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1. Grundeinteilung
Schopenhauer-1851
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Nikomachische_Ethik |
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Aristoteles hat die Güter des menschlichen Lebens in drei Klassen geteilt: die äußeren, die der Seele und die des Leibes.
Hiervon nun nichts als die Dreizahl beibehaltend, sage ich, daß, was den Unterschied im Lose der Sterblichen begründet, sich auf drei Grundbestimmungen zurückführen läßt.
Sie sind:
Was einer ist: also die Persönlichkeit im weitesten Sinne. Sonach ist hierunter Gesundheit, Kraft, Schönheit, Temperament, moralischer Charakter, Intelligenz und Ausbildung derselben begriffen.
Was einer hat: also Eigentum und Besitz in jeglichem Sinne.
Was einer vorstellt: Unter diesem Ausdruck wird bekanntlich verstanden, was er in der Vorstellung anderer ist, also eigentlich, wie er von ihnen vorgestellt wird.
Es besteht demnach in ihrer Meinung von ihm und zerfällt in Ehre, Rang und Ruhm.Die unter der ersten Rubrik zu betrachtenden Unterschiede sind solche, welche die Natur selbst zwischen Menschen gesetzt hat, woraus sich schon abnehmen läßt, daß der Einfluß derselben auf ihr Glück oder Unglück viel wesentlicher und durchgreifender sein werde, als was die bloß aus menschlichen Bestimmungen hervorgehenden, unter den zwei folgenden Rubriken angegebenen Verschiedenheiten herbeiführen.
Zu den echten persönlichen Vorzügen, dem großen Geiste oder großen Herzen, verhalten sich alle Vorzüge des Ranges, der Geburt, selbst der königlichen, des Reichtums und dgl. wie die Theaterkönige zu den wirklichen.
Schon Metrodorus, der erste Schüler Epikurs, hat ein Kapitel überschrieben:detopia: Griechische Buchstaben und auf Latein:
Maiorem esse causam ad felicitatem eam, quae est ex nobis, ea, quate es rebus oritur.
Vgl. Clemens Alex., »Strom.«, II, 21, p. 362 der Würzburger Ausgabe der opp. polem.
Und allerdings ist für das Wohlsein des Menschen, ja für die ganze Weise seines Daseins die Hauptsache offenbar das, was in ihm selbst besteht oder vorgeht. Hier nämlich liegt unmittelbar sein inneres Behagen oder Unbehagen, als welches zunächst das Resultat seines Empfindens, Wollens und Denkens ist, während alles außerhalb Gelegene doch nur mittelbar darauf Einfluß hat. Daher affizieren dieselben äußern Vorgänge oder Verhältnisse jeden ganz anders, und bei gleicher Umgebung lebt doch jeder in einer andern Welt.
Denn nur mit seinen eigenen Vorstellungen, Gefühlen und Willensbewegungen hat er es unmittelbar zu tun; die Außendinge haben nur, sofern sie diese veranlassen, Einfluß auf ihn. Die Welt, in der jeder lebt, hängt zunächst ab von seiner Auffassung derselben, richtet sich daher nach der Verschiedenheit der Köpfe; dieser gemäß wird sie arm, schal und flach oder reich, interessant und bedeutungsvoll ausfallen.
Während z.B. mancher den andern beneidet um die interessanten Begebenheiten, die ihm in seinem Leben aufgestoßen sind, sollte er ihn vielmehr um die Auffassungsgabe beneiden, welche jenen Begebenheiten die Bedeutsamkeit verlieh, die sie in seiner Beschreibung haben; denn dieselbe Begebenheit, welche in einem geistreichen Kopfe sich so interessant darstellt, würde, von einem flachen Alltagskopf aufgefaßt, auch nur eine schale Szene aus der Alltagswelt sein.
Im höchsten Grade zeigt sich dies bei manchen Gedichten Goethes und Byrons, denen offenbar reale Vorgänge zum Grunde liegen: Ein törichter Leser ist imstande, dabei den Dichter um die allerliebste Begebenheit zu beneiden, statt um die mächtige Phantasie, welche aus einem ziemlich alltäglichen Vorfall etwas so Großes und Schönes zu machen fähig war. Desgleichen sieht der Melancholikus eine Trauerspielszene, wo der Sanguinikus nur einen interessanten Konflikt und der Phlegmatiker etwas Unbedeutendes vor sich hat.
Dies alles beruht darauf, daß jede Wirklichkeit, d.h. jede erfüllte Gegenwart, aus zwei Hälften besteht, dem Subjekt und dem Objekt, wiewohl in so notwendiger und enger Verbindung wie Oxygen und Hydrogen im Wasser. Bei völlig gleicher objektiver Hälfte, aber verschiedener subjektiver ist daher so gut wie im umgekehrten Fall die gegenwärtige Wirklichkeit eine ganz andere; die schönste und beste objektive Hälfte bei stumpfer, schlechter subjektiver gibt doch nur eine schlechte Wirklichkeit und Gegenwart, gleich einer schönen Gegend in schlechtem Wetter oder im Reflex einer schlechten Camera obscura.
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Oder planer zu reden: Jeder steckt in seinem Bewußtsein wie in seiner Haut und lebt unmittelbar nur in demselben; daher ist ihm von außen nicht sehr zu helfen.
Auf der Bühne spielt einer den Fürsten, ein andrer den Rat, ein dritter den Diener oder den Soldaten oder den General usf. Aber diese Unterschiede sind bloß im Äußern vorhanden; im Innern, als Kern einer solchen Erscheinung, steckt bei allen dasselbe: ein armer Komödiant mit seiner Plage und Not.
Im Leben ist es auch so: Die Unterschiede des Ranges und Reichtums geben jedem seine Rolle zu spielen; aber keineswegs entspricht dieser eine innere Verschiedenheit des Glücks und Behagens, sondern auch hier steckt in jedem derselbe arme Tropf mit seiner Not und Plage, die wohl dem Stoffe nach bei jedem eine andere ist, aber der Form, d.h. dem eigentlichen Wesen nach, so ziemlich bei allen dieselbe, wenn auch mit Unterschieden des Grades, die sich aber keineswegs nach Stand und Reichtum, d.h. nach der Rolle, richten.
Weil nämlich alles, was für den Menschen da ist und vorgeht, unmittelbar immer nur in seinem Bewußtsein da ist und für dieses vorgeht, so ist offenbar die Beschaffenheit des Bewußtseins selbst das zunächst Wesentliche, und auf dieselbe kommt in den meisten Fällen mehr an als auf die Gestalten, die darin sich darstellen. Alle Pracht und Genüsse, abgespiegelt im dumpfen Bewußtsein eines Tropfs, sind sehr arm gegen das Bewußtsein des Cervantes, als er in einem unbequemen Gefängnisse den <Don Quijote> schrieb.
Die objektive Hälfte der Gegenwart und Wirklichkeit steht in der Hand des Schicksals und ist demnach veränderlich; die subjektive sind wir selbst, daher sie im wesentlichen unveränderlich ist. Demgemäß trägt das Leben jedes Menschen trotz aller Abwechselung von außen durchgängig denselben Charakter und ist einer Reihe Variationen auf ein Thema zu vergleichen. Aus seiner Individualität kann keiner heraus. Und wie das Tier unter allen Verhältnissen, in die man es setzt, auf den engen Kreis beschränkt bleibt, den die Natur seinem Wesen unwiderruflich gezogen hat, weshalb z.B. unsere Bestrebungen,
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