2 Grenzgebiet
Rolf Schneider 1992
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Spätestens vier Wochen vor Reiseantritt war es unumgänglich, das zuständige Volkspolizeikreisamt aufzusuchen und einen förmlichen Antrag zu stellen. Der dafür vorgeschriebene Fragebogen wollte außer den üblichen Personaldaten noch den Reisegrund, die Art des Transportmittels und die Umstände der letzten Aufenthalte im nicht-sozialistischen Ausland erfahren. Dreißig Tage später ließ sich der Passierschein in Empfang nehmen, ein Stück rotes Papier, mit maschinenschriftlichen Eintragungen und dienstlichen Stempeln. Er galt nur in Verbindung mit dem jeweiligen Personalausweis.
Beim Nahen der Grenze, hier: auf der Straße gleich hinter der Bahnstation <Drei Annen Hohne>, machten unübersehbare Schilder darauf aufmerksam, daß die Weiterfahrt nur mit gültigen Genehmigungen erlaubt sei. Einige hundert Meter und mehrere Serpentinen weiter, an einer Wegkreuzung mit dem Flurnamen Großer Stern, warteten geschlossene Schlagbäume, tätige Ampelanlagen sowie Schilder, welche das Weiterfahren von der entsprechenden Anweisung des Wachtpostens abhängig machten. Dieser Posten war ein uniformierter Angehöriger der DDR-Grenztruppen. Er forderte von allen Insassen des Wagens Passierschein und Personalausweis zur Einsicht. Er las die Daten.
Er verglich die in den Pässen enthaltenen Fotografien mit den Gesichtern der Reisenden. Nach erfolgter Prüfung drückte er den Knopf einer elektrischen Sicherungsanlage, worauf sich der Schlagbaum hob. Das Fahrzeug durfte passieren.
Die Reisenden waren gehalten, innerhalb von 24 Stunden mit ihren Passierscheinen bei der örtlichen Volkspolizeidienststelle zu erscheinen und sich registrieren zu lassen. Der Pförtner ihres Hotels legte ihnen die sogenannte Grenzbelehrung vor: einen hektographierten Text, der in amtlichem Deutsch darauf aufmerksam machte, man befinde sich im Grenzgebiet zur imperialistischen BRD, man habe seine Papiere ständig bei sich zu führen, die unmittelbare Nähe der Demarkationslinie zu meiden und den Anweisungen der Grenztruppen unbedingt Folge zu leisten. Jeglicher Verstoß werde durch augenblickliche Ausweisung aus dem Grenzgebiet geahndet. Die Kenntnisnahme der Grenzbelehrung war durch Unterschrift zu bestätigen.
Spaziergänge am rechten Ufer der Kalten Bode führten wiederholt zu geschlossenen Schlagbäumen und einem Schild mit der Aufschrift <Ende des Wanderwegs>. Über dem Tal stand der bereits zu Westdeutschland gehörige Wurmberg, mit einer Skisprungschanze und mit einem blendend weißen Überwachungsturm der NATO. Neben dem alten Wasserwerk in Oberschierke befanden sich, hinter einer Mauer, die Kasernen der Grenzschützer und die Zwinger für die Wachhunde, in denen ständig Geheul und Gebell war und aus denen es weithin nach Verwesung stank. Manchmal gab es unvermutete Detonationen, deren Echo sich vielfach an den Hängen brach. Wild war auf eine der ausgelegten Minen getreten. An etwas anderes wagte niemand zu denken.
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Wer es unternahm, dem höchsten Harzberg, dem Brocken, näherzukommen, mußte sich an den Verlauf einer Asphaltstraße halten, über deren Ziel kein schriftlicher Hinweis Auskunft gab. Aus dem Dunkel des Hochwalds traten plötzlich uniformierte Streifen. Sie führten Maschinenpistolen bei sich, manchmal einen hechelnden Hund. Kurz vor der Kreuzung der Straße mit dem Schienenstrang einer totgelegten Schmalspureisenbahn standen gelbe Schilder. Ihre Aufschrift lautete Schutzstreifen. Jede weitere Passage wurde durch sie verboten. Hinter dem Bahndamm befand sich ein Mannschaftsbunker mit kleinen schwarzen Schießscharten. Bloß Dienstfahrzeuge der Deutschen Post, der DDR-Grenztruppen, des Wetterdienstes und der Sowjetischen Armee konnten die Straße ungehindert weiter befahren, in Richtung auf den trostlos kahlen Gipfel des Bergs.
Dies alles habe ich in achtundzwanzig Jahren viele Male so erlebt. Meine Aufenthalte im Grenzgebiet des Kreises Wernigerode wurden zu Besuchen einer unvergleichlichen Region.
Das Leben dort zeigte sich zwiefach sequestriert. Die Bewohner hatten das traurige Privileg, die Bewachungs- und Abgrenzungsmechanismen des gewöhnlichen DDR-Bürgers gleichsam in Potenz zu erleben. Besuche von Freunden oder Verwandten durften nicht beliebig empfangen werden.
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Man mußte sie umständlich beantragen. Häufig wurde die Genehmigung verweigert. Da dergleichen nicht jedermanns Sache war, wurden jene, die ständig im Grenzgebiet leben durften, durch rigide Auswahlmechanismen bestimmt. Gleich allen Privilegien im deutschen Arbeiter- und Bauernstaat wurde auch dieses dann materiell besonders entgolten.
Wie die Bewohner des Grenzgebietes anderswo verdienten jene von Schierke deutlich über dem DDR-Durchschnitt. Da sie angesichts ihrer traurigen Rundumbewachung nur wenig Gelegenheit hatten, das Geld sonstwie auszugeben, verwendeten sie es für den Erhalt ihrer Häuser. Der Ort zeichnete sich aus durch auffällig heile Dächer, durch intakte Zäune, durch aufgeräumte Straßen und Mauern mit sauberen Farben.
Er war ein seltsames Biotop der Ordnung und Ordentlichkeit inmitten eines Staates, der sonst ganze Städte verfaulen ließ. Zugleich herrschte darin ein mit den Jahren immer auffälliger werdender Anachronismus, denn der zivilisatorische Zustand, den es konservierte, blieb jener des Sommers 1961, da die Grenze in dieser Form entstanden war.
Die exzeptionelle Lage setzte sich diesseits der Schlagbäume fort. Durch den besonderen Verlauf der innerdeutschen Grenze sah sich die eigentlich von jedermann begehbare Kreisstadt Wernigerode in einen infrastrukturell toten Winkel der DDR versetzt. Die Leute machten das ihre daraus. Sie entschlossen sich zu unbekümmertem Trotz.
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Ausgestattet mit einem gesunden Erwerbssinn, den selbst die relative Wertlosigkeit der DDR-Währung nicht störte, und von Alters her eingeübt auf eine grundsätzliche Verachtung der Kapitale Berlin, was sich notfalls politisch deuten ließ, war die Stadt von einer anderswo ausgestorbenen Betriebsamkeit erfüllt.
Ich bin in Wernigerode aufgewachsen. Auf dem dortigen Friedhof von St. Theobaldi liegen die Gräber meiner Eltern. Ich fühle eine sentimentale Hinneigung zu der »bunten Stadt am Harz«, deren Beiname übrigens eine Erfindung des niedersächsischen Blut-und-Boden-Dichters Hermann Löns ist. Eine wache Lokalbehörde handelte ihm die Wendung ab, kaum daß er sie erfunden. Tatsächlich ist es, daß der spätmittelalterliche Stadtkern, das spätgotische Rathaus mit seiner Freitreppe, mit seinen zwei Türmen, das gesamte aus Schnitzereien und heftig kontrastierenden Farben gemachte Fachwerk der erheblichste Reichtum des Ortes sind.
Die alte DDR ging mit solchen Hinterlassenschaften rüde um. In der unmittelbaren Nachbarschaft verkam die kostbare bauhistorische Substanz von Städten wie Halberstadt, Osterwieck, Quedlinburg, und selbst in Wernigerode drohte verschiedentlich die Abrißbirne. Es gab jedesmal Bürgerprotest und überregionalen Unmut. Zuletzt sollte im Zentrum der Stadt ein feines Hotel errichtet werden, wozu erforderlich war, den historischen Marktplatz zu schleifen.
Die Sprengkommandos standen schon bereit. Die allgemeine Empörung brachte einen Aufschub. Die Wende kam, und der Umbau lief an.
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Nun, da die Gerüste fallen, erweist es sich, daß erheblich mehr an Beton, mißratenen Proportionen und postmodernem Chi-Chi zu sehen sein wird als ursprünglich verheißen. Der alte SED-Bürgermeister, Kilian, Mitverantwortlicher an solchen Banausien, amtierte ein Jahr lang unangefochten als Vize in der gesamtdeutschen Sportvereinigung DSB.
Das große Baugerüst am Marktplatz ist bloß eines von vielen. Verstört durch Bilder aus anderen Regionen der einstigen DDR, da der Zugriff der Marktwirtschaft immer nur Zusammenbrüche, lähmende Lethargien, bestenfalls ein brutales Gründerchaos erzeugten, wird für mich der Gang durch die Stadt meiner Kindheit zu einem unverhofften Wunder.
Geschäftsgründungen, Neuinvestitionen, Baustellen allenthalben. Die Immobilienpreise, von denen ich erfahre, klettern auf mittleres Großstadtniveau. Eifriges Antichambrieren der Stadtoberen hat allerlei Bundesgelder für Sonderprogramme erbracht. Am nördlichen Stadtrand wurde damit ein neues Gewerbegebiet erschlossen, und das könnte, so wohlgeordnet und solide gebaut, auch im nahen Niedersachsen stehen. Die lokale Bauindustrie, höre ich, ist ausgebucht. Die anderen Industrien, ein Elektromotorenwerk, eine Metallgießerei, eine Arzneimittelfabrik, erfahre ich, werden wohl überleben. Bei nicht ganz vierzigtausend Einwohnern habe man gerade fünfzehnhundert Arbeitslose.
Aus dem Kreis der einst dilettierenden Denkmalschützer hat sich ein rühriger Altstadtverein gegründet, und die Ortssatzung, die er durchsetzte, ist streng.
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Ich treffe auf keine Satellitenschüsseln, keine monströsen Reklamen, keine proportionslosen neuen Geschäftsbauten. Demnächst soll alle Heizung in der Stadt auf Erdgas umgestellt werden, was die Luftwerte verbessern wird. Das mittägliche Gedränge in den Straßen ist beängstigend, und schon auch sind wieder reichlich niederländische, dänische und angelsächsische Laute zu vernehmen, wie vor dem letzten Krieg.
Wernigerode wurde zu einem Paradebeispiel für den von Jürgen Möllemann verheißenen und anderswo ausgebliebenen »Aufschwung Ost«. Die Frage, womit man dies moralisch verdient habe, mag sich kaum einer stellen. Das Verhalten in vierzig Jahren SED-Staat war hier ebenso angepaßt wie anderswo, und die Bereitschaft zu grundsätzlicher Gegnerschaft war eher geringer. Als im Herbst '89 über viele ostdeutsche Großstadtstraßen die Massendemonstrationen fluteten, gab es hier gerade einen gut besuchten Bittgottesdienst zur »Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR«, in der Sylvestrikirche.
Zum 5. Dezember 1989 zogen dann Tausende von Wernigerodern auf den Gipfel des Brockens. Dies war nicht viel mehr als ein listig vorauseilendes touristisches Signal: Die Massenbewanderung des »deutschesten aller deutschen Berge«, wie ein Wernigeroder Fremdenführer in schönem Chauvinismus formuliert, brach seither nicht mehr ab. 2,5 Millionen Touristen sah der Oberharz allein im Kalenderjahr 1990. Die allermeisten von ihnen machten auch in Wernigerode Station.
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Dies ist die eigentliche Ursache des ökonomischen Booms in der Stadt, und daß die davon herrührende Fröhlichkeit etwas durchaus Künstliches hat, erkannte ich erst beim zweiten Blick. Die Angst, sich übernommen zu haben, stört verschiedentlich die Nachtruhe. Es hat mit dem mangelnden marktwirtschaftlichen Training zu tun, aber außerdem mit einer allgemeineren Neurose.
Ein besonders rühriger Geschäftsmann, Besitzer oder Mitinhaber von insgesamt fünf kleinen Betrieben, konnte kürzlich in einem der beiden Lokalblätter lesen, man verdächtige ihn der früheren Stasi-Mitarbeit. Anlaß war bloß eine Namensverwechslung. Der Mann heißt Schulze. Zu juristischen Schritten mochte er sich nicht entschließen, da ihm die Sache zu läppisch vorkam. Inzwischen wird ihm seine Untätigkeit als heimliches Schuldeingeständnis ausgelegt, immer hinter vorgehaltener Hand und immer so, daß es ihn erreicht.
Die gymnasiale Oberschule der Stadt, der so unterschiedliche Talente wie der Westberliner Kunstprofessor Oppermann, die ÖTV-Chefin Wulf-Mathies, der Dresdner Schauspieldirektor Schönemann und die DDR-Folkschnulzentante Hauff entstammen, gebietet über einen renommierten Jugendchor. Es gab ihn schon zu DDR-Tagen. Bereits damals fuhr er manchen Ruhm ein. Sein Leiter heißt Krell, und als der Fall des Leipziger Thomas-Kantors Rotzsch bekannt wurde, wollte man auch ihm mit Stasi-Gerüchten zuleibe. Entnervt drohte er mit seinem Fortgang. Die Gerüchte sind daraufhin verstummt.
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Die Stasi-Hysterie hat hier wie sonst in den neuen Bundesländern die Funktion einer krankhaften Ersatzbewältigung.
Die Wahrheit über persönliche Mitbeteiligung, Mitverantwortung und den eigenen Opportunismus mag sich keiner eingestehen. Lieber flüchtet man in die hastige Geschäftigkeit. Ein schönes Beispiel liefert der Wernigeröder Heimatforscher Georg von Gynz-Rekowski. Schon in SED-Tagen wohlgelitten, brachte er es seit November 1989 gleich auf vier neue Bücher, die er allein oder gemeinsam mit anderen verfaßte. Im biographischen Vermerk teilt er jetzt mit, er habe in seinem langen Leben außer einem Theologie-Studium auch eine Tätigkeit als Offizier »im Generalstab des Heeres (Operationsabteilung)« hinter sich. Die Texte üben sich dann gern in blaublütigem Schulterschluß mit denen von Stolberg-Wernigerode.
»Viele Märchen und Sagen kenne ich, kenne Geister und schwirrende Irrlichte, kenne die dahinjagenden Nebelfetzen gut«, sagt in albernem Richard-Wagner-Pathos Christian-Henrich, derzeitiger Chef des Fürstenhauses. Als er noch hoffen durfte, die 1945 verlustig gegangenen Besitztümer seiner Sippe im Ostharz wiederzuerlangen, reiste er herbei und weihte auf dem Brockengipfel das wiedererrichtete Wolkenhäuschen samt Goethe-Plakette ein.
Inzwischen hat das Bundesverfassungsgericht die vor 1949 erfolgten Enteignungen in der Sowjetzone bestätigt. Viel war es sowieso nicht, was den Stolberg-Wernigerode zuletzt noch gehörte, denn das allermeiste hatte ein leichtsinniger Vorfahr Ende der zwanziger Jahre verjuxt.
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Als letzte und einigermaßen vage Hoffnung bleiben dem Christian-Henrich bloß jene wenigen Quadratmeter Gelände Brockengipfel, auf denen heute eine Einheit der Roten Armee kampiert. Dieses Territorium ist niemals förmlich expropriiert worden. Es setzten sich erst die Amerikaner und dann sofort die Russen darauf.
Deren Unterkünfte und Fahrzeuge hinter bröckelndem Maschendraht bilden derzeit eine der wenigen Sehenswürdigkeiten in 11,42 Kilometer Harzhöhe. Die anderen sind mehrere, inzwischen funktionslose Überwachungsstationen der DDR-Staatssicherheit und auf dem Boden eine Betonaufschüttung von beträchtlicher Stärke.
In einer der Stationen ist ein Brockenmuseum untergebracht. Die Leiterin, Abgesandte des Heimatmuseums Wernigerode, parliert mit unterschiedslosem Humor über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Des stockkonservativen Christian-Henrich wird dabei häufig und immer dankbar gedacht. Ich entdecke, wie unbeschädigt von vier Jahrzehnten SED-Herrschaft, wenn nicht dadurch gar gekräftigt, sich die alte deutschnationale Grundierung der Region behauptet. Dereinst war ihr die Harzburger Front von Hitler und Hugenberg zu danken gewesen. Jetzt sind unten in Wernigerode die leisen vietnamesischen Straßenhändler, die ich im Spätsommer 1989 noch am Westerntor stehen sah, schon längst wieder verjagt.
Dergleichen macht dann auch den Brockentourismus zu einer eher gespenstischen Veranstaltung.
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Daß dieser Berg zu einem förmlichen deutschen Trennungs- und Wiedervereinigungssymbol geworden ist, wie sonst nur noch das Brandenburger Tor in Berlin, läßt sich ohnehin rational nicht erklären. Tag um Tag lockt er die Menschen an, Kraxler, Benutzer von Kremsern, in unaufhörlichem Strome bewegen sie sich teils vom Torfhaus, teils von Oberschierke her und die aufgelassenen DDR-Grenzbefestigungsanlagen entlang. Die Marschsäulen vereinigen sich an der Bahnstation Goetheweg. Sie ist derzeit nichts als ein Schild und ein Name. Die Brockenbahn soll bald wieder regelmäßig fahren, nach feierlicher Einweihung und gelegentlichem Betrieb schon im Herbst 1991. Danach werden noch viel mehr Leute den Gipfel betreten, die verbliebene Flora zu verwüsten und dem Brockenwirt Hans Steinhoff, einem ehemaligen DDR-Gewerkschaftskonditor, weiter wachsende Umsätze zu bescheren.
Die dem Brocken zunächst gelegenen Gemeinden Schierke und Elend gehörten einst der DDR. In den Westharzer Ortschaften Bad Harzburg und Braunlage brach im Bewußtsein solcher Geographie bald die Panik aus. Mit ihrem aufgeblähten und manchmal leerlaufenden Ferienbetrieb hatten beide Ortschaften bislang immer für sich das schaurige Schauspiel der deutsch-deutschen Demarkationslinie und die offene Hand des Bundes für den Zonenrand.
Beides ist nun dahin. Wegschilder mit Wanderhinweisen auf Schierke, erzählt man mir, werden immer wieder auf geheimnisvolle Weise nächtens entfernt.
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Als westliche Tourismusmanager dann noch den Slogan in Umlauf brachten: »Im Osten wandern, im Westen wohnen«, war es mit der Wiedervereinigungseuphorie der Harzer Ossis vorbei. Unübersehbar nämlich, daß die Aufforderung griff. In Schierke profitieren vom Brockentourismus derzeit bloß die Imbißbudiker am Ortsrand. Selbst die Einrichtung des Naturparks Oberharz mit seinen strengen ökologischen Auflagen wird jetzt für eine vorsätzliche Schikane der Wessi-Hotelerie gehalten, wiewohl es sich dabei doch um eine Erfindung der letzten DDR-Regierung handelte.
Schierke lebte drei Jahrzehnte lang vom sozialistischen Tourismus und von der geschlossenen Grenze. Übernachtungsgäste wurden zugeteilt durch den Feriendienst des FDGB und das Reisebüro der DDR. Niemals ließen sich alle Nachfragen befriedigen, und mit den Jahren gerieten Service und Aufwand immer mangelhafter. Es ging ja auch so. Die eine Hälfte der Einwohner Schierkes stellten Bedienstete der Gastronomie, die andere Hälfte Berufssoldaten. Sämtliche nennenswerten Neubauten im Ort beauftragte das Militär.
Als nun der Ort aus seinem sozialen Dämmerschlaf erwachte und unters mitleidlose Licht des ungeteilten Himmels geriet, werden seine Deformationen offenkundig.
Von der lautstarken Geschäftigkeit Wernigerodes ist hier nichts. Die Kontrollgebäude der Grenzsoldaten am Ortsrand stehen immer noch, als entleerte Kulissen. Ihr lähmender Geist, so scheint es, ist der Gegend verblieben.
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In Unterschierke zeigen sich die meisten Geschäfte verwaist. Ferienheime, die früher nach den Kommunisten Mehring und Gieseler hießen, tragen nun wieder die Namen »Fürstenhöh« und »Brockenblick«, wie vor dem letzten Krieg. Die Umbenennung hat ihnen kaum zahlende Gäste beschert. Ungefähr die Hälfte aller Hotels und Pensionen hält überhaupt geschlossen. Der Kurdirektor hat rechtzeitig zum Höhepunkt der Sommersaison 1991 seinen Jahresurlaub genommen.
Schierkes feinstes Haus ist weiterhin das Hotel »Heinrich Heine«. Hier logierte früher die DDR-Kultur- und Wissenschaftsschickeria, und es gibt auch ein Appartement, dessen häufiger Benutzer der Diktator Walter Ulbricht war. Heute ist alles heruntergewohnt. Dem vermeintlichen Zeitgeiste folgend, wurde ein Salon eilig auf den Namen »Fürst zu Stolberg« getauft. Im übrigen harrt man des neuen Besitzers, den die Berliner Treuhandanstalt und das Londoner Bankhaus Warburg besorgen sollen, zum Kaufpreis von 17 Millionen Mark. Das ohnehin beträchtlich reduzierte Personal rechnet mit seiner Kündigung. Anfang August 1991 war gerade ein Viertel der Betten vergeben.
Das allererste literarische Honorar meines Lebens erhielt ich einmal für ein Werbeverslein, das ich zum Ruhm eines in Schierke gebrannten Kräuterlikörs verfaßte. Der Sohn der Produzentenfamilie war mein Klassenkamerad. Erfunden hatte den Schnaps Willy Drube, der im Hauptberuf Pharmazeut und Inhaber der Apotheke »Zum roten Fingerhut« gewesen war. Sein Gebräu ist ein hübscher Erfolg geworden. Nach Krieg und Spaltung wurde es sowohl im Osten wie im Westen vergoren, im Osten zuletzt durch den Staat.
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Mit der Einheit kehrte die Besitzerfamilie an den Ort ihres Ursprungs zurück. Die Apotheke strahlt heute im allgemeinen westeuropäischen Pharmadesign, und der Kräuterschnaps ist wieder gesamtdeutsch. In Schierke entdecke ich sein Label hinter jedem Schaufenster, an jeder zweiten Hauswand, und unmittelbar neben der Apotheke sah ich die monströse Nachbildung einer Likörflasche, gebäudegroß.
Längst ist die Schnapswerbung zahlreicher und penetranter, als es selbst die einstige Sicht-Agitation zum Sieg des Sozialismus war, zudem bedient sie sich auch noch der gleichen Farben: weißer Buchstaben auf rotem Grund. Der Umsatz dieses Likörs, erzählen mir die Leute, soll im letzten Jahr um 600 Prozent gestiegen sein.
Seit dem Herbst '89 sind in Schierke genau drei Neubauten entstanden. Einer ist ein Lebensmittelsupermarkt, die beiden anderen sind aufwendige Villen, im nicht hierher gehörigen Bergbauernstil der polnischen Tatra. Die Bauherren, erzählt man mir, seien der einstige SED-Bürgermeister und sein Vize. Ihr derzeitiger Nachfolger, demokratisch gekürt in den Kommunalwahlen von 1990, gehört zur einstigen Blockpartei CDU. Früher soll er Diplomat gewesen sein, Mitarbeiter der DDR-Botschaft in Helsinki.
Nach der CDU zweitstärkste Partei ist in Schierke Gregor Gysis PDS. Deren Wähler sitzen bevorzugt in den Wohnhäusern der Grenztruppen, uniformen Mietblocks und plötzlich schmuddelig gewordenen Villen des immergleichen Fertighaustyps. Hinter den Fenstern erkenne ich kleinbürgerliche Tüllgardinen, Grünpflanzen und Nippes. Ein paar der Offiziere, heißt es, wurden vom Bund übernommen und besuchen derzeit eine westdeutsche Führungsakademie. Die übrigen haben sich andere Berufe gesucht, oder sie sind arbeitslos und drücken auf die allgemeine Stimmung. Ihre Kaserne, am Rand der Straße zum Brocken, ist leer und tot. Irgendwann soll sie gesprengt werden. Auf dem ehemaligen Gelände für die Fahrzeuge und die Hunde parken jetzt die Wagen der Brockentouristen.
Abseits dieser Straße bleibt die Gegend unbehaust, »spät im Sommer vom Schnee noch schwer, tiefer fichtenbekränzt, düster vom Eichenwald«, wie der Harzbesucher Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, vor genau 200 Jahren frühromantisch dichtete. Noch immer steht die Rennschlittenbahn, ein Ding von betäubender Häßlichkeit, weiteres Relikt des SED-Mannes Kilian, der nebenher die DDR-Rodler anführte, und es gibt Erich Honeckers Lebenswerk: den dreifachen Zaun aus Wachttürmen, Betonpfählen, Maschen- und Stacheldraht, aus Gehplatten und mit Pestiziden vergifteter Erde, ein Kilometer um den anderen, grausig anzusehen und völlig absurd.
Die Stimmung von Apathie und Trauer hängt zwischen den Bäumen wie dünner Rauch. Die deutsche Einigung ist eben zwölf Monate alt. Man reagiert auf sie mit verwirrender Emsigkeit oder hilflosem Nichtstun, und beides wirkt gleich deprimierend, da beides aus schlechtem Gewissen und lastender Erinnerung kommt.
»Jahr um Jahr haben wir uns gefragt: Sollen wir gehen? Sollen wir bleiben?« sagt mir eine Putzfrau aus Schierke. »Wir sind geblieben. Herbst '89 dachten wir uns: Wir haben es richtig gemacht.« Sie hält inne und sagt dann: »Jetzt haben wir Zweifel.«
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