vielfach geehrt. Nach dem Zusammenbruch des Systems war er gleich mit einer hübschen unpolitischen Gebrauchsoper auf dem Markt. Sie wurde jetzt, Anfang 1991, im Theater der Stadt Greifswald aufgeführt. Die Rede ist von Cesar Bresgen, dem Nazi-Komponisten, der die erwähnte Oper, Der Igel als Bräutigam, nach dem Ende des letzten Krieges verfaßte. Ähnliche Geschichtserfahrungen zeitigen ähnliche Ergebnisse.

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Zum ersten Mal seit dem Datum der deutschen Vereinigung fahre ich auf der Küstenstraße zwischen Wismar und Lübeck. Die Reste der alten DDR-Grenzbefestigung haben sich der Topographie eingeprägt wie Narben. Kurz vor dem ehemaligen Kontrollpunkt Seimsdorf stehen links und rechts der Straße Ansammlungen von Peitschenlampen, mitten im Wald. Die Sichtblenden rechts des Weges sind fortgeräumt. Die Trampelpfade für die Militärpatrouillen verlaufen nun sinnlos und häßlich vor den Panoramen der Lübecker Bucht. Auch die betonenen Wachttürme sind noch vorhanden. Unmittelbar neben einem von ihnen hat sich eine Aalräucherei etabliert. Die alte DDR-Grenzstele steht weiß und riesig, unmittelbar neben der ehemaligen Demarkationslinie, das Staatswappen mit Hammer und Zirkel im Ährenkranz wurde herausgebrochen, davon existiert so nur noch ein leeres kreisrundes Loch. Links und rechts der Straße frißt sich ein graubrauner unbewachsener Feldstreifen durch die bewaldete Landschaft. Hier war, des besseren Überblicks wegen, vor allem für Fälle des Schußwaffengebrauchs, sämtlicher Pflanzenwuchs unterdrückt mittels Pestiziden. Die eigentlichen Kontrollanlagen, überdachte Buchten, die vorgeschriebenen Fahrspuren mit Nummern versehen, sind verwaist. Auf den Wänden kleben Werbeplakate für Konsumartikel und Publikumsveranstaltungen. An jenem Bürocontainer, durch dessen Fenster früher von Uniformierten die visierten Reisepässe zurückgereicht wurden, hängt eine bunte Affiche mit der Schlagzeile Dackeltreffen.

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Man hat richtig festgestellt, schon zu Zeiten seiner Machtausübung sei Erich Honecker der Tyrann in der Gestalt des Rentners gewesen.

 

Im Jahre 1950 versuchte die 24jährige Irmgard Stark über die thüringisch-hessische Grenze nach Westdeutschland zu fliehen. Durch einen DDR-Grenzposten wurde sie aufgebracht und erschossen. Ihr Bruder ging dem Todesfall sofort nach, er konnte die Identität des Grenzposten ermitteln und erstattete gegen ihn Strafanzeige, die vom DDR-Innenministerium niedergeschlagen wurde. Nach dem politischen Ende der DDR im Jahre 1990 erstattete der Mann abermals Anzeige gegen den nunmehr in Sondershausen lebenden Todesschützen. Der zuständige Staatsanwalt in Meiningen, ein soeben aus den Altbundesländern zugewanderter Jurist, stellte das Verfahren unter Berufung auf den Wortlaut des deutsch-deutschen Einigungsvertrages ein. Die Tat sei inzwischen verjährt.

 

 

Für die geistige Situation der alten DDR bezeichnend ist der Umstand, daß Gisela Oechelhaeuser, Kabarettistin und damit Angehörige eines der wenigen Berufsstände, wo Unabhängigkeit des Denkens auch unter Honecker möglich, weil erforderlich war, während einer Radio-Diskussion im Rückblick auf die alten Zustände behauptete, es gebe ein Menschenrecht auf Anpassung.

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In einem Zeitungsartikel lese ich von der »doppelten Frustration der DDR-Bürger«, nämlich »erst im falschen System gelebt und zugleich sich über das andere System Illusionen hingegeben« zu haben.

 

Der Münchner Journalist Herbert Riehl-Heyse erzählt von seiner Begegnung mit dem Schauspieler Hans Joachim Mann. Dieser, ein Mann vom Geburtsjahrgang 1933, mußte mit seiner Familie bei Kriegsende von Pommern nach Sachsen-Anhalt fliehen. Er lebte dort bis 1952, ertrug die herrschenden Zustände nicht und wechselte in den deutschen Westen. Er wollte Schauspieler werden, absolvierte eine mit persönlichen Opfern erkaufte Ausbildung, aber brachte es bloß zum Inspizienten mit gelegentlichen Spielverpflichtungen an verschiedenen Provinztheatern. Das ging so bis 1967.
Angelockt durch Berichte vom Sprechtheater-Paradies in der DDR, kehrte er in den ostdeutschen Staat zurück. Wiederum wurde er in die Provinz engagiert, wiederum mußte er als Inspizient arbeiten. Als er in seiner Wut Äußerungen seiner grundsätzlichen Mißbilligung der herrschenden politischen Zustände tut, wird er von einem Spitzel denunziert und verhaftet. Die erste Strafe gegen ihn wird noch zur Bewährung ausgesetzt. Er wiederholt sein Vergehen und gerät damit in einen Kreislauf aus Haftverbüßung und versuchter Wieder­eingliederung, immer in der nämlichen mitteldeutschen Chemieindustrie, die ihm allmählich die Gesundheit ruiniert. 

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Er bringt es auf Freiheitsstrafen in einer Gesamthöhe von sieben Jahren. Den 9. November 1989 erlebt er in der Justizvollzugsanstalt Bitterfeld. Inzwischen wohnt er im Bayerischen und erwartet eine materielle Entschädigung für seine aus politischen Gründen verbüßte Haft. Er ist auch wieder engagiert an einem Theater, einem der berühmtesten des Sprachraums, nicht als Inspizient. Er darf eine Rolle spielen in einem Stück über die Wiedervereinigung. Angestachelt von Deutschland-Rufen, stürzt sich dort eine vermischte Gesellschaft über ihn und tilgt ihn aus. Nur seine Kleider bleiben zurück.

 

Ein satirischer Autor aus der früheren DDR äußerte kürzlich: Besonders nachdenklich stimme ihn, daß die Leute, die früher keine Probleme mit der Macht hatten, heute auch keine hätten.

 

Am 5. Mai 1991, dem 175. Geburtstag von Karl Marx, wurde dem Toten ein Brief geschrieben und an dessen Grabe auf dem Londoner Highgate-Friedhof deponiert. »Ein Herr Blüm hat in Umlauf gesetzt, Du seiest tot und Jesus lebe. Doch frage nicht, was sie von Jesus leben lassen. Mit seiner Bergpredigt gehen sie um wie Deine Apologeten mit Dir: totreden.« Diese Sätze sagen aus, daß Marx so gründlich tot sei wie Jesus: infolge seiner Anhänger. Der sie schrieb, muß es wissen. Er heißt Andre Brie und ist Stellvertretender Vorsitzender der SED-Nachfolgepartei PDS.

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Das vereinte Deutschland ist in seiner Substanz kein christlich geprägtes Land, es ist weder katholisch noch protestantisch«, lese ich in einem Kommentar. »Christlich ist allein die Kirchensteuer.«

 

Ein Hamburger Bürger legte beim Frühstück die Morgenzeitung beiseite, aus der er soeben die parlamentarische Verabschiedung des Steuerpakets zur Finanzierung der deutschen Einheit erfahren hatte, und sagte nachdenklich zu seiner Frau: »Als wir denen da drüben noch Weihnachtspakete geschickt haben, kam uns das billiger.«

 

Zur Illustrierung der gegenwärtigen politischen Stimmung in den fünf neuen Bundesländern eignet sich die folgende dort erzählte Anekdote: Ein ostdeutscher Bauer erfährt Besuch von einer Grimmschen Märchenfee. Sie eröffnet ihm, er könne einen Wunsch äußern, der ihm auch sofort in Erfüllung gehen werde, freilich mit der Maßgabe, daß exakt zur gleichen Zeit seinem westdeutschen Nachbarn die doppelte Menge des Erwünschten zuteil würde. Der ostdeutsche Bauer denkt lange nach und sagt dann: »Ich wünsche mir, daß du mir ein Auge ausreißt.«

 

Vom Ausgang des kalten Krieges wird behauptet, es hätten ihn die richtigen Leute verloren, aber die falschen gewonnen.

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Rechtsprechung im geteilten und wiedervereinigten Deutschland. Herr D., Berufskraftfahrer aus der Hauptstadt der DDR, sonst ein zurückhaltender und ruhiger Mensch, betrinkt sich. Es ist das Frühjahr 1968. Herr D. sitzt in einer öffentlichen Gaststätte Ostberlins und äußert lautstark seinen politischen Unmut. Er beschimpft die Volkspolizei, die volkseigene Industrie, den gesamten Arbeiter- und Bauernstaat. Vom damals ersten Mann im Staat sagt er, daß er, hätte er eine Schußwaffe zur Verfügung, Walter Ulbricht damit erledigen würde, da er in seinem Lkw gelegentlich hinter dem Mächtigen herfahre. Der Trunkenbold wird angezeigt. Mit dem belastenden Zeugnis eines anderen Kneipengastes und des Kellners wird gegen Herrn D. vor einem Stadtbezirksgericht in Ostberlin verhandelt. Trotz des erwiesenermaßen hohen Blutalkoholwertes von 2,1 Promille zur Tatzeit wird auf Morddrohung erkannt und Herr D. zu einer Gefängnisstrafe von 10 Monaten verurteilt. In der Berufungsverhandlung vor dem Stadtgericht Berlin wird das Verhalten des Angeklagten als betrunkenes Geschwätz qualifiziert und der Vollzug der Strafe ausgesetzt. Der Generalstaatsanwalt erwirkt beim Obersten Gericht der DDR eine Kassation des Berufungsurteils. Der Fall geht zurück an das Stadtgericht, das in neuerlicher Verhandlung gleichfalls auf Morddrohung entscheidet, den Berufungsantrag abweist und damit das Urteil in erster Instanz bestätigt. Der Verurteilte hat seine Strafe zu verbüßen. Dadurch und durch die mit den Prozessen verbundene öffentliche Aufmerk-

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samkeit hat er schwere Nachteile hinzunehmen. Mehr als zwei Jahrzehnte später, nach der Wiedervereinigung, beantragt Herr D. über seinen Rechtsanwalt die Kassation des Urteils von 1968. Die Staatsanwaltschaft beim Kammergericht Berlin bestätigt, daß der Antrag nach dem Einigungsvertrag zulässig sei.
Die Staatsanwaltschaft wendet sich gegen die Kassation des Urteils von 1968 und rechtfertigt den damaligen Schuldspruch. Lediglich die Strafzumessung sei gröblich unrichtig. Auf Grund der vorliegenden Tatsachen erscheine es angemessen, auf eine Geldstrafe von 150 Mark zu erkennen, die, da bisher nicht ausgesprochen, der Verurteilte dann auch noch zu zahlen hätte. »Eigentlich«, seufzt Herrn D.'s Anwalt, »habe ich mir die Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit etwas anders vorgestellt.«

 

Über den Patriotismus in der gegenwärtigen Sowjetunion angesichts der Verlockungen des ausländischen Kapitalismus belehrt ein Ausspruch des sowjetischen Schriftstellers Awruschin: »Hier bin ich geboren, hier will ich sterben, aber leben - dort.«

 

Trotz unleugbarem Ende des Kalten Krieges hat der britische Spionageroman-Autor John le Carre einen neuen Agentenroman veröffentlicht, in dem auch sein berühmtester Held, Geheimdienstmann George Smiley, wieder auftritt. Dies sei »für Süchtige ein unwiderstehlicher Köder«, schreibt ein Rezensent. »In der Wirklichkeit gibt es bloß Mielke.«

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Im Hinblick auf die Aufarbeitung der Stasi-Altlasten in der ehemaligen DDR wurde gesagt, daß, wenn heute dort die Krätze jucke, man beim Kratzen berücksichtigen müsse, daß auch die Milben Anspruch auf Datenschutz hätten.

 

In Helbra, einer Stadt des Bundeslandes Sachsen-Anhalt, wurden von einer aufgelassenen Kupferhütte Leiterplatten von Computern verschwelt, noch zu Zeiten der alten DDR. Die dabei freigesetzten Gifte, Schwermetalle und Dioxine, haben den Boden verseucht. Laut einer Untersuchung des Technischen Überwachungsvereins Bayreuth gehört Helbra zu den ökologisch am schwersten belasteten Regionen in den neuen Bundesländern. Nun hat man, auf dem Gelände der mittlerweile völlig stillgelegten Fabrik, sowjetische Juden untergebracht. Einige von ihnen klagen bereits über medizinische Probleme. Das zuständige Innenministerium rühmt sich, die Unterbringung betreffend, seiner humanitären Hilfe. Der Bürgermeister von Helbra verteidigt auch nach Bekanntwerden der Umweltdaten die Art und den Ort der Unterbringung. Somit sehen sich die Ostjuden einer ihnen seit langem vertrauten Reaktion auf ihre Existenz gegenüber: Von den Russen werden sie verjagt, die Deutschen begegnen ihnen mit Gift.

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Dem Hinweis auf die offensichtlich bescheidenen Lebensumstände Hans Modrows, des ehemaligen SED-Bezirks­sekretärs von Dresden und vorletzten DDR-Ministerpräsidenten, wurde neulich geantwortet, auch König Friedrich Wilhelm I. von Preußen habe immer nur Erbsensuppe gegessen.

 

Ein Ausspruch des austro-jüdischen Dokumentaristen Simon Wiesenthal wurde zwar auf österreichische Verhältnisse gemünzt, hat aber, wie jeder gute Vergleich, auch anderswo seine Gültigkeit, etwa betreffend die Spitzenpolitiker aus der allerletzten Existenzphase der DDR: »Politische Raketen haben mit echten Raketen eines gemeinsam: Sie bleiben nicht oben.«

 

Man hat gesagt, die Leute, die sich am 9. November 1989, also bei der Öffnung der Berliner Mauer, in den Armen gelegen hätten, lägen sich heute in den Haaren.

 

Für die Dialektik von Wandel und Unwandelbarkeit in der alten DDR ist bezeichnend die folgende Anekdote: Entgegen der durch Beschluß des Politbüros der SED getroffenen Entscheidung, daß zwei mal zwei acht sei, behauptet ein DDR-Naturwissenschaftler, zwei mal zwei sei vier. Er wird verhaftet und wegen feindlicher Provokation gegen die Politik von Partei und Regierung zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt, die er im Zuchthaus Bautzen verbüßt.

Durch eine Amnestie zum Republik-Feiertag kommt er vorzeitig frei. Die politische Gewalt im Land ist inzwischen von Walter Ulbricht auf Erich Honecker übergegangen. Mit Beschluß des Politbüros der SED ist soeben entschieden worden, zwei mal zwei sei sechs. Der in die Freiheit entlassene Naturwissenschaftler behauptet nach wie vor, zwei mal zwei sei vier. Er wird zu seinem Arbeitgeber bestellt und auf sein provokatives Verhalten aufmerksam gemacht. Er beharrt weiterhin auf seiner Meinung. Da beugt sich der Vorgesetzte zu ihm und sagt: »Warum sind Sie nur so starrsinnig? Wollen Sie denn, daß zwei mal zwei wieder acht sind?«

 

In weiser Selbsterkenntnis hat die SED-Nachfolgeorganisation PDS anläßlich ihres Parteikongresses in Berlin, Juni '91, im Vestibül des Tagungshauses das folgende Zitat von Bertolt Brecht aushängen lassen: »Woran arbeiten Sie, wurde Herr K. gefragt. Herr K. antwortete: <Ich habe viel Mühe, ich bereite meinen nächsten Irrtum vor.>«

 

Über den voraussichtlichen Gang der politisch-wirtschaftlichen Ereignisse mit ihrer Amerikanisierung des Lebens in der damaligen DDR hatten eigentlich schon die allerersten öffentlichen Verlautbarungen des Herbstes '89 Auskunft gegeben. Bekanntlich riefen damals die Leute: Wir sind das Volk! Mit den genau gleichen Worten beginnt die US-amerikanische Verfassung.

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