6 Volk ohne Trauer
Schneider-1992
197-206
Die Vergangenheit soll, was uns betrifft, ohne daß Anlaß zur Reue wäre, auf sich beruhen«, heißt es da. »Natürlich ist der Versuch, sich von der quälenden Erinnerung an Schuld und Scham abzusetzen, ein allgemein-menschliches Bedürfnis.«
Was hier wie eine Beschreibung aktueller Zustände aus der eben aufgelassenen DDR klingt, ist in Wahrheit ein Vierteljahrhundert alt. Es handelt sich um Sätze aus einem Essay von Margarete und Alexander Mitscherlich, <Die Unfähigkeit zu trauern>, und schildert die Seelenlage der Westdeutschen Mitte der sechziger Jahre. Mitscherlich auf detopia
Das Buch hat damals viel Aufsehen gemacht. Es dürfte auch mitgewirkt haben an der geistigen Vorbereitung jener Studentenrevolte, die als eine inständige Befragung der Väter begann und, in ihren geglückten Anstößen ebenso wie in ihren blutigen Extremismen, ein Generationskonflikt immer geblieben ist.
Die Mitscherlichs suchten nach der nicht aufgearbeiteten Vergangenheit des Dritten Reiches im Bewußtsein der Westdeutschen. Bei den Deutschen aus der ehemaligen DDR liegen schon jetzt vergleichbare Befunde vor. Niemand komme hier mit dem geläufigen Argument, das Hitler-Reich und die DDR, SED und NSDAP seien einander unvergleichlich, und der Versuch, den Vergleich dennoch anzustellen, sei eine politische Obszönität.
Ich selber, wozu ich mich bekenne, habe gelegentlich so argumentiert: zunehmend matter, doch erst das Trümmerfeld, das die jüngst geschehene Geschichte in meinem Bewußtsein hinterließ, bringt mich dazu, meinen dies betreffenden Irrtum einzugestehen.
Vielleicht wäre ich etwas eher dazu bereit gewesen, hätte es nicht Ernst Nolte gegeben, der außer dem möglichen Vergleich noch die unmögliche Kausalität behauptet, Stalin sei mitverantwortlich oder geradezu hauptschuldig an Hitlers Verbrechen.
Diese elende Exkulpation der Deutschen, ein später Fall für die Mitscherlichs, hat zugleich verhindert, daß die längst überfällige Analyse des Bolschewismus als einer Form jener anti-republikanischen Massenbewegungen, wie sie nach dem Ersten Weltkrieg allüberall aufbrachen, bis heute ausgeblieben ist.
Der Literaturwissenschaftler Hans Mayer, Staatsbürger unter Hitler wie unter Ulbricht und vor beiden geflüchtet, lehnt einen Vergleich der von beiden verantworteten Regimes aus Gründen der Unverhältnismäßigkeit ab. Der Vergleich kann freilich auch nicht zwischen Berlin früher und später, er muß zwischen Berlin und Moskau ausgezogen werden, und hier dürften die Resultate den grimmigen Ausspruch eines Sowjetbürgers gegenüber einem deutschen Journalisten bestätigen: »Unser Kommunismus und euer Faschismus sind die gleiche Seuche. Ihr habt sie nur loswerden können, bevor sie euch so weit zerstört hat wie uns.«
Die DDR war ein Annex der Sowjetunion. Die dort geschehenen Verbrechen betrafen uns immer mit.
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Auch wenn sie nicht immer auf unser Territorium übergriffen, waren sie unser unmittelbarer Teil. Daß in den gleichen Konzentrationslagern Buchenwald und Sachsenhausen Gegner Hitlers und Gegner Stalins auf die gleiche Weise zu Tode gebracht wurden, ist ein ebenso blutiges wie stupendes Gleichnis, dem jetzt insgesamt der nötige memoriale Respekt erwiesen wird. Dabei kann keine Rede davon sein, wir hätten es etwa vorher nicht gewußt.
Das »wir« meint zunächst alle, sechzehn Millionen, und selbst wenn die Details von Stalins Verfolgungen und Ulbrichts blutiger Kollaboration nicht zu jedermanns Kenntnis kamen, so gab es doch die Schüsse an der Mauer und deren Opfer, die als elektronisch verbreitete Nachricht alle Wohnstuben erreichten. Eine Herrschaft, die solche Praktiken betrieb, war kriminell, und ihr selbstformulierter Humanitätsanspruch war erkennbare Lüge und zynische Heuchelei.
Es hatte einen Versuch gegeben, 1953, diese Herrschaft abzuschütteln. Er war niedergewalzt worden von russischen Panzern, und ähnlichen Versuchen in benachbarten Ländern war es ähnlich ergangen. Also floh man, aus dem Lande und noch viel häufiger in die Apathie oder in die Angewöhnung, und für das Unrechtsbewußtsein, das sich gelegentlich einstellen mochte, gab es die bittere Gewißheit, daß man schließlich immerzu bestraft wurde, durch das tägliche Leben, das, verglichen mit jenem der Verwandten im deutschen Westen, nicht nur viel geringere Freiheiten, sondern auch die schlechtere materielle Ausstattung besaß. Daß die eigene Lage so bemäntelt wurde, bedeutete schon, sie auch zu billigen.
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Darf man demnach so weit gehen wie der ARD-Mann Claus Richter mit diesem Befund: »Noch vier Jahre nach dem Amtsantritt Gorbatschows, zehn Jahre nach dem Entstehen einer unabhängigen Gewerkschaft und Volksbewegung in Polen, votierten neun von zehn Ostdeutschen ohne äußeren Zwang für das heute so bejammerte stalinistische Unterdrückungssystem«? Ich kann hier nicht für jedermann aussagen. Eine gute Adresse für Vorwürfe und Selbstvorwürfe aber ist die Schicht der Intellektuellen, der ich angehöre.
Durch ausgeborgte slawische Kulturgewohnheiten, durch ständiges Einreden und auch durch allerlei schmeichelhafte Lebenslügen waren wir, zumal die Künstler, in den förmlichen Rang einer moralischen Instanz aufgerückt. Tatsächlich wurde auf uns gehört. Wir wußten das. Wie groß unser Einfluß war, läßt sich nur schwer bemessen, er war wohl eher gering, aber es geht hier nicht um numerische Quantitäten, es geht um das Beispiel.
Was also brachte uns dazu, dem unbedingten Fortbestand der DDR das Wort zu reden, das, wie kritisch es manchmal sein mochte, nur selten die Grenzen der repressiven Toleranz durchstieß und damit der Stabilisierung des Systems zugute kam, was wir wußten und am Ende wohl auch wollten?
Die Antwort auf diese Frage wird von Fall zu Fall ein wenig anders ausfallen, und ich will, um nicht unbillig zu generalisieren, im folgenden nur von mir berichten.
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Ich habe mit dem Marxismus das politische Denken gelernt, und die Faszination dieser Weltanschauung ist mir geblieben. Was unter Berufung auf sie als gesellschaftliche Wirklichkeit auftrat, war von den Verheißungen grundverschieden. Da erschien es als eine lohnende Aufgabe, mitzutun, daß solche Diskrepanz verschwinde oder, später und bescheidener gewollt, daß sie geringer werde.
Die Wirklichkeit zeigte dazu wenig Neigung, und so geschah, daß ich mit ihr zunehmend in Konflikte geriet. Ein für mich entscheidendes Datum war der November 1976, in dessen Folge für mich die Möglichkeiten, in der mir bisher gewohnten Form öffentlich wirksam zu werden, fast gänzlich fortfielen. Ich sah mich schließlich genötigt, zehn Jahre lang meiner beruflichen Tätigkeit in der Bundesrepublik Deutschland nachzugehen.
Die naheliegende Konsequenz, auch meinen Wohnsitz dorthin zu verlegen, schlug ich aus. Die Gründe für meine etwas sonderbare Entscheidung hatten mit Trotz, mit Sentimentalität und mit Selbsttäuschung zu tun. Meine einst weltveränderlichen Utopien waren zusammengeronnen auf jenen pragmatischen Rest, daß ich mithelfen wollte, jenen Aschenputtel-Staat namens DDR ein wenig wohnlicher zu machen.
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Das eine und andere habe ich tatsächlich bewirken können. Zwei öffentliche Kampagnen meiner Person in westdeutschen und westeuropäischen Medien haben es verhindert, daß die denkmalspflegerische Substanz jener Stadt, in der ich aufgewachsen bin, Wernigerode am Harz, unheilbaren Schaden nahm. Ich war mitbeteiligt an der vorzeitigen Entlassung zweier politischer Häftlinge in der DDR, und wahrscheinlich hat ein Protest, den ich im SPIEGEL drucken ließ und der sich gegen die Hexenjagd auf den Sticker »Schwerter zu Pflugscharen« wendete, zum endlichen Abbruch dieser skandalösen Kampagne beigetragen.
Freilich, die Hexenjagd auf den Sticker mußte so und so aufhören, da der innen- und außenpolitische Schaden inzwischen ins Unermeßliche wuchs. Bei den Freilassungen unternahm ich hauptsächlich Botengänge, für die sich notfalls auch ein anderer gefunden hätte, und die Mittel, die in Wernigerode aufgewendet worden sind, hat man anderswo abziehen müssen, womöglich im benachbarten Quedlinburg, wo sie ebenso dringend erforderlich waren.
Mit meinem öffentlichen Einsatz gegen die Aufstellung neuer Mittelstreckenraketen und für die Einrichtung eines sozialen Friedensdienstes in der DDR aber bin ich ebenso traurig gescheitert wie jene vielen, die das gleiche wollten. Was ich sonst noch trieb, hier ein keckes Statement öffentlich zu machen und dort einen frechen Text, mag vielleicht den einen oder anderen Betonkopf in Honeckers DDR heftig geärgert haben, doch blieb es folgenlos, in der Sache ebenso wie für den Urheber, also mich.
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Dafür diente ich mitsamt meinem Tun immer wieder als bequemes Argument, daß in dem Staat, der sich einen solchen bunten Vogel leisten könne, die fortwährend behaupteten Einschränkungen der Meinungsfreiheit unmöglich zutreffen könnten, zumal ich in dieser Rolle nicht der einzige war.
Ich habe in den zehn Jahren meiner westdeutschen Berufstätigkeit beträchtliche Summen erlöster Devisen, wie es meine vertragliche Pflicht war, bei der Staatsbank der DDR eingezahlt und damit Herrn Schalck-Golodkowskis Valutakonten gefüllt.
Wenn ich den jungen Leuten, die bei mir daheim auf dem Sofa saßen, weil sie von mir Ermunterung für eine offene Rebellion erheischten, nur immer wieder zu Ruhe und Zurückhaltung geraten habe, da ich sie vor Knast und gewaltsamem Wechsel des Vaterlandes bewahren wollte, so war auch das bloß indirekt der Stabilität der DDR dienlich.
Bei jeder meiner vielen Grenzpassagen aber mußte ich mich fragen, wieso ich für Dinge, die anderen Bürgern des Landes einen längeren Aufenthalt in den Strafvollzugsanstalten von Cottbus, Bautzen oder Hoheneck eingetragen hatten, ausgerechnet mit dem von Millionen anderen heiß ersehnten Privileg der Freizügigkeit bedacht wurde.
Es handelte sich, natürlich, um eine Gebärde der Korruption. Daß ich sie für in anderen Fällen strafwürdige Handlungen erfuhr, sollte mir wohl beweisen, in meinem Falle sei man nicht so, da man mich für eher nichtig hielt. Oder sollte ich etwa glauben, man attestiere meiner Person eine derart hohe Bedeutsamkeit, daß man mit mir nachsichtig umzugehen genötigt sei?
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So oder so handelte es sich um erfolgreiche Attacken auf mein Selbstwertgefühl, vor denen ich mich am Ende nur in allerlei Zynismen flüchten konnte. Selbst darin machte ich mich, da Zynismus zuletzt die einzige Moral des alten Regimes war, zu einem Komplizen.
Die Lösung für mich wäre gewesen, das Land völlig zu verlassen, wie so viele andere aus meiner Branche. Ich hätte den Umzug problemlos haben können, und wirtschaftliche Angst vor dem Westen mußte ich auch nicht bekommen, da ich dort ohnehin schon meinem Beruf nachging. Wieso also bin ich nicht gegangen?
Daß ich es nicht getan habe, wiegt um so schwerer, da es als zusätzlichen Anlaß wiederholt alltägliche Schikanen gab, die gegen mich gerichtet waren und mehr noch gegen meine Familie. Statt den Möbelwagen zu ordern, schrieb ich protestierende Briefe oder machte mich sonstwie vernehmlich. Meistens hörten die Dinge dann auf. Es war vielleicht doch nicht alles so schlimm, und man konnte sogar etwas bewegen, wenn man nur die dazu notwendige Hartnäckigkeit aufbrachte?
Mit derlei systemfrommen Erklärungen half ich mir weiter in meiner Existenz, deren nicht alltägliche Erfahrungserträge ich natürlich auch ein wenig genoß.
Prüfe ich mich genau, weiß ich, daß die letzte Barriere gegen meinen möglichen Fortgang mit dem praktizierenden Marxismus zu tun hat. Ich wollte mir selbst nicht als einem Überläufer begegnen. Ich hatte Angst davor. Ich kannte aus vielen Beispielfällen jenes fortwuchernde Schuldgefühl der Abtrünnigen, ich hatte sogar einen Namen dafür parat, das Renegaten-Syndrom, ich hatte es einmal beschrieben als das ständige Leiden unter Vorwürfen, die keinen Urheber hätten als das eigene Ich, und eben das sei es.
Der Marxismus mit seinen Ordensregeln und chiliastischen Verheißungen ist eine säkulare Religion. Die von ihm wahrhaft Ergriffenen sind gezeichnet. Ich wußte es und konnte gleichwohl nicht dagegen an. Der zitierte Vergleich des Bolschewismus mit einer Seuche umfaßt auch diese Dimension.
Da es sich aber alles so verhält, muß ich auch über Mitschuld nachdenken, und anderen meinesgleichen sollte es ähnlich ergehen. Daß hier nur mitreden könne, wer unmittelbar dabei war, wie Walter Jens und vor allem Rolf Hochhuth behaupten, würden beide genannte Autoren im Falle der Kontroverse zwischen Thomas Mann und Walter von Molo, die bald nach dem letzten Krieg stattfand, weit von sich weisen. Genau die damaligen Argumente kehren aber heute wieder, und auf seiten der Angegriffenen sollte bedenklich stimmen (falls man überhaupt noch Zeit dazu hat bei aller Larmoyanz), daß die eigenen Positionen haargenau jene von Molos sind, und man war doch vorher immer so stolz gewesen auf den eigenen Antifaschismus, wenigstens auf den.
Auch sonst sind Parallelen mit Händen zu greifen, bis hin zu dem Umstand, daß die Goldkehlchen und Notensetzer wieder einmal verschont bleiben. »Es war eine blitzartige Wandlung, die man nicht jedermann so mühelos zugetraut hätte«, schrieben die Mitscherlichs und meinten damit nicht nur Wilhelm Furtwängler, Werner Egk und Elisabeth Schwarzkopf, sondern die Westdeutschen ganz allgemein. »Der kollektiven Verleugnung der Vergangenheit ist es zuzuschreiben, daß wenig Anzeichen von Melancholie oder auch von Trauer in der großen Masse der Bevölkerung zu bemerken waren.«
Mit diesem Mitscherlich-Satz werden Gegenwart und Zukunft in den fünf neuen Bundesländern mitgeteilt. Statt Trauer herrscht dort im Augenblick Zorn, statt Melancholie Verbitterung, und in beiden Fällen wird dies ausschließlich von materiellen Ursachen bedingt. Sobald diese fortfallen, wird die Verleugnung vollständig werden, und die Mehrzahl der Intellektuellen wird dabei mittun.
Müssen wir also auf unsere Studentenrevolte warten? Ihr Datum fiele ins Jahr 2012.
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Rolf Schneider, 1992, Volk ohne Trauer