Vorbemerkung
von Harry Köhler 1922
#5 bis #19
Wladimir Solovjeff wurde am 16. Januar 1853 geboren. Sein Vater war der bekannte Historiker Sergius Solovjeff, seine Mutter stammte aus einer alten, geistig hochstehenden Familie Kleinrußlands.
"Die Jugendjahre des Philosophen", schreibt Professor Radloff in seiner Biographie Solovjeffs*, "verflossen unter der fürsorglichen Aufsicht seiner Eltern in einer schönen, geistigen Atmosphäre. Er konnte wie Alfred de Vigny sagen: Mon pere et ma mere vivaient dans le sublime comme dans leur atmosphere naturelle."
Nachdem Solovjeff das Gymnasium absolviert hatte, liefe er sich in Moskau immatrikulieren und hörte die Vorlesungen über Physik und Mathematik. Nach zwei Jahren ging er zur historisch-philologischen Fakultät über und besuchte nebenher fleißig die geistliche Akademie. Im Jahre 1873 beendete er seine Universitätsstudien, das Jahr darauf verteidigte er in Petersburg seine Magisterdissertation, und einige Monate später, am 25. Januar 1875, hielt der 22jährige Philosoph seine erste Vorlesung an der Moskauer Universität über das Thema: »Zur Verteidigung der Metaphysik«.
Doch schon nach einem halben Jahre wurde er zu wissenschaftlichen Studien ins Ausland geschickt. Den Zweck seiner Sendung bezeichnet Solovjeff der historisch-philologischen Abteilung wie folgt: »Zum Studium der indischen und gnostischen Philosophie und der Philosophie des Mittelalters«.
Bei seiner Rückkehr nahm er seine Vorlesungen an der Universität in Moskau wieder auf, aber nur für ganz kurze Zeit. Im März 1877 wurde Solovjeff zum Mitglied des wissenschaftlichen Komitees beim Ministerium für Volksaufklärung in Petersburg ernannt, und von da ab beginnt eine Periode, die überaus reich an wissenschaftlichen Arbeiten und pädagogischer Tätigkeit ist.
* "Wladimir Solovjeff, sein Leben und seine Lehre" von E.P. Radloff, Petersburg 1913.
Solovjeff hält in dieser Zeit öffentliche Vorträge an der Universität und an der Hochschule für Frauen, und drei sehr wichtige Schriften »Die Vorlesungen über das Gottmenschentum«, »Die philosophischen Grundlagen einer einheitlichen Erkenntnis« und »Die Kritik der abstrakten Prinzipien« erschienen im Drucke.
Jedoch auch diese Zeit pädagogischer Tätigkeit in Petersburg fand einen jähen Abschluß. Am 28. März 1881 hielt Solovjeff im Saale der Kreditgesellschaft eine Rede, in der er dem Verlangen Ausdruck gab, daß die Mörder Alexanders II. begnadigt werden möchten.
Da ihn diese kühne Rede in eine gewisse Gegensätzlichkeit zu den offiziellen Kreisen hineingedrängt hatte, sah er keinen anderen Ausweg, als seine Entlassung einzureichen, die auch genehmigt wurde. Von diesem Zeitpunkte ab beginnt seine literarische und publizistische Tätigkeit, die bis zu seinem früh erfolgten Tode fortdauerte.
Das ist der äußere Lebensumriß eines Mannes, den seine Zeit noch nicht begriffen hat, wo ein ahnendes Verständnis seiner Größe nur in einigen der Seelen lebt, die ihn gekannt und geliebt haben.
Der Einfluß der westlichen, speziell deutschen Kultur auf ihn ist ein selbstverständlicher und wird äußerlich da und dort festzustellen sein. Das jedoch, wodurch er für die Menschheit wertvoll wird und worauf es uns ankommt, beruht auf seinem ureigensten Wesen und ist unabhängig von allen äußeren Einflüssen. Es fließt vielmehr aus einem tiefen eigenen Erleben, einer wunderbaren mystischen Vertiefung, einem intuitiven, weiten Erfassen und Verbinden weltumspannender Gedanken.
Philosoph, Mystiker, Dichter wird er vielen vieles sein können und vielleicht gerade dem Philosophen als Dichter, dem Dichter als Mystiker, dem Mystiker als Philosoph. Zunächst kann das so sein und möge es so sein!
Deutsches Denken hat die Menschheit auf eine hohe Stufe gehoben, seine großen Denker haben geleistet, was auf ihrem Wege zu leisten war. Die Wege, die sie eingeschlagen, haben zu Ergebnissen geführt, die alles Denken, auch das tiefste früherer Zeiten hinter sich gelassen haben.
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Diese Wege sind gegangen worden, und sie waren notwendig. Wenn man aber die Ergebnisse näher betrachtet und als ihren Höhepunkt die Erfassung des eigenen Ich-Begriffes anerkennt, wie ihn Hegel entwickelt, so wird man ohne weiteres einsehen können, daß die bisherigen Wege darüber hinaus nicht führen können. Innerhalb dieses Rahmens wird noch manche Erkenntnis ausgearbeitet werden können und ohne Zweifel auch werden, aber ein Weiterschreiten nach oben über diesen Ich-Begriff hinaus verlangt neue Wege.
In diesem Ergebnis deutscher Geistesarbeit liegt einer der großen Marksteine menschlicher Entwicklung, und in grandioser Weise hat die deutsche Kultur ihren Markstein gesetzt. Unaufhaltsam aber fließt die Zeit, neue Bedürfnisse steigen in der reifer und reifer werdenden Menschenseele auf, und wie ein Notschrei klingt es uns aus der Menschheit unserer Zeit entgegen. Kunst—Wissenschaft—Religion liegen im Streite, und das Schlachtfeld ist die Menschenseele, und die Menschenseele leidet.
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Wladimir Solovjeff weist neue Wege. Sie sind vielleicht schwerer als die alten, erfordern mehr Selbsterkenntnis, stellen größere Anforderungen an den Überblick und rasches Verbinden weit auseinanderliegender Erscheinungen, verlangen mehr innerste Selbstkritik. Dafür sind diese Wege aber geeignet, eine große Freiheit des Denkens, Objektivität und einen weiten Ausblick zu vermitteln. Der Zügel des Denkens ist nicht so straff angespannt, weiter schreitet der Gedanke aus, die Freiheit selbst des Irrtums ist größer, aber bei diesem weiten Überblick ist auch seine Korrektur gewichtiger, sicherer und vielseitiger wirkend.
Es seien hier in erster Linie Auszüge aus dem Werke des Fürsten Eugen Trubetzkoy, die Weltanschauung W. Solovjeffs, zwei Bände, und aus dem Buche E. E. Radloffs W. Solovjeff — sein Leben und seine Lehre, I. Band. Petersburg, Verlag Obrazobanie 1913, angeführt.
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Fürst Eugen Trubekoy war eng mit W. Solovjeff befreundet, und E. Radloff hat die zweite Auflage der Werke Solovjeffs redigiert und seinen Briefwechsel herausgegeben. Beide haben dem großen Toten persönlich nahegestanden, beide haben über ihn und sein Lebenswerk etwas zu sagen gehabt, und so wird auch aus dem Gesagten eine lebensvollere Note herausklingen als aus dem, was etwa ein abstraktes Resümee seines Schaffens zu geben vermöchte.
"In bezug auf die Lehren einer pessimistischen Weltanschauung", schreibt Fürst Eugen Trubetjkoy,
"besitzen wir die persönliche kategorische Erklärung unseres Philosophen, daß er am Ende der siebenziger Jahre, in der Zeitepoche, als die <Kritik der abstrakten Prinzipien> verfaßt wurde, sich in bezug auf Fragen rein philosophischen Inhaltes unter dem vorwiegenden Einflusse von Kant und zum Teil auch von Schopenhauer befunden habe."
"Für die Weltanschauung Solovjeffs ist dieser letztere Einfluß durchaus kein zufälliger, denn eine pessimistische Beziehung zu dieser Welt, wenn sie in ihrer Abgetrenntheit von Gott betrachtet wird, ist eine notwendige Voraussetzung des religiösen und im besonderen des christlichen Bewußtseins. Aber auch abgesehen von diesem gemeinsamen Zuge in der Begründung der Christlichen Lehre, daß <die Welt im argen liege>, finden wir bei Solovjeff viel direkt von Schopenhauer Entlehntes.
Ebenso wie Schopenhauer, in denselben Ausdrücken lehrt er, daß die Quelle des Bösen und des Leidens in der <Selbstbehauptung> des Willens zu suchen und die notwendige Bedingung der Erlösung eben die <Selbstverneinung> dieses Willens sei. Von Schopenhauer geht auch die Darstellung Solovjeffs über das Böse in der Natur als dem Chaos aus, das Sichabsondern aller und das allgemeine gegenseitige Sichvernichten.
In gleicher Weise wie dieser Philosoph stellt Solovjeff das Böse in der Welt dar — als die praktische Verneinung der Einheit aller Wesen. Es ist dabei nicht verwunderlich, wenn bei ihm Stellen vorkommen, die Schopenhauer als von ihm selber geschrieben anerkennen könnte.* In ein und derselben Tatsache sehen beide Philosophen den Ausdruck der Sinnlosigkeit alles Seienden — in der allgemeinen gegenseitigen Entfremdung und dem Widerstreite aller Wesen untereinander in ihrer Gegensätzlichkeit und Unvereinbarkeit. Für beide ist das Sinnlose und das Böse — ein und dasselbe."
* Siehe »Die geistigen Grundlagen des Lebens«, S. 68-69.
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"Die Berührungspunkte der Lehren Solovjeffs mit den Positivisten sind nicht so klar und fallen nicht sofort ins Auge."
"Jedenfalls hat er aber von den Positivisten das wertvolle Prinzip der Relativität alles menschlichen Erkennens angenommen, das eine so hervorragende Bedeutung in seinem System der Mystik besitzt*. Es ist nicht umsonst, daß er in der legten Periode seines Schaffens dem englisch-französischen Positivismus ein so großes Verdienst in der Befreiung des europäischen Gedankenlebens von den dogmatischen Fieberphantasien zuspricht."
"In eben derselben Weise macht sich Solovjeff die relative Wahrheit des Materialismus zu eigen. Er sieht in ihm nicht nur die natürliche und gesetzmäßige Reaktion gegen den einseitigen Spiritualismus, der die Selbständigkeit oder Realität des Stoffes verneint, sondern auch gegen den Hegelschen** Rationalismus. Gegen diese Lehren tritt er für die Rechte der <Materie> ein***.
Eine solche positive Bewertung des Stoffes, die Solovjeff mit den größten christlichen Mystikern des Westens gemeinsam zu eigen ist, ist wiederum nicht das Ergebnis einer einfachen Zufälligkeit, sondern sie wurzelt in dem eigentlichen Kernpunkte seiner philosophischen und im besonderen seiner religiösen Weltanschauung, denn sie ist mit seiner Lehre von der Fleischwerdung Gottes verknüpft. Er sagt:
<Wenn wir das Wirken der Gottheit nur auf das moralische Bewußtsein des Menschen beschränken, so verneinen wir seine Fülle und seine Unbegrenztheit, so glauben wir nicht an Gott. Wenn wir wirklich an Gott glauben als an das Gute, das keine Grenzen kennt, so müssen wir auch notwendigerweise die objektive Fleischwerdung Gottes anerkennen, das heißt seine Vereinigung mit dem Wesen unserer Natur selbst, nicht nur dem Geiste, sondern auch dem Stoffe nach
* Siehe <Die philosophischen Grundlagen einer einheitlichen Erkenntnis>.
** Siehe »Krisis der westlichen Philosophie«.
*** Siehe »Zwölf Vorlesungen über das Gottmenschentum«, Bd. III der Ausgew. Werke. Der Kommende Tag A.G. Verlag, Stuttgart.
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und dadurch auch mit den Elementen der äußeren Welt. Das heißt aber anerkennen, daß die Natur dazu fähig ist, eine solche Verkörperung der Gottheit in sich aufzunehmen, das heißt an die Erlösung, Heiligung und Vergottung der Materie glauben. Mit I dem wirklichen und vollkommenen Glauben an das Göttliche kehrt uns nicht nur der Glaube an den Menschen, sondern auch der Glaube an die Natur zurück>'." *
(Trubetzkoy, Band I, S. 45-47.)
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"Alle diese Elemente", fährt Fürst Trubetzkoy an anderer Stelle** fort, „des westeuropäischen Gedankenlebens, auf die ich hingewiesen habe, hatte sich Solovjeff vollkommen bewußt zu eigen gemacht. Sei es, daß es sich um Schopenhauer, Comte, Feuerbach oder Kant oder gar Hegel handelt, — er gibt sich vollkommen klar darüber Rechenschaft, was er diesen Denkern schuldig ist. Darum ist er in seiner Beziehung zu ihnen auch vollkommen frei. Obgleich er von ihnen dieses oder jenes Element in sein Denken aufnimmt, hält er sich doch mehr oder weniger offenkundig abseits von ihnen."
"Hiermit ist auch zugleich notwendig, auf die Einflüsse hinzuweisen, die, wenn auch nicht ganz unterbewußt, jedenfalls aber nicht vollkommen bewußt, dafür aber um so macht« voller vorhanden sind. Parallel mit dem Kampf gegen die negativen Strömungen der westlichen Philosophie geht bei Solovjeff die Aneignung ihrer positiven Lehren — der deutschen Mystik und der Gedankenwelt Schellings. Aus Solovjeffs Briefwechsel erfahren wir, daß er schon im Jahre 1877 nicht nur mit Paracelsus', Böhmes und Swedenborgs Schriften vertraut war, sondern daß er sie auch als ,rechte Leute', als die Vorläufer seiner eigenen Lehren ansah."
"Die Bestätigung seiner eigenen Ideen fand er auch bei anderen weniger bekannten Mystikern, den Schülern Jakob Böhmes, die persönliche mystische Erfahrungen besaßen, 'fast eben dieselben' wie er selbst. Was aber wichtiger ist als alles — in
* Siehe »Drei Reden zum Andenken Dostojewskys«. Aus dem Russischen von H. Köhler. Der Kommende Tag A.G. Verlag, Stuttgart.
** Siehe Trubetzkoy, Band I, S. 50-51.
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ihnen sah er die Vorläufer seiner eigenen Lehre über die 'Sophia', die für ihn von allerwichtigster Bedeutung war. Obgleich Baader nicht angeführt wird, so genügt schon ein Vergleich der mystischen Anschauungsweise unseres Philosophen mit den Schöpfungen dieses großen, wenn auch noch wenig bekannten deutschen Denkers, um sich davon zu überzeugen, daß zwischen ihm und Solovjeff eine enge Verwandtschaft besteht und zwar nicht in diesen oder jenen vereinzelten Gedanken, sondern in den Grundlagen selbst ihrer Weltanschauung."
Über diesen mystischen Grundzug im Denken und Empfinden Solovjeffs spricht sich E. Radloff in nachstehender Weise aus:*
"Seine mystische Stimmung und Intuition führten Solovjeff zum Glauben an Gott und Christus. Das lebendige Empfinden Gottes, A, das er ohne Aufhören hatte, war weder logischen Bestimmungen noch Beweisführungen zugänglich. In ganz anderer Weise stand es mit seinem Glauben an Christus. Hier hatte er eine konkrete historische Tatsache vor sich, die untersucht und vernunftgemäß auseinandergesetzt werden konnte. Mystische Intuition und das Bestreben, die christliche Lehre vernunftgemäß zu erfassen, fanden gleicherweise ihre Befriedigung. In diesen beiden Richtungen bewegte sich auch alles Schaffen Solovjeffs, nämlich in Untersuchungen der historischen Tatsache des Christentums, seiner Vorbereitung und Entwicklung und in der vernunftmäßigen Verallgemeinerung dieser Tatsache und aller Folgerungen, die aus ihr gezogen werden können."
"Welche der beiden Seiten des Schaffens W. Solovjeffs erweist sich nun als die bedeutendere und fruchtbarere? Diejenige, die in der 'Geschichte und Zukunft der Theokratie' und in 'La Russie et l'eglise universelle' zum Ausdrucke kommt — Arbeiten, die dazu bestimmt sind, die geschichtliche Seite des Christentums klarzulegen, oder jene, die in den 'Geistigen Grundlagen des Lebens' und in der 'Rechtfertigung des Guten' zutage tritt, das ist in den Werken, die das religiöse und moralische Leben des Menschen abstrakt behandeln?
* Radloff : "Solovjeff, sein Leben und seine Lehre", S. 264-265.
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Wie wertvoll auch die Werke der ersten Kategorie sein mögen, so liegt ihre Bedeutung doch auf dem theologischen und geschichtlichen Gebiete der Kirche, und wir unterfangen uns nicht, darüber ein Urteil zu fällen, inwieweit die russische theologische Wissenschaft damit zu rech« nen haben wird. Was aber die Werke der zweiten Kategorie anbetrifft, nämlich die philosophischen Arbeiten, so sind sie wohl mit den theologischen Arbeiten eng verknüpft, aber ihre Bedeutung unterliegt keinem Zweifel.
Von den drei Teilen des Systems Solovjeffs — der Theosophie, Theokratie und Theurgie — ist nur ein Teil, die Theokratie, vollständig abgeschlossen, und gerade in diesem Teile finden wir eine ganze Reihe äußerst wertvoller, entwicklungsfähiger Gedanken. Erstens halten wir das Universelle, das dem Begriffe der Moral beigelegt ist, für ungeheuer bedeutungsvoll; — sie soll nicht nur die Menschen untereinander verbinden, sondern auch die Verbindung mit der Natur und der äußeren Welt herstellen; auf dem Gebiete des rein Menschlichen kommt das Universelle der Moral darin zum Ausdruck, daß ihr die Erscheinungen des wirtschaftlichen, sozialen und staatlichen Lebens in gleicher Weise untergeordnet sind."
"Zweitens ist der Versuch als sehr fruchtbar zu begrüßen, der auch die natürlichen Anlagen des Menschen, seine Psyche, von dem Lichte dieses Prinzipes aus betrachtet. Vielleicht ganz besonders bemerkenswert ist der originelle Gedanke, daß das Gefühl der Scham — diese charakteristische Besonderheit der menschlichen Seele — den Menschen über das Sinnliche erhebt und durch das Denken in das Gewissen umgewandelt ein führendes Prinzip seiner Tätigkeit wird."
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In dem vorliegenden Buche sind zwei bedeutende Schriften Solovjeffs, »Die geistigen Grundlagen des Lebens« und die »Drei Gespräche«, gebracht worden. Die »Sonntags- und Osterbriefe« wurden hinzugefügt, da sie am besten das Umfassende der Ideenwelt und des Interessenkreises Solovjeffs wiederzugeben vermögen und weil er sie selbst eine notwendige Voraussetzung der »Drei Gespräche« genannt hat.
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"In den <Drei Gesprächen> hat er in prophetischer Schauung das geistige Antlitz Rußlands erkannt", sagt Fürst Eugen Trubetzkoy* über dieses reifste Lebenswerk Solovjeffs:
"In einer kurzen, so nebenher gemachten Bemerkung hat er darüber mehr gesagt, als in den zahlreichen Werken seiner vorhergehenden Lebensepoche. In einem klaren künstlerischen Bilde macht er das offenbar, was früher weder seine Theorien noch die Theorien anderer erfassen und zum Ausdruck bringen konnten."
"In den Drei Gesprächen ist auch nicht die Spur einer Andeutung vorhanden von einem Volke als Gottesträger, dafür sind aber drei Äste da am einigen Stamme des Baumes der Christenheit, die sich notwendigerweise ergänzen, indem sie alle in gleicher Weise das Kommen des wahren Messias vorbereiten. Es gibt ein Christentum des Petrus oder ein römisches, ein Christentum des Paulus oder ein protestantisches und ein Christentum des Johannes, das rechtgläubige russische Christentum. Doch keine dieser christlichen Lehren erschöpft in ihrer Sonderheit die Wahrheit, sondern alle drei zusammen besten gemeinsam als ein einiges, weltumfassendes Christentum diese Wahrheit in ihrer ganzen Fülle. Das russische Volk, das in dem Ältesten Johannes dargestellt ist, ist hier nicht in höherem Maße das Messiasvolk als Italien, das Vaterland des Simone Bargionini, und als Deutschland, das der Welt den Professor Pauli schenkte. Hier ist der kühne Gedanke, Rußland allein werde die ,große Synthese' eines weltumfassenden Christentumes vollziehen, schon aufgegeben. Diese Synthese vollzieht sich in den 'Drei Gesprächen' nicht durch irgend ein Volk, sondern durch alle Völker im Christus, der vom Himmel zur Erde herniederkommt."
"Für Rußland ist dieses scheinbare Herabsteigen von seinem Piedestal ein ungeheurer Vorteil. Gerade weil ihm die phantastische Aureole eines <Gesamtmenschentumes> genommen wird, treten jetzt in der Darstellung der <Drei Gespräche> die unzweifelhaften, echten Züge seines Volkstumes hervor.
* Fürst E. Trubetzkoy. <Die Weltanschauung Solovjeffs>, Band II, S. 326.
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Das Russische und das Christliche werden hier nicht als ein und dasselbe hingestellt, denn Rußland verwirklicht auf Erden nicht die Vereinigung der ganzen christlichen Welt, sondern nur eine notwendige Eigenart im Christentume. Es ist das — mystische Christentum, das im Bilde des nicht sterbenden Apostels Johannes dargestellt wird, des Johannes, der das Christentum der apokalyptischen Offenbarung ist mit seinen Gesichten vom Geheimnisse des fleischgewordenen Wortes, vom Geheimnisse des im Christus vergotteten Menschen und der schon aus diesem Grunde nicht sterben kann.
Solovjeff denkt wie früher, daß die Kirche des Ostens die Kirche der Überlieferung sei; jetzt aber erkennt er, worin das Leben dieser Überlieferung, worin jenes unsterbliche, ewige Wort besteht, das das rechtgläubige Rußland der Welt zu sagen haben wird. Nicht die alten Symbole, die alten Lieder und Gebete, die Heiligenbilder und das Ritual des Gottesdienstes machen die Seele dieser Überlieferung aus.
Für das Christentum, das seit Jahrhunderten vor allem die unmittelbare mystische Vereinigung mit dem Christus, seine unmittelbare Anwesenheit in den Sakramenten und seine unmittelbare Oberhoheit behauptet hat, dem ist natürlich das Allerteuerste im Christentums der Christus selbst, — Er selbst, und alles was von Ihm kommt, denn wir wissen, daß in Ihm alle Fülle der Gottheit lebt." *
"<Die Leibhaftigkeit des Göttlichen> im Christus, das ist in wenigen Worten der ganze Wesenskern unseres mystischen Christentumes, der Gegenstand der Anbetung jener Heiligen, die das geistige Antlitz Rußlands schufen, der Einsiedler auf dem Berge Athos, die ihr Leben der Anschauung des 'ewigen Lichtes', der Verklärung Christi weihten — und es ist zugleich das, was die russischen Künstler und Denker, erfüllt von der Sehnsucht, dieses Licht in unserem sozialen Leben verwirklicht zu sehen, suchten."
„Sobald diese Aufgabe außerhalb der schiefen Ebene des politischen Lebens in einem höheren, über den Staat und das gewöhnliche Leben hinausführenden Gebiete wirklich vorhanden ist — kann der Glaube an diese Aufgabe durch keine äußeren Prüfungen erschüttert werden.
* Siehe »Drei Gespräche«. Eine kurze Erzählung vom Antichrist.
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Welcher Art auch immer jene Leiden, Erschütterungen und selbst Katastrophen sein mögen, die uns die Zukunft bringen wird, Rußland wird dennoch seine Bestimmung erfüllen, seine höhere religiöse Opfertat vollbringen, sei es selbst auf den Trümmern des russischen Staates — das ist der Glaube, den prophetische Worte dem Leser auf den letzten Seiten der <Drei Gespräche> verkünden."
Und weiter im zweiten Bande seines Buches über Solovjeff weist Fürst Eugen Trubetzkoy auf die Vorgefühle hin, die in bezug auf eine kommende große, vielleicht morgen schon hereinbrechende Katastrophe der Menschheit in seiner Seele lebten und die er am Schlusse des »Dritten Gespräches« in der »Erzählung vom Antichrist« in grandiosen Bildern vor uns hinmalt.
Als Solovjeff — schon ein Sterbender — auf der Besitzung seines Freundes, des Fürsten Sergius Trubetzkoy, der ihm bald nachfolgen sollte, sich mit diesem unterredete und unter anderem auch über die letzten Ereignisse in China sprach, sagte er, um seine Ansicht über diese Ereignisse befragt:
"Meine Ansicht davon ist, daß alles zu Ende ist; jede große Richtungslinie der Weltgeschichte, die in die alte, mittlere und neue geteilt wurde, sie ist zu ihrem Abschluß gelangt..... Die Professoren der Weltgeschichte sind überflüssig geworden..... Der Gegenstand, über den sie vortragen, hat für die Gegenwart seine lebendige Bedeutung verloren, es wird von nun an nicht mehr möglich sein, über den Krieg der weißen und roten Rose zu sprechen. Das ist alles vorbei! ....
Aber mit welcher moralischen Bürde auf ihren Schultern gehen die Völker Europas dem Kampfe mit China entgegen! .... Ein Christentum ist nicht vorhanden, von Ideen ist soviel da, wie zur Zeit des trojanischen Krieges, nur waren es damals junge starke Helden, die gegen den Feind zogen, und heute sind es schwächliche Greise." *
* Fürst Sergius Trubetjkoy: „Der Tod W. Solovjeffs", Band I, S.346.
** Fürst Eugen Trubetjkoy: „Die Weltanschauung Solovjeffs", Band II, S. 300-301.
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"Charakteristisch ist es", so fährt Fürst Eugen Trubetzkoy in seinem Berichte fort,**
"daß diese Verzweiflung an der Zukunft der Weltentwicklung bei Solovjeff verbunden ist mit der Vorstellung eines Unwetters, das vom fernen Osten herzukommen droht. Schon im Jahre 1890 sah der Philosoph die gelbe Gefahr voraus und wies darauf hin, daß sie nicht an und für sich, sondern infolge jenes inneren Zersetzungsprozesses, der sich in der christlichen Welt vollziehe, so furchtbar sei."
"Der Gegensatz zweier Kulturen", sagt W. Solovjeff,
"der chinesischen und der europäischen — führt eigentlich zum Gegensatze zweier allgemeiner Ideen, der Idee der Ordnung einerseits und der Idee des Fortschritts andererseits. Beim historischen Zusammenstoße dieser Gegensätze kann Europa nur in jenem Falle siegen, wenn es der Idee treu bleibt, die den Sinn seines Daseins ausmacht. Aber gerade diese Bedingung tritt im gegenwärtigen Verstandesleben der europäischen Völker nicht offenkundig und klar zutage. In den vorherrschenden Begriffen unserer Gegenwart ist der <Fortschritt> in einen ungeordneten und sinnlosen Wechsel historischer Momente verwandelt, die untereinander durch kein einziges einigendes Prinzip verbunden sind.
In dem üblichen Begriffe des Fortschrittes ist das nicht vorhanden, was fortschreitet, denn es ist nicht eine einige Menschheit, sondern es ist nur eine zersplitterte Reihe aufeinanderfolgender Geschlechter vorhanden, und die Gegenwart verneint die Vergangenheit, um in der Zukunft ebenso verneint zu werden. Der fortschrittliche Gedanke der Gegenwart in Europa hat sein Ideal verloren, denn er glaubt nicht an den absoluten Sinn der Welt und folglich auch nicht an das absolute Ziel der Vollkommenheit. Diese innere Hohlheit des üblichen Begriffes der Fortschrittsidee erregte in Europa eine Enttäuschung über diese Idee selbst. Die prinzipienlose Reaktion unserer Tage sucht selbst, anstatt den Fehler der eingebildeten Fortschrittler gutzumachen, für Europa die Rettung in den Prinzipien des Chinesentumes, im absoluten Kultus der Vergangenheit, in der ausschliefe liehen Sorge dafür, daß die von allen Seiten schon untergrabene traditionelle Ordnung aufrecht erhalten werde, die in ihren zufälligen Gestaltungen alle innere Kraft verloren hat."
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Diese »Chinesierung Europas« ist in den Augen Solovjeffs das drohendste Symptom der herannahenden Gefahr. Er sagt in seinem Aufsatze »China und Europa« (Band II der russischen Ausgabe):
"Das chinesische Ideal enthält für den Chinesen das Prinzip der Kraft, für den Europäer wäre es der Beginn seiner Schwäche und seines Unterganges. Die Aneignung dieses Ideals wäre für uns Selbstverneinung im schlimmen Sinne dieses Wortes, das heißt der Verzicht auf das eigene Gute, der Verzicht auf unser Christentum. Ein solcher Verzicht ist aber gleichbedeutend dem vollen Verluste der Ursächlichkeit unseres historischen Daseins selbst."
Wie in einer großen Übersicht geht das Weltenbild, die Menschheitsgeschichte und die geistigen Einwirkungen, die zu den verschiedenen Zeiten sich in den Kulturen geltend gemacht haben, vor unseren Blicken auf, wenn wir einmal versucht haben, mit den Augen Solovjeffs die Dinge anzusehen, mit seinen Maßen zu messen, und immer größer werden die Gesichtspunkte, von denen aus die Dinge betrachtet werden, weil aus dem Sinne des Weltganzen heraus die Gründe auch für die einzelnen Tatsachen geholt werden können.
Die Frage zum Beispiel, ob es einen historischen Christus gibt oder nicht, wird gewaltig an Wichtigkeit verlieren, denn es wird sich jeder die Sache von einem ganz anderen Gesichtspunkte aus ansehen können. Er wird die Beweise und Gegenbeweise gar nicht mehr für in erster Linie wichtig halten, sondern sich etwa die Menschheit vorher und nachher ansehen und aus dieser Betrachtung heraus, wenn er sie ganz objektiv und ohne irgendwelche Voreingenommenheit auf sich wirken läßt, schon darauf kommen, daß da, am Anfange unserer Ära auf das <Nachher> etwas gewirkt haben muß, was aus dem <Vorher> nicht erklärt werden kann, was von außen gekommen sein muß, und zwar ein ganz Großes, das die denkbar größte Umwandlung der Menschheit bewirkt hat.*
* Der Gedanke ist aus einem Vortrage R. Steiners. <Christus und die geistige Welt>, Leipzig 1913.
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Solch ein Denken läßt sich gewinnen aus der Denkweise des russischen Philosophen, die bei der Besprechung der spanischen Inquisition* beispielsweise sich nicht in einer unfruchtbaren äußeren Darstellung dieser entsetzlichen Greuel verliert, sondern die vielmehr die Gründe dafür verstehend aufzuweisen sucht aus der Zeit, dem Charakter und der Abstammung dieses Volkes, die nicht an Spanien haften bleibt, sondern das ganze Europa umfassend die kausalen Zusammenhänge der damaligen Geschehnisse in einem großen Bilde vor uns hinstellt.
Zum Schlusse mag nur noch darauf hingewiesen sein, daß Solovjeffs ganzes Leben, wie seine Schriften es bezeugen, von einem Gedanken erfüllt, sein Wille einem großen Ziele zugewandt war: die Wiedergeburt und Befreiung der ganzen Menschheit durch die konkrete und reale Aufnahme der Christuswesenheit zu bewirken und diese wiedergeborene Menschheit in einer großen, freien, geistigen Weltkirche zu vereinigen.
"Nur das Gottmenschentum oder die Kirche, die auf innerer Einheit und einer alles umfassenden Vereinigung des offenbaren und des verborgenen Lebens nach der Ordnung des Reiches Gottes gegründet ist, nur die Kirche, die den Geist als das Wesentliche und Primäre bestätigt und die endliche Wiedergeburt des Fleisches verheißt, nur sie kann dem Menschen das Gebiet eröffnen, wo er die positive Verwirklichung seiner Freiheit oder die tatsächliche Befriedigung seines Willens findet.« (s. »Die Rechtfertigung des Guten«, Bd. VIII, S. Teil, Kap. 9 der russ. Ausg.**)
Wie eine Weltenmelodie tönen die Gedanken dieses Geistes an unser Ohr; aber wie eine Melodie, die nicht ausklingen, die ihren letzten Akkord noch nicht finden durfte. Und wie eine vorläufige Resignation, wie ein Verzicht mutet uns von diesem Gesichtspunkte aus sein früher Tod an. Diese Resignation aber, die wir zu fühlen vermeinen, sie hat durchaus nicht jenes Schmerzvolle an sich, das ihr sonst wohl eigen zu sein pflegt.
* »Osterbriefe: Nemesis«.
** Bd. II der deutschen Ausgabe der Ausgew. Werke, Verlag Der Kommende Tag AG., Stuttgart.
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Der Seherblick Solovjeffs, der in prophetischem Schauen apokalyptische Zukunftsbilder in den Rahmen der Erzählung zu bannen wußte, der sah auch, daß die Zukunft bringen werde, was die Gegenwart noch nicht geben darf. — Und so ist er fortgegangen von dieser Erde, ein besiegter Sieger, zu andern, unbekannten Ufern, wie er selbst es so ergreifend in einem seiner wunderbaren Gedichte zu sagen wußte:
Im grauen Morgennebel schreite ich
Geheimnisvollen, wunderbaren Ufern zu.
Die Morgenröte kämpft noch mit dem letzten Schein der Sterne,
Es schweben Träume noch im Raume, und erfaßt von Traumgebilden
Neigt sich zu unbekannten Göttern betend meine Seele.Kalt und klar ist nun der Tag — wie einstmals schon,
So schreit ich einsam hin in ferne, fremde Lande.
Der Nebel weicht, und klar erkennt das Auge,
Wie schwer zur Höh' hinan der Weg und wie so weit,
So weit noch alles, was als Ziel die Seele träumt.Doch bis zur mitternächtigen Stunde will ich mutig
Hin zu den heißersehnten Ufern wandern,
Wo auf dem Bergesgipfel unter neuen Sternen
In Siegesflammen licht erglühend
Mich mein verheißener Tempel grüßt.
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Harry Köhler zu Wladimir Solowjow