Nachwort
detopia-2024: aus dem "Kurzgulag"-1985
543-
Ich hätte dieses Buch nicht allein schreiben, sondern die einzelnen Kapitel unter sachkundigen Leuten aufteilen sollen. In gemeinsamer Redaktionsarbeit wären dann die Teile zu einem Ganzen abgestimmt worden.
Doch die Zeit dazu ist noch nicht gekommen. Und wem ich angeboten habe, einzelne Kapitel zu schreiben, hat abgelehnt und mir statt dessen einen mündlichen oder schriftlichen Bericht zur Verfügung gestellt. Warlam Schalamow habe ich vorgeschlagen, das ganze Buch gemeinsam zu schreiben, auch er hat abgelehnt.
Man hätte ein ganzes Büro, einen ganzen Stab gebraucht, hätte Presse und Rundfunk («Meldet euch!») einschalten und eine breite, offene Korrespondenz führen müssen, wie es Smirnow tat, als er die Verteidiger der Festung Brest-Litowsk suchte.
Nicht nur, daß ich diesen Aufwand nicht treiben konnte, ich war gezwungen, mein Vorhaben, meine Briefe, mein Material geheimzuhalten, zu zersplittern, und alles in tiefster Verborgenheit auszuführen. Um die Arbeit am Buch zu tarnen, mußte ich Beschäftigung mit anderen Dingen vorschützen.
Oft habe ich resigniert und wieder begonnen. Ich konnte mir nicht darüber klarwerden: Ist es meine Aufgabe oder nicht, dieses Buch zu schreiben? Und werde ich es durchstehen? Doch als zusätzlich zu dem gesammelten Material zahlreiche Häftlingsbriefe aus dem ganzen Land bei mir eintrafen - da gewann ich die Gewißheit: Wenn ich es bin, dem das alles gegeben wird, dann muß ich das Buch schreiben.
Es muß gesagt werden, daß dieses Buch kein einziges Mal vollständig, in allen Teilen, vor mir auf dem Tisch gelegen hat! Im September 1965, als die Arbeit zum Archipel in vollem Gange war, wurde mein Archiv überfallartig durchsucht und einer der Romane konfisziert.
Ich beschloß damals, die schon geschriebenen Teile des Archipels sowie die Unterlagen für die übrigen Teile zu zerstückeln und an verschiedenen Orten getrennt aufzubewahren. Ich wollte nichts riskieren, zumal in dem Buch viele Personennamen vorkommen. Um das Gedächtnis zu entlasten, schrieb ich die Stellen heraus, wo etwas zu verifizieren oder zu streichen war, und mit diesen Zettelchen fuhr ich von einem Versteck zum anderen. Gerade dieser hektische, unfertige Charakter des Buches ist wohl ein sicheres Zeichen unserer verfolgten Literatur.
Nehmt es, wie es ist.
Nicht deshalb habe ich die Arbeit an dem Buch eingestellt, weil ich es als abgeschlossen betrachte, sondern weil mir nicht mehr genug Leben übrigbleibt.
Ich bitte nicht nur um Nachsicht für die Mängel des Buches, ich möchte alle Freunde, die überlebt haben und den Archipel gut kennen, aufrufen: Sobald die Zeit kommt und euch die Möglichkeit gegeben ist, setzt euch zusammen und schreibt zu diesem Buch einen Kommentar: Korrigiert dort, wo es notwendig ist; ergänzt das, was notwendig ist (doch seht zu, daß es nicht zu umfangreich wird, vermeidet Wiederholungen). Erst dann wird das Buch abgeschlossen sein, helfe euch Gott!
Es verwundert mich, daß ich das Werk überhaupt so weit gebracht habe, daß ich mit ihm nicht zuschanden geworden bin. Mehrere Male habe ich den Zugriff erwartet.
Ich beende das Buch in einem bedeutsamen Jahr, in einem zweifachen Jubiläumsjahr (es besteht sogar ein Zusammenhang zwischen den beiden Jubiläen):
Im fünfzigsten Jahr nach der Revolution, die den Archipel hervorgebracht hat, und im hundertsten Jahr nach der Erfindung des Stacheldrahtes (1867).
Das zweite Jubiläum wird man wahrscheinlich übergehen...
544
27.4.1958 - 22.2.1967
Rjasan, Zufluchtsort
Ein Jahr danach
Ich habe mich damals beeilt, in der Annahme, daß ich durch die Detonation meines Briefes an den Schriftstellerkongreß wenn schon nicht umkommen, so doch die Freiheit zu schreiben und den Zugang zu meinen Manuskripten verlieren würde. Aber die Dinge entwickelten sich so, daß ich nicht nur unangetastet blieb, sondern in meinem Stand erstarkte. Und ich erkannte, daß ich die Pflicht hatte, dieses Buch zu Ende zu schreiben.
In der Zwischenzeit haben es einige Freunde gelesen und mir geholfen, wichtige Mängel zu erkennen. Es einem größeren Kreis zur Prüfung vorzulegen, habe ich nicht gewagt, und wenn die Umstände es einmal zulassen, wird es für mich zu spät sein. In diesem Jahr habe ich verbessert, was ich konnte. Wenn das Buch dennoch unvollständig ist, möge man mir keinen Vorwurf machen: Der Gegenstand ist unerschöpflich, und jeder, der mit ihm in Berührung gekommen ist oder über ihn nachgedacht hat, wird etwas hinzufügen können, vielleicht sogar sehr Wertvolles.
Es gibt jedoch ein Gesetz des Maßes. Der Umfang des Buches hat bereits eine Grenze erreicht — einige Körnchen mehr, und der Felsen bricht auseinander.
Daß ich mich mitunter ungenau und unglücklich ausgedrückt, mitunter in meinen Urteilen geirrt, manches wiederholt oder zu locker miteinander verbunden habe — dafür bitte ich um Verzeihung. Denn ein ruhiges Jahr ist mir doch nicht beschieden gewesen, und in den letzten Monaten glühte wieder der Boden unter mir. Selbst bei dieser letzten Redaktion habe ich das Buch kein einziges Mal komplett vor mir liegen gehabt.
Es ist noch nicht die Zeit gekommen, um die Namen aller jener dem Papier anzuvertrauen, ohne die das Buch nicht geschrieben, nicht verbessert, nicht bewahrt worden wäre. Sie wissen es selbst. Ich grüße sie.
545
Roschdestwo an der Istja,
Mai 1968
#