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Von der Utopie zur Sozialen Innovation 

  Vortrag von Rolf Schwendter

1998

 

Wie Ernst Bloch bislang unwiderlegterweise ausgeführt hat, scheint Utopie zu den anthropo­logischen Grundaus­stattungen zu zählen: Als mehr oder weniger hilfreiches Herbeiwünschen besser (oder doch als besser wahrgenommener) gesellschaftlicher Verhältnisse, welches schon beim "schäbigsten Tagtraum" (Bloch) beginnt. 

Die Utopie hat hierbei die verschiedensten Formen angenommen, von der Religion zum Märchen, vom Staatstraum (etwa der namensgebenden Utopia des Thomas Morus um 1520) bis zum Gedicht, von der Wandzeitung der utopischen Phase einer Zukunftswerkstatt bis zu einer ad hoc zusammen­getragenen Spruchsammlung. 

Hierbei markiert Utopie jedenfalls stets zwei Momente: die Negativfolie des jeweiligen schlechten Bestehenden (sage mir, was für Utopien geschrieben werden, und ich sage Dir, in was für einer Gesellschaft diese abgefaßt worden sind), und ein überschießendes Bewußtsein (so der frühere Rudolf Bahro in Die Alternative), aus welchem die kreativen Aspekte zukünftiger gesellschaftlicher Entwicklungen entspringen. 

Utopie ist nicht notwendigerweise mit bestimmten politischen Richtungen verbunden — wenn man selbst die düstersten Aspekte des Realsozialismus in dem zentralistischen Utopien etwa von Cabet oder Bellamy vorweggenommen worden sind. Auch Marktwirtschaft und parlamentarische Demokratie, heute ideelle Säulen des Establishments, haben als Utopien begonnen (als sie nämlich die Negativfolie der Herrschaft der Grundbesitzenden bildeten), wie auch Technokratie, Konzertierte Aktion oder Sozialpartnerschaft (all dies findet sich, wenn auch mit anderen Bezeichnungen, in den Utopien des Claude-Henri Saint-Simon).

Schließlich gibt es ebenso rechtsextreme Utopien (Hitlers Gespräche mit Rauschming oder Picker sind nicht eben frei davon). Wie andere Erscheinungsformen des Lebens auch, bilden sich Utopien aus den Interessen der Klassen, Klassenströmungen, Stände, Schichten, Stile (oder wie auch sonst immer) heraus, vermischen sich, flachen sich (und einander) ab.

Wie in der Philosophie auch, galt lange Zeit (etwa 1520-1930) in den Utopien das Streben nach der systematischen geschlossenen Form als der Königsweg. 

Der große Teil der utopischen Sozialismen, schon der Staatsromane der Aufklärung, noch die Entwürfe eines Rudolf Steiner oder Herbert George Wells haben solche Formen zu entwickeln versucht. Sicher ist die Utopie als „Staatsroman" zu einem eher am Rande liegendem Sonderfall geworden (etwa in Ursula le Guins „Planet der Habenichtse" oder in P.M.s „Weltgeist Superstar", bzw. „Olten - alles aussteigen! Ideen für eine Welt ohne Schweiz" – nicht in seiner bekanntesten Arbeit „Bolo Bolo"). 

Die allermeisten utopischen Äußerungen sind zwischenzeitlich fragmentarische, prozeßual, antwortvielfältig, durch Verfahren (etwa den Zukunftswerkstätten) reproduzierbar, als Motivation ganz anders focussierender Schriften zu erkennen. So entstammen zwei der meines Erachtens größten utopischen Versatzstücke des 20. Jahrhunderts der Feder (oder Schreib­maschine) von Autoren, die sich stets von de Utopie distanziert haben: die "offene Gesellschaft" Karl Raimund Poppers (nun bin ich 58 geworden, und habe noch nie eine solche erlebt, um uns Mauern, Mauern, Mauern...) und die "herrschaftsfreie Kommunikation" Jürgen Habermas'.

Die Utopie als Negativfolie betreffend, fällt auf, daß die "Ordnungsutopien" (wie sie Ernst Bloch nennt), welche mit den "Freiheitsutopien" in etwa sich die Waage gehalten hatten, zugunsten der letzteren so gut wie verschwunden sind. Die bislang letzten drei mir bekanntgewordenen sind ca. 20 Jahre alt, sie sind von Gruhl, Heilbroner und Harich, und entwerfen allesamt, zur Bändigung des befürchteten ökologischen Chaos, weltweite Ökodiktaturen.  

Demgegenüber wird die dezentralistischen Traditionslinie von Charles Fourier, William Morris, Peter Kropotkin, mehr oder weniger fragmentarisch, in eine Fülle von Arbeiten weiterentwickelt, so etwa bei Aldous Huxley (Eiland), George Orwell (Katalonien), Paul Goodmann, Erich Fromm, Johann Galtung, Ernst Kahr, Robert Jungk, Ernest Callenbach, P.M., Walter Neuamnn, Bernd Leßmann, Emilio Modena, sowie in so gut wie sämtlichen feministischen Utopien. 

Das sagt etwas über die bestehende Gesamtgesellschaft aus, die wohl wahrscheinlich sehr zentralistisch, agglomerierend, megalomanisch, vereinheitlichend, verregelnd sein muß. 

Soviel zur raschen Wiederholung meiner Ausgangsposition (sie ist im Buch Utopie ausführlich dargelegt). Denn von Utopien selber, im entfalteten Sinne ihres Wortes, soll es bei dieser Tagung nicht wiederum gehen. 

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Die entscheidende Frage dieser Tagung scheint mir zu sein, was aus der Utopie folgt, was je nach der Utopie kommt, wie diese im Laufe ihrer möglichen fragmentarischen Realisierung sich verändert, wie die "Mühen” der Ebenen" (Bertolt Brecht) sich gestalten. 

In der Struktur der Zukunftswerkstatt folgt auf die utopische Phase die strategische Phase: jene, in der sich bestimmt, wieviel Wasser des Realitätsprinzips in dem utopischen Wein des "Prinzip Hoffnung" hineingetan werden muß, um noch zu irgend einen "wirklichen" Ergebnis zu kommen, welches mehr Wirkungen haben könnte, als angenehm zu lesen zu sein. Dies ist dann die Soziale Innovation.

Nicht zufällig ist auch in Robert Jungks Standardwerk über Zukunftswerkstätten von Sozialen Innovationen als deren Ergebnis die Rede, und zwar, bevor noch die Autoren darangehen, die Einzelheiten dieser Verfahren zu beschreiben. Sinngemäß (und letztlich an Stuart Conger orientiert, der die entsprechende Monographie zu Sozialen Innovationen geschrieben hat) definieren sie Soziale Innovationen als Institutionen, Rechtsnormen oder Prozesse, die gesellschaftlich verändernd wirken, und zwar im Sinne einer intendierten Humanisierung der Welt. 

Hierbei wird in der Literatur zwischen Sozialer Erfindung und Sozialer Innovation unterschieden (diese Unterscheidung haben Conger und Jungk jenem Zweig der Zukunftsforschung entnommen, der sich auf technische Trends bezieht — etwa Erich Jantsch: "Technological Forecasting in Perspective"): die Soziale Erfindung schafft gleichsam das Modell, in der Sozialen Innovation wird es auf Seite gelegt (wir wissen, daß die Frist zwischen beiden gelegentlich 100 Jahre dauern kann). Jungk und Müllert führen eine ganze Reihe von Sozialen Erfindungen der vergangenen beiden Jahrhunderte an: vom Grundrechtskatalog der Menschen- und Bürgerrechte (1776/1789) bis hin zum (allmählich wiederum einschlafenden) Netzwerk Selbsthilfe (1978 — dieses entstand ja auch aus einer Serie von Berliner Zukunftswerkstätten).

Strukturell sind Soziale Innovationen zumeist im Schnittpunkt des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses situiert. Marx hat (im „Kapital 5") ausgeführt, wie etwa der Normalarbeitstag (fraglos eine bedeutende Soziale Innovation, auch wenn sie heute auf dem Wege der „Arbeitgeber" zurück ins 19. Jahrhundert zusehends durchlöchert wird) zustande zukommen begonnen hat: als Interesse des Proletariats (fraglos geleitet von der Utopie, weniger arbeiten zu müssen, die sich auch von Paul Lafargue bis Andre Gorz immer wieder findet), verbunden mit dem Interesse des Gesamtkapitals (vermittelt durch den Staat) an einem nicht allzu ausgebluteten Proletariat (das dann z.B. keinen Wehrdienst leisten kann).

Das mit dem Namen Bismarcks verbundene Sozialversicherungssystem nimmt die Mitte zwischen den (revolutionär intendierten) Forderung an der deutschen Arbeiter­bewegung und der staatlich beherrschten Fremdbestimmung ein. Mag sein, daß eines Tages die Grundsicherung auf ähnliche Weise zustandekommt: schon habe ich auf einer Tagung erlebt, daß Firmendirektoren den Eindruck erweckten, einem Tausch Grundsicherung - Lohnnebenkosten durchaus etwa an Perspektive abgewinnen zu können.

Sicherlich sind die genannten drei Beispiel nicht repräsentativ — es gibt auch Soziale Innovationen, die mit Alternativer Ökonomie nichts zu tun haben. Doch ist ihre Häufung in dieser Sphäre kein Zufall. In einer Befragung des Forschungsprojektes Soziale Innovationen 1988, bei welcher auf die Frage nach den 20 (je subjektiv) bedeutendsten Sozialen Innovationen immerhin über 30 Antworten eintrafen, entstammte der Großteil der Meistgenannten diesem Gegenstandsbereich: Wohngemeinschaften, Genossen­schaften, Selbsthilfe, Grundsicherung, Netzwerk Selbsthilfe, Ökobank, taz, Wissenschaftsläden, Jugendzentren, soziale Bewegungen, Partei "Die Grünen" (die damals noch Hoffnungen weckte, eine „Partei anderen Typs" zu werden, wovon bekanntlich wenig übriggeblieben ist)  — um nur einiges zu nennen. 

Nur vereinzelte Nennungen bezogen sich auf die Legislative (z.B. Ökosteuern), auf etablierte Freizeiteinrichtungen (z.B. Diskos) oder auf subkulturenübergreifende Verfahren (z.B. Metaplan, Psychodrama).

Nicht nur wäre nachweisbar, daß Soziale Innovationen nicht ohne dahinterliegende Utopien zustandekommen (deren TrägerInnen wiederum häufig subkulturelle Personen oder Gruppen darstellen), sondern auch, daß keine Reform, die den Namen verdient, ohne Soziale Innovationen, folglich ohne Utopien, auskommt. 

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