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5  Von linker Melancholie  

 

 

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Der erste, der es laut aussprach - wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht - war der Dichter Günter Kunert. Die DDR gab es damals noch. Sie war eben erst im Begriff, unterzugehen. Da ließ sich der einstige DDR-Lyriker vernehmen, es werde demnächst eine DDR-Nostalgie ausbrechen. 

Dies war so offensichtlich gegen die Tendenz des obwaltenden Zeitgeistes gesagt, daß sich die Wahrheit der Behauptung überhaupt nicht mehr abweisen ließ. Inzwischen sind wir ein Kalenderjahr weiter und der verheißenen Nostalgie ein Stück näher. Zwar, die PDS stürzt Monat um Monat in den demoskopischen Umfragen weiter ab, daß sie demnächst auch in den fünf neuen Bundesländern unter die Fünf-Prozent-Schwelle gelangen dürfte, was aber nur auszuweisen vermag, daß der von ihr repräsentierte Altstalinismus zur Zeit nicht mehrheitsfähig ist. Vorhanden bleibt er gleichwohl. Ein harter Kern einstiger Privilegien­empfänger trauert lautstark seiner Vergangenheit hinterdrein.

»Was wir in vierzig Jahren unter schwierigen Bedingungen entwickelt haben, wird fortleben in den Kämpfen der Zukunft. Ich denke dabei insbesondere an die sozialen Errungenschaften, für deren Verteidigung die Menschen, insbesondere die Arbeiter, auf die Straße gehen.« Sagt der entmachtete Erich Honecker im sowjetischen Militärhospital Beelitz, seiner zeitweiligen Bleibe. 

»Wir hatten schließlich eine aufblühende Volkswirtschaft«, sagt er noch. »Das ist auch von den größten Miesepetern nicht zu bestreiten.« Den Starrsinn, mit dem hier Tatsachen ignoriert und unveränderliche Überzeugungen wiederholt werden, mag man wahlweise dem Alter, der eingeschränkten Intelligenz oder einer eisernen Indoktrination zuordnen. 

Immerhin unterscheidet er sich auffällig von der hastigen literarischen Reue des Ex-Politbürokraten Günter Schabowski, ebenso wie von der eifernden Anklage jenes vormaligen DDR-Generalstaatsanwalt-Sprechers Przybylski, der mit der keinesfalls umwerfenden Erkenntnis, daß Karrieren in stalinistischen Organisationen zu biographischen Verrenkungen führen, einen wahrhaftigen Bestseller schuf. 

Erich Honeckers düstere Standhaftigkeit erinnert sonderbar an jene des Rudolf Heß vor dem alliierten Kriegs­verbrechertribunal in Nürnberg. Muß man daran erinnern, wie es anläßlich der Grablegung des Hitler-Stellvertreters zu einem förmlichen Auftrieb fanatisierter junger Leute kam?

Der Passepartout-Moralist Przybylski dürfte der DDR nicht nachgreinen, da er zu denen gehört, deren Überzeugung das eigene Fortkommen ist. Eher geschieht wohl, daß die durch sein Beispiel vorgegebene marktwirtschaftliche Gelenkigkeit den Ekel und das Heimweh jener anderen befeuert, deren Bekenntnisse der Tagestendenz ganz zuwider laufen und so angenehm nach Altruismus duften.

(d-2015:)  G.Kunert bei detopia 

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Wir befinden uns im Kreis der Bessermacher. Ihre Zahl ist beträchtlich. Ihre Charaktere sind buntscheckig. Da gibt es den Kleingeist Egon Krenz, den Intriganten Markus Wolf und den trübseligen Buchhalter Hans Modrow. Sie alle wollten einmal die alte DDR reformieren und verhoben sich. 

Es gehören außerdem hierher die meisten Bürgerbewegten vom Herbst '89. Sie wollten....

»auf der Eigenständigkeit der DDR bestehen und versuchen, mit allen unseren Kräften und in Zusammenarbeit mit denjenigen Staaten und Interessen­gruppen, die dazu bereit sind, in unserem Lande eine solidarische Gesellschaft zu entwickeln, in der Frieden und soziale Gerechtigkeit, Freiheit des einzelnen, Freizügigkeit aller und die Bewahrung der Umwelt gewährleistet sind«.

Die Autoren dieser entsetzlich papierenen Absichtserklärung (<Für unser Land>) übersahen, daß derlei weder durchsetzungsfähig noch finanzierbar war. Es wies sie aus als die verträumten Schöngeister, die sie ihrem Beruf zufolge sowieso waren. Eine Niederlage werde nicht dadurch weniger schmerzlich, daß man sie sich erklären könne, sprach hernach die Schriftstellerin Christa Wolf, die den besagten Aufruf mitverfaßte und sich schon bald genötigt sah, ihre »linke Melancholie« einzubekennen. Melancholie besteht aus unerlöster Zärtlichkeit. Deren Objekt ist in diesem Fall die DDR.

Unter die namentlich erwähnten Zeugen ihres Schmerzes rechnet Christa Wolf die Autoren Walter Jens aus Schwaben und Günter Grass aus Schleswig-Holstein. Damit hat sie insofern recht, als die DDR-Nostalgie durchaus keine ostelbische Spezialität ist.

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Eine linke übrigens auch nicht. Nach übereinstimmenden Berichten aus den Chefetagen großer konservativer Kampfblätter brach dort nach dem Zusammen­bruch des Realsozialismus in Deutschland eine lähmende Traurigkeit aus. Zwar hatte man unentwegt den Untergang des roten Imperiums vorhergesagt, aber man hatte nicht daran geglaubt. Nun man wider Erwarten recht behalten hatte, sah man sich um den vertrauten Gegner gebracht. Wozu war man fortan noch nütze?

Irgendwie ging es doch weiter, und wenigstens blieb das Bewußtsein des politischen Triumphes, während die Komplementäre vom linken Lager außer dem Verlust ihrer DDR auch noch jenen einer Utopie zu beklagen hatten.

Letztere mußte nicht in jedem Falle Sozialismus heißen. Manche begnügten sich schon mit der deutschen Zweistaatlichkeit: als Garantie gegen nationales Großmachtstreben, wie bei Günter Grass, oder als verdiente Strafe des Weltgerichtes für den Holocaust, womit in etwa die Position von Walter Jens umrissen wäre.

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»Warum haben wir nicht die Republik Ostdeutschland ausgerufen und die staatlichen Organe nach Hause gejagt? Anfang November wäre es doch möglich gewesen, sogar ohne Waffen. Nun ist es zu spät. Die Angepaßten aus den Blockparteien haben mit westlicher Hilfe gewonnen. Die Frauen und Männer der ersten Stunde halten ihre Trauerversammlung.«

Der da so redet, stellvertretend für die unterlegenen Reformer in der DDR, ist der linke Pastor Heinrich Albertz

Er wie alle anderen Utopisten einer ostelbischen Radikaldemokratie vergessen die neuerliche Massen­flucht nach dem Mauerfall und — mehr noch — die bereits seit 1985 manifeste wirtschaftliche Pleite im Land.  

Statt dessen wird hier das wesentliche Element einer anderen Dolchstoßlegende benannt. Die Blockflöten als neue Novemberverbrecher? Es ist entschieden zu viel der Ehre.

Albertz ruft noch nach »Parteinahme gegen die westlichen Haie und Geschäftemacher und die willfährigen Mitläufer <drüben>«, was wie eine Antwort wirkt auf jene Warnung des Aufrufes <Für unser Land>, da, »veranlaßt durch starke ökonomische Zwänge und durch unzumutbare Bedingungen, an die einflußreiche Kreise aus Wirtschaft und Politik in der Bundesrepublik ihre Hilfe für die DDR knüpfen, ein Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte beginnt«.

 

Daß der Zugriff des Kapitalismus in Ostdeutschland kein pfleglicher Vorgang sein würde, war von Anfang an gewiß. Daß die »Angepaßten aus den Blockparteien« sich hier als eher unfähige Unterhändler erwiesen, spricht für ihre allgemeine Miserabilität, war aber nicht zwingend vorgegeben. Der zur Zeit fetteste Humus für die fortwuchernde DDR-Nostalgie komponiert sich aus Arbeitslosigkeit, westlichem Besitzegoismus, brutalem Verdrängungswettbewerb und fahrlässigen Politikerversprechungen, aus wachsendem Fremdenhaß, zunehmender Gewaltkriminalität und progredierender Verblödung im Zeichen von Videothek und Groschenblatt.

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»Ist das denn etwa die Freiheit? Ist man frei, wenn man nicht arbeiten gehen kann? Also, für mich gibt es bessere und nützlichere Freiheiten«, sagt ein 17jähriges Lehrmädchen aus dem Osten und begründet damit sein Votum gegen die Wiedervereinigung. Es ist eine Stimme von mittlerweile Zehntausenden. Darauf das höhnische Echo des greisen Erich Honecker nach seinem Sturz: »Gab es nicht das Recht auf Arbeit, für jede; Arbeit, für jeden Beruf? War das Volk der DDR faul oder fleißig?«

Es ist so wie mit den westelbischen Nahrungsmitteln. Nach dem 1. Juli 1990 stürzten sich zunächst alle auf sie, daß die DDR-Produkte liegenblieben und verkamen. Heute findet jedermann, bloß die Verpackung sei raffinierter, der Inhalt aber entschieden gehaltloser, fader und zudem teurer als bei den alten Waren mit den grauen Hüllen.

Außerdem sehen sich die Ostdeutschen fortwährend darauf gestoßen, daß sie von minderer Art seien: durch die schlechtere Entlohnung bei gleichem Tun, durch die massierten Vorurteile des Westens, durch die tägliche Anschauung der eigenen materiellen Rückständigkeit. Da aber kaum einer fortwährend in Sack und Asche gehen mag, verwandelt sich das östliche Sosein allmählich in eine positive Moral.

Ihr Name lautet: DDR-Identität. Keiner weiß, was und wie die eigentlich ist. Als Schutz- und Trotz-Vokabel taugt sie deswegen um so besser. Sie könne »nicht sagen, daß ich vorher ungeteiltes Vertrauen zur Regierung und zur SED hatte, aber allzu schlimm, wie es jetzt immer dargestellt wird, habe ich es nicht empfunden«, äußert eine 16jährige Schülerin, und ein angehender Schienenfahrzeugschlosser, drei Jahre älter, sattelt drauf: »Mein Heimatland – die DDR – wird ersatzlos aus der Weltkarte ausgelöscht. Das stört mich moralisch.«

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Aus derlei diffusen Gefühlen und Erinnerungen erwächst das Bild einer DDR, die so nie existiert hat und der auch die fortwährenden Enthüllungen über Tote an der Mauer, über SED-Amtswillkür und Stasi-Allmacht kaum mehr etwas anhaben können. Ohnehin verliert Mielkes Firma durch die übergroße publizistische Abnutzung zusehends von ihrem Schrecken. Man kann förmlich darauf warten, daß, als Seitenstück zur Auschwitz-Lüge, demnächst die MfS-Lüge aus dem Dunst ostdeutscher Stamm­tisch­gespräche tropft.

Dann wird man wohl entsetzt nach den Gründen fragen. Man wird sie finden in der Kurzatmigkeit der Zeitgeschichte und in der Trägheit der menschlichen Seele. Statt mit Sorgfalt und Unerbittlichkeit die allgemeine politische Vergangenheit und den eigenen persönlichen Anteil daran bedenken zu müssen, sehen sich die Betroffenen allerlei hastigen Wechselbädern ihrer Gefühle ausgesetzt, daß sie schließlich dankbar nach dem nächstbesten Rettungsanker greifen.

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Aus dem Mittelgebirge der inzwischen massenhaft erschienenen Beschreibungs-, Enthüllungs- und Recht­fertigungs­literatur zur DDR ragt, als ein einsamer Gipfel, das Buch mit dem etwas mißverständlichen Titel <Rückkehr nach Europa>.

Sein Verfasser, Jens Reich, war ein Promoter des Herbstes '89 in Ostberlin. Neben Wolfgang Ullmann, Gregor Gysi und Wolfgang Thierse wurde er eines von vier starken politischen Talenten aus dem deutschen Osten, und als einziger der vier widerstand er der Versuchung, endgültig in die politische Klasse aufzurücken. Seine Sammlung von Eindrücken, Notizen und Reden, genau bedacht und glänzend formuliert, äußert sich unter anderem zum Phänomen der untoten DDR. Reich rubriziert es unter der Vokabel »Trotzidentität«.

Er benennt die Ingredienzen: »Es ist wie der Abschied von der Schule, die man gehaßt hat und die doch ein Teil des Lebens war. Man empfindet Erlösung, Befreiung, aber auch beklommene Wehmut. Traurig sitzt du in der Schulbank, die schon keine mehr ist; der Lehrer ist milde gestimmt, auch er den Tränen nahe, und du nimmst den Bleistift und schreibst ein larmoyantes Gedicht ...«. 

Er benennt, als vorbeugendes Mittel gegen politisches Heimweh, die Techniken und Erfahrungen einstiger Deformation. Die Angst. Die Anpassung. Sie führe bis zur Selbstzensur, als »veredelter Kotau: demütiges Schweifwedeln des Untertanen als souveräne Taktik verkleidet«.

Aber was nützt das noch, wenn im vollen Bewußtsein solcher Dinge der DDR gleichwohl gnädig gedacht wird?  

(d-2015:)  J.Reich bei detopia 

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Wo Jens Reich das genaueste Buch zum Gegenstand verfaßte, schrieb das sonderbarste ganz gewiß Hans Mayer. Der 85jährige Literaturwissenschaftler mit heutigem Wohnsitz in Tübingen erinnert sich einer Deutschen Demokratischen Republik, die er einst mit guten Gründen floh und in der er gleichwohl die produktivsten Jahre seines Lebens verbrachte. »Ende schlecht, alles schlecht?« fragte er listig und warnt davor, »das Personal dieses Staates und der ihm vorausgehenden sowjetischen Besatzungszone auch moralisch und charakterologisch vom Ende her zu deuten«. Das schlechte Ende widerlege nicht einen möglicherweise guten Anfang. »Demokratisch und antifaschistisch. Das war eine Denkwirklichkeit, nicht bloß eine Vokabel.«

Was, bitte, ist eine Denkwirklichkeit inmitten einer völlig andersgearteten politischen Praxis? War das Antifaschismus, wenn Halbwüchsige in die eben von Hitlers Häftlingen geräumten Konzentrationslager Buchenwald und Sachsenhausen gesperrt wurden und dort verkamen? Das Ende war wie der Anfang. Schon der Anfang stand gleich im Zeichen von Walter Ulbricht.

Den mag Hans Mayer nun auch nicht. Er setzt gegen ihn Wilhelm Pieck, der aber allenfalls erträglich wird im Vergleich zu Walter Ulbricht. Pieck hat seinen schrecklichen Anteil an der Stalinisierung der KPD, und als Gast des Moskauer Hotel Lux war er so beugsam wie die meisten, ausgenommen vielleicht Palmiro Togliatti. 

Hans Mayer versucht eine – auch literarische – Ehrenrettung des späten Johannes R. Becher. Eigentlich wäre sie unnötig. An Totalverrissen Bechers probieren sich die Banausen.

Hans Mayer benötigt seinen Versuch, um Becher als »unersetzbar«, als »Glücksfall« eines ostdeutschen Kulturministers zu preisen und die junge DDR als einen Staat der Schriftsteller. Gewiß: »Sie alle lebten miteinander in einem Turm und wußten, daß er bereits gefährlich hoch in den Wolken stand.« Gleichwohl: welch eine Situation, unvergleichlich noch im Scheitern, und selbst die Trauer darum kommt süß: »linke Melancholie«, mit der Mayer-Schülerin Christa Wolf zu sprechen.

Eine solche Nostalgie ist mit keinem Argument zu beschädigen, da sie bereits alle Argumente kennt. Von daher ist ihr auch eine bedeutende Zukunft zuzubilligen. Obschon, was der Dialektiker Hans Mayer natürlich weiß, das schlechte Ende immer gegen den Anfang zeugt, da es bloß dessen Konsequenz ist, wird, nach einer Periode der verdeckten Regeneration, die DDR als vertane, verspielte oder gar verratene politische Möglichkeit ins kollektive Bewußtsein der Deutschen zurückkehren. 

Sie wird den trostlos vagabundierenden linken Sehnsüchten einen Platz der Ruhe stiften und einen Gegenstand der Identität. Sie wird so phantastisch und so wirklich sein wie das Dritte Reich in den einstigen Reden des Michael Kühnen. Oder, mit dem hölzernen Pathos des greisen Honecker: »Aus dem schier Unverständlichen des Zusammenbruchs der sozialistischen Gesellschaft wächst zugleich der Aufbruch in eine neue Welt.«

193-194

 

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Rolf Schneider 1992