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Wissenschaft und ihre Weltbilder

 

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Bei den Wissenschaften unterscheiden wir zwischen den Naturwissenschaften und allen anderen. Diese anderen wurden früher einmal Geistes­wissenschaften genannt. Das war aber nur in Deutschland so, weil man da an den Geist und die Wissenschaften glaubte. Heute findet man das eher peinlich. In den angelsächsischen Ländern spricht man deshalb überhaupt nicht von Wissenschaften, sondern nennt die Disziplinen, die sich mit dem Menschen und seiner Kultur befassen, »humanities«; entsprechend spricht man auch bei uns von Human-Wissenschaften. Dabei haben sich die Wissenschaften von der Gesellschaft, die Sozialwissenschaften, von den alten Geistes­wissenschaften, den Philologien, getrennt, die man jetzt eher Textwissenschaften nennt.

Im Vergleich zur Philosophie oder gar Ideologie gelten die Wissenschaften als äußerst solide. Philosophie ist immer auch Spekulation, und Ideologie ist eine politische Erlösungsreligion. Davon unterscheidet man dann die »exakten Wissenschaften«. Dabei denkt man natürlich zunächst an die Naturwissenschaften. Sie haben zwei Kontrollmittel für ihre Aussagen, die oft miteinander zusammenhängen: das Experiment und die mathematische Berechenbarkeit ihrer Gegenstände.

Es gehört zu den unerklärten Wundern der Welt, daß sich die Natur in der Sprache der reinen Mathematik ausdrückt. Ein Wunder ist das deshalb, weil die Mathematik eine Grammatik hat, die an sich auf die äußere Welt gar keine Rücksicht nimmt, sondern ihre Regeln allein aus der Logik interner Relationen (Beziehungen) gewinnt. Sie ist also das Gegenteil der Natur, nämlich reiner Geist. Und doch tut die Natur so, als ob sie alle Gesetze der Mathematik beherrsche und sich nach ihr richte.

Weniger exakt sind die Text- und Sozialwissenschaften. Aber auch sie haben durchaus solide Kontrollverfahren. Bei den Textwissenschaften ist es die Detektivarbeit bei der Herstellung exakter Texte, also Archive durchstöbern, Belege suchen, Kontexte herstellen, Einflüsse aufspüren und alles durch Fußnoten belegen. Ist für die Naturwissenschaft das Erkennungsmerkmal das Experiment, so ist es in den Textwissenschaften die Fußnote.(1) 


1) Fußnote über die Fußnote

Was ist Sinn und Zweck der Fußnote? Eine Frage, für deren Beantwortung wir wahrscheinlich eine vergessene Fußnote suchen müßten; und eine Frage, die jeden Studienanfänger quält, wenn er zum ersten Mal in jene Unterwelt von Kurztexten eintaucht, aus der jeder wissenschaftliche Großtext wie durch ein Kanalisationssystem zugleich mit Belegen versorgt und von den abweichenden Lehrmeinungen unfähiger Kollegen entsorgt wird. 

Fußnoten sind beides: Nahrungszufuhr und Verdauung, Bankett und Toilette, Gastmahl und Vomitorium (Ort zum Brechen). So wie ein modernes Haus erst durch Strom- und Wasserversorgung, Kanalisation und Müllabfuhr zu einem zivilisierten Habitat wird, wird ein Text erst durch die Fußnoten wissenschaftlich. So entstand sie auch als Reaktion auf die cartesianischen Anklagen gegen die historischen Wissenschaften, sie seien nicht wissenschaftlich genug: Als Verifikationsinstrument der Textwissenschaft wurde die Fußnote zum Äquivalent des naturwissenschaftlichen Experiments. Diese Entwicklung nahm ihren Ausgang bei Bayles Dktiomuüre htstorique et critique von 1697 und wurde von Ranke abgeschlossen, indem er seine Begeisterung für die Archivarbeit in die Fußnoten einfließen ließ und das Historische Seminar schuf, das sich auf die Quellenarbeit konzentrierte.

So wurde die Fußnote zunächst einmal ein Beleg für die Richtigkeit der Aussagen des Textes. Sie zitiert Quellen, Dokumente und Urkunden; sie beruft sich auf Vorgänger oder widerlegt sie; sie ist das Äquivalent der Zeugenaussage vor Gericht und bietet zugleich die Möglichkeit zum Kreuzverhör. Und erst die Verhandlung in den Fußnoten ermöglicht den Urteilsspruch des Textes.

Aber der eigentliche Schlüssel zum Verständnis der Fußnote liegt in der Ruhmsucht. In seinem Roman Small World eröffnet David Lodge die Handlung mit einem Kongreß über Ritterromanzen: Damit will er die Professoren mit fahrenden Rittern vergleichen, die um des Ruhmes willen von Turnier zu Turnier ziehen, so wie die Professoren von Kongreß zu Kongreß, um sich mit ihren wissenschaftlichen Gegnern zu messen. 

Die Suche nach Wahrheit ist vielleicht der wichtigste Antrieb zur Forschung. Aber danach kommt gleich die Anerkennung der anderen Forscher. Dem dient auch die Fußnote. Sie ist für die Wissenschaftler das, was für den Ritter das Wappen ist; sie weist ihn als Wissenschaftler aus, verleiht ihm Glaubwürdigkeit und die Berechtigung, am Turnier teilzunehmen. Zugleich ist sie auch seine Waffe. Mit ihr mehrt er nicht nur seinen eignen Ruhm, sondern mindert auch den seiner Rivalen. Dabei erweist sie sich als Mehrzweckwaffe von geradezu allseitiger Verwendbarkeit. Einige benutzen sie als Dolch, den man dem Gegner in den Rücken jagen kann; federe als Keule, um ihn niederzuschlagen; wieder andere als Florett, um elegante Duelle auszutragen. Für den Leser sind die Fußnoten deshalb häufig kurzweiliger als der Text. Insofern gleichen die Kontroversen in den Fußnoten den Kämpfen, für deren Austragung die Streithähne kurz die Bar ver-

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Wissenschaft und ihre Weltbilder --  Schwanitz-1999