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Nachwort  1972

Oswald Spengler in unserer Zeit 

Von Anton Mirko Koktanek (*1919 bis 1978, 59)

  dnb Person        DNB.Koktanek     qwant Koktanek  

1250-1269

Die erste Taschenbuchausgabe von Spenglers <Untergang des Abendlandes> erscheint 50 Jahre nachdem Spengler zugleich mit dem zweiten Band den überarbeiteten ersten und somit das ganze Hauptwerk veröffentlicht hat und 60 Jahre nach dessen Konzeption.1 Das Buch sollte Epoche machen, es hat zumindest Furore gemacht.2  

Es provozierte einen heute noch fortdauernden Geistesstreit, dessen erste und zweite Etappe Manfred Schröter in einer kontrapunktisch gebauten Metakritik zusammengefaßt hat; die dritte harrt noch der angemessenen Auswertung.3 Dabei wird zunehmend in die Betrachtung der erst zum Teil veröffentlichte wissenschaftliche Nachlaß Spenglers einbezogen werden: er ermöglicht einen vertieften Einblick in die psychologischen Gründe des Spenglerschen Entwurfs, und er zeigt, daß Spengler ihn selbst revidieren und überschreiten wollte in Richtung auf ein umfassendes System der Weltgeschichte.4

Was immer an philosophischen, politischen und historischen Einwänden gegen Details wie gegen das Ganze seines Systems vorgebracht werden mag — Spengler räumte ein, "daß es sich um einen ersten Versuch handle, mit allen Fehlern eines solchen behaftet, unvollständig und sicherlich nicht ohne inneren Widerspruch ... eine sehr unvollkommene Mitteilung",5 und appellierte an das Gericht der Wirklichkeit —, nur die Tatsachen können es bestätigen oder widerlegen.

1)  Dezember 1922: "Der Titel, seit 1912 feststehend, bezeichnet in strengster Wortbedeutung und im Hinblick auf den Untergang der Antike eine welthistorische Phase vom Umfang mehrerer Jahrhunderte, in deren Anfang wir gegenwärtig stehen." Untergang des Abendlandes, S. X. Keimzelle des Werks war ein durch die Agadir-Krise 1911 angeregter Aufsatz "Konservativ und liberal", s. Untergang des Abendlandes, S. 65, und Philosophische Schriften, S. VI; zur Werkgeschichte: Koktanek, Oswald Spengler in seiner Zeit, München 1968, S. 128ff. 
2)  Untergang des Abendlandes, S. X. 
3)  Manfred Schröter, Der Streit um Spengler, München 1922; ders., Metaphysik des Untergangs, München 1949; in Vorbereitung: Anton Mirko Koktanek, Das triadische System Oswald Spenglers: Philosophie — Politik — Geschichte. 
4)  Oswald Spengler, Urfragen, München 1965; ders., Frühzeit der Weltgeschichte, hrsg. v. Anton Mirko Koktanek, München 1966. 
5) Untergang des Abendlandes, S. VII ff. 

Spengler verflicht Anamnese der Geschichte, Diagnose seiner Zeit und Prognose des für ihn Künftigen.

Uns interessiert zwei Menschenalter nach der Geburts­stunde seines Entwurfs, nach zwei Weltkriegen, den großen sozialistischen Revolutionen in Rußland und China, nach der Epoche des Faschismus und in einer Epoche des Versuchs weltpolitischer Koexistenz die Futurologie Spenglers. Wie liest er sich in unserer Zeit? Denn seine Zukunft ist unsere Gegenwart. 

Die Menschheit ist in die Epoche der Weltzivilisation eingetreten. Weltgeschichte, bislang eine regulative Idee, wird im Kontext mit Weltwirtschaft und Weltpolitik zur Wirklichkeit. Die einzelnen Kulturen, in Gebieten erwachsen, die jahrtausendelang durch Räume geringer Verkehrsleitbarkeit getrennt waren, schießen zu einem Wirkungsgesamt zusammen. Durch die Dynamik der weltlichen Dreifaltigkeit — rechenhafte Wissenschaft, rechenhafte Technik, rechenhafte Wirtschaft — wird unser Planet zu einem "neuen Stern" (Alfred Weber), zu einer "Fähre im Kosmos" (Roger Garaudy).

 

Im globalen Wandlungsprozeß zeichnen sich unverkennbare Triften ab: Die springflutartige Zunahme der Erdbevölkerung, eine Völkerwanderung von unten, wirft die Fragen nach der Ordnung wie nach der Versorgung der Massen auf, besonders im Hinblick auf das wachsende Mißverhältnis zwischen der Kopfzahl der Menschheit (z. Zt. 3,6 Mrd.) und der Nahrungsmitteldecke der Erde.6) Dabei verschiebt sich das Spektrum zuungunsten der hochindustrialisierten Völker. Hier Geburtenrückgang oder doch Gleichgewicht durch "Familienplanung"; dort Bevölkerungsexplosion, die das Substrat einer möglichen "farbigen Weltrevolution" schafft.7)  

Die Schwerpunkte der politischen Macht wandern von Europa in die Kontinente der Massen. Bewußtseinswandel und Selbstwerdung einer Dritten Welt voller ungehobener Möglichkeiten und ungeklärter Tendenzen stellen das Führungsmonopol der weißen Rasse - Europa, USA, UdSSR - in Frage.

6)  Die Prognosen weichen selbstverständlich voneinander ab. Bis zum Jahr 2000 dürfte sich die Erdbevölkerung etwa verdoppeln, bis 2070 verdreifachen oder gar vervierfachen. Vgl. Wilhelm Fucks, Formeln zur Macht, Stuttgart 1965, und Dennis L. Meadows, Die Grenzen des Wachstums, Stuttgart 1972.
7)  Untergang des Abendlandes, S. 679 ff., und Jahre der Entscheidung, S. 158 ff.


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"Die Tragweite dieser Verschiebung des politischen Schwergewichts ist zuerst in Moskau begriffen worden. In Westeuropa begreift man sie noch heute nicht. Die weißen Herrenvölker sind von ihrem einstigen Rang herabgestiegen. Sie verhandeln heute, wo sie gestern noch befahlen, und werden morgen schmeicheln müssen, um verhandeln zu dürfen. Sie haben das Bewußtsein der Selbstverständlichkeit ihrer Macht verloren und merken es nicht einmal. Sie haben in der <Revolution von außen> die Wahl der Stunde aus der Hand gegeben, an Amerika und vor allem an Asien, dessen Grenze heute an der Weichsel und den Karpaten liegt."8 

Dergleichen Sätze liest man nicht ohne Nachdenklichkeit angesichts der Verstrickung der USA in Vietnam und des ersten Besuchs eines amerikanischen Präsidenten in China.

Europas Rückzug aus der Weltherrschaft, die Möglichkeit; daß dieser Erdteil vom Subjekt zum Objekt weltgeschichtlicher Entscheidungen wird, spiegelt sich in einem Identitätsverlust des europäischen bzw. abendländischen Selbstbewußtseins. Der Untergang des Abendlandes ist strittig, der Untergang des Begriffes Abendland hat schon begonnen. Das Wort verschwindet immer mehr aus der Diskussion, ein Vorgang von symbolischer Bedeutung. An seine Stelle treten die Bezeichnungen Europa oder auch Westliche Zivilisation, die beide nicht mit dem Begriff Abendland identisch sind, weder in seiner herkömmlichen, die Antike als Ursprung und Erbe umschließenden, noch in seiner engeren Spenglerschen Bestimmung, welche im Abendland ein genaues Gegenstück der Antike erblickt. Bei Spengler heißt es noch: 

"Das Wort Europa sollte aus der Geschichte gestrichen werden. ... Es war allein das Wort Europa mit dem unter seinem Einfluß entstandenen Gedanken­komplex, das Rußland mit dem Abendlande in unserm historischen Bewußtsein zu einer durch nichts gerechtfertigten Einheit verband. .... Orient und Okzident sind Begriffe von echtem historischem Gehalt. <Europa> ist leerer Schall."9

Was aber ist bei Spengler Orient

Das deutsche Wort Abendland, in Analogie zu Luthers Prägung Morgenland (Matth. 2,1) gebildet, setzt das Vorhandensein zweier korrelierender und konkurrierender Kultursysteme voraus. Das antithetische Begriffspaar Abendland und Morgenland entspricht dem lateinischen occidens und oriens (gebräuchlich im Mittelalter und in der römischen Antike) wie den griechischen Begriffspaaren hesperia und anatole bzw. europe und asia.

8)  Oswald Spengler, Jahre der Entscheidung, S. 163.
9)  Untergang des Abendlandes, S. 22.


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Spengler hat den Begriff Abendland eingeschränkt: räumlich auf die Landschaften zwischen Ebro und Weichsel, zeitlich auf das Jahrtausend von etwa 900 an; er hat ihm damit zugleich ein physiognomisch einheitliches Relief gegeben und ihm Kraft entzogen: er hat ihm den korrespondierenden Gegenwurf eines Morgenlandes genommen, und er hat sein Abendland von der Antike isoliert, die bislang als unsere Vorwelt galt.

Er hat unser Schicksal der römischen Kaiserzeit analogisiert; in seiner Eingrenzung und Festschreibung des Begriffs Abendland ist Limes-Mentalität am Werk, ein Ruch von Einigelung und Rundumverteidigung, ein sich offensiv gebendes Defensivdenken. Das schwindende Identitätsbewußtsein einer Kultur mißtraut der Überzeugungskraft der eigenen Werte und Argumente und baut statt dessen auf die Überwältigungskraft technischer, militärischer, politischer Mittel. Dieser Rekurs von den besseren Gründen zu den stärkeren Kräften ist gewissermaßen die Tiefenpsychologie des Imperialismus. Konsequenterweise bekennt Spengler: "Ich lehre hier den Imperialismus .... Imperialismus ist reine Zivilisation."10) Cecil Rhodes' Wort "Ausdehnung ist alles enthält .... die eigentlichste Tendenz einer jeden ausgereiften Zivilisation".11)

Aber Spenglers politisches Rezept, ein Imperium Germanicum,12 erweist sich als unpraktikabel. Das Abendland hat nie die Hegemonie einer seiner rivalisierenden Mächte geduldet. Ludwig XIV. und Napoleon sind ebenso gescheitert wie Wilhelm II. und Hitler. England hat zwar im einstigen Kolonial­bereich das größtmögliche Imperium organisiert, aber es stand nie alleinherrschend und unangefochten da; darüber hinaus mußte sich das Empire zum Commonwealth umbilden, und dieses ist einem fortschreitenden Verschleiß unterworfen. Daß Deutschlands Potential für die ihm von Spengler zugedachte Aufgabe niemals ausgereicht hätte, haben zwei Weltkriege unwiderleglich bewiesen.

10)  Untergang des Abendlandes, S. 51 ff. 
11)  Ebenda, S. 51 ff. 
12)  Briefe, S. 44.


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Bagby13) traut in interessanter Fortbildung des Spenglerschen Entwurfs den Vereinigten Staaten die Errichtung des abschließenden abendländischen Imperiums zu. Davon abgesehen, daß der Imperialismus im Bewußtsein der US-Amerikaner als verabscheuenswürdig gilt, schon eine Konflagration von der verhältnismäßig geringen Größenordnung des Vietnam-Krieges bringt die tiefgreifenden ideellen, sozialen und rassischen Gegensätze an den Tag, und ernstzunehmende Publizisten und Politiker sind davon durchdrungen, daß jeder größere Krieg, der nicht nachweislich nur zur Verteidigung der USA geführt würde, die Spaltung der Nation zur Folge hätte. Der positive Kern der Spenglerschen Lehre ist darin zu sehen, daß der Friede der Weltzivilisation nur durch Übereinkünfte der Supermächte gewährleistet ist.

 

In Erwähnung der Supermächte entdeckt man, daß Spengler mit seiner Imperialismustheorie, die einen eingehenden Vergleich mit der Leninschen nahelegt, zu Widersprüchen herausfordert, weil er Widersprüche in sich trägt, die nicht nur der bürgerlichen Gesellschaft eigene Widersprüche sind, sondern solche im realen Sachverhalt. Mit der Psychoanalyse des europäischen Imperialismus ist der Imperialismus keineswegs überwunden. Nur seine abendländische Form ist durchschaut. Der großmaßstäbliche Kampf gegen ihn trägt seine Farben. Vom Mond, vom Mars her gesehen, erscheinen die ideologischen Vorzeichen der Weltpolitik unerheblich. China redet von Sozialimperialismus, wenn es die Handlungsmaximen der Sowjetunion bezeichnet, und dürfte auf die große Politik Chinas der Begriff Imperialismus nicht angewandt werden? Alle Supermächte sind Imperien und führen ihre Politik gemäß dem rationalen Kalkül des Willens zur Macht.

"So sehr der heutige, noch wenig entwickelte Sozialismus sich gegen die Expansion auflehnt, er wird eines Tages mit der Vehemenz eines Schicksals ihr vornehmster Träger sein."14

13)  Philip Bagby, Culture and History. Prolegomena to the Comparative Study of Civilizations, Essex 1958.
14)  Untergang des Abendlandes, S. 51.


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Zur Widersprüchlichkeit Spenglers gehört, daß er in seiner Politik die Herrschaft des Abendlandes über die Dritte Welt fordert, diese zum Objekt herabsetzend, während er in seiner Historik nicht nur die kleinhäusige national­staatliche Geschichtsschreibung, sondern auch jegliche Europazentrik überwindet: "Wir denken heute in Erdteilen ... nur unsere Philosophen und Historiker haben es noch nicht gelernt." Ebenso lehnte er Dreistufen­ordnung und europazentrische Perspektivik ab: 

"Altertum — Mittelalter — Neuzeit: das ist das unglaubwürdig dürftige und sinnlose Schema ... (von unsinnigen Proportionen ...) Es beschränkt den Umfang der Geschichte, aber schlimmer ist, daß es auch ihren Schauplatz begrenzt. Hier bildet die Landschaft des westlichen Europa den ruhenden Pol ... — man weiß nicht warum, wenn nicht dies der Grund ist, daß wir, die Urheber dieses Geschichtsbildes, gerade hier zu Hause sind —, um den sich Jahrtausende gewaltigster Geschichte und fernab gelagerte ungeheure Kulturen in aller Bescheidenheit drehen ... Ich nenne dies ... Schema ... das ptolemäische System der Geschichte, und ich betrachte es als die kopernikanische Entdeckung im Bereich der Historie, daß in diesem Buch ein System an seine Stelle tritt, in dem Antike und Abendland neben Indien, Babylon, China, Ägypten, der arabischen und mexikanischen Kultur ... eine in keiner Weise bevorzugte Stellung einnehmen."15)

Auf der Suche nach großdimensionierten Subjekten einer möglichen Weltgeschichte kommt Spengler im "Untergang des Abendlandes" zu einer Revision der bisherigen Geschichte: des Stoffes, der Periodisierung und der Methodik. 

Georg Lukács sieht in dieser Generalrevision den Angriff gegen den konkreten Fortschrittsgedanken des historischen Materialismus. "Gegen den bürgerlichen Fortschrittsbegriff ... konnte die Rankesche Erhebung der Ideenlosigkeit zum Prinzip ... ausreichen." Die marxistische Demonstration der Folgerichtigkeit des dialektischen Vorlaufs der Gesellschaftsformationen zum sozialistischen Endziel kann durch den Imperialismus nur "wirksam bekämpft werden, wenn die Einheitlichkeit und Gesetzmäßigkeit des Geschichtsablaufs, der Entwicklung der Menschheit überhaupt geleugnet wird". 16)

15) Untergang des Abendlandes, S. 21-24.
16)  Georg Lukács, Von Nietzsche zu Hitler, Fischer Bücherei 784, S. 156 (entnommen aus: Georg Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, Luchterhand, Neuwied 1962).


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Lukács unterstellt Spengler, daß er den "Sozialismus", d.h. den Marxismus (den dialektischen und historischen Materialismus und seine politische Ökonomie) zu seinem Hauptgegner mache, ohne wissenschaftliche Kenntnis des Gegenstandes und in bewußter Relativierung aller Erkenntnis die Wissenschaft in Mythos umschlagen lasse, um dem Marxismus die logische Vermittelung zu bestreiten und den Imperialismus zum Sieg zu führen. "Weil Spengler diese Wendung am radikalsten angesprochen hat, hat sein Werk eine so starke und nachhaltige Wirkung erhalten; es ist repräsentativ für diese Etappe und ist zugleich ein wirkliches unmittelbares Vorspiel zur Philosophie des Faschismus."17

Spengler selbst hat sich mit einer nicht anzuzweifelnden subjektiven Ehrlichkeit zum Sozialismus bekannt, wobei freilich undeutliche und schwankend bleibt, was er darunter versteht. Bald bezeichnet er mit dem Wort den Marxismus, bald die Sozialdemokratie, bald eine "preußische" integrative Disziplin der gesamten Gesellschaft, symbolisiert durch die abständige Leitfigur Friedrich Wilhelm I. Siebenundzwanzigmal wird im "Untergang des Abendlandes'' von Marx und dem Marxismus gesprochen, bald anerkennend, bald ablehnend, nicht überzeugend informiert — hier ist Lukács Recht zu geben —, aber keineswegs so, daß man im Marxismus den Hauptgegner Spenglers erkennen könnte. 

"Es ist kein Zufall, daß aus der Schule Hegels der Sozialismus (Marx, Engels), der Anarchismus (Stirner) und die Problematik des sozialen Dramas (Hebbel) hervorgingen. Der Sozialismus ist die ins Ethische, und zwar ins Imperativische umgewandte Nationalökonomie. Solange es eine Metaphysik großen Stils gab, bis auf Kant, blieb die Nationalökonomie eine Wissenschaft. Sobald .Philosophie' gleichbedeutend mit praktischer Ethik wurde, trat sie an Stelle der Mathematik als Unterlage des Weltdenkens."18)

Lukács überzieht Spengler, nachdem er ihn ideologiekritisch eingeordnet hat, mit Schmähungen: auf 13 Seiten lesen wir an die hundertmal Imperialismus, faschistisch, aggressiv, oberflächlich, wertlos, nichtssagend, kriegshetzerisch, Senkung des Niveaus, Degradation der Wissenschaftlichkeit, Dilettantismus, Spielen, geistreiche Oberflächlichkeit, skrupellos, zynische Offenheit, kritiklose Verallgemeinerungen, reaktionäre Verzerrung, oberflächlich willkürlich, trivial gewordene Phrase, dekadente Belletristik, Pseudoobjektivität, oder, um zuletzt die bewußte feinschmeckerische Kirsche zu kredenzen:

17)  Ebenda, S. 150ff.
18)  Untergang des Abendlandes, S. 471.


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Lukács spricht davon, daß imperialistische Mythen mit Prätention auftreten, "während sie in Wirklichkeit nichts weiter sind als die Introjektion der Psychologie der parasitären Intelligenz der imperialistischen Periode in eine entsprechend zurechtgemachte, angeblich historische Wirklichkeit". 19)  Einen Adorno her, diesen Jargon strukturell zu analysieren!20)

Jede mit Schaum vor dem Mund auftretende Polemik legt die Frage nahe, ob die emotionale Überbesetzung nicht eine Argumentationsschwäche verdeckt. Läßt sich die marxistische Modifikation des Periodisierungsschemas Altertum, Mittelalter, Neuzeit durch "ihre wirkliche objektive Grundlage in den großen ökonomischen Formationen: Sklaverei, Leibeigenschaft, Lohnarbeit" überzeugend aus dem Stoff der Geschichte abstrahieren? Gibt es zureichenden Grund, durch Erweiterung ins Vorgeschichtliche und Vorgriff ins Künftige dieses Triptychon zum fünfteiligen Bild auszugestalten: Urgemeinschaft mit gemeinschaftlichem Eigentum an den Produktionsmitteln, Sklavenhalterordnung mit dem Klassengegensatz von Sklavenhaltern und Sklaven, Feudalordnung mit dem Klassengegensatz von Feudalherren und Leibeigenen, bourgeoise Ordnung mit dem Klassengegensatz von Kapitalisten und Lohnarbeitern und schließlich nach revolutionärem Übergang die klassenlose Gesellschaft mit gesellschaftlichem Eigentum? Ist dieser Prozeß empirisch überall auf Erden klärlich nachzuweisen?

 

Sehen wir davon ab, daß Existenz und Struktur einer klassenlosen Urgemeinschaft durch Prähistorie, Archäologie und Ethnologie nur unzureichend erfaßt werden können, daß das vorliegende Material in diesem Sinne keine überzeugende Sprache redet; sehen wir auch von der Frage ab, was die Urmenschheit vermocht haben könnte, den paradiesischen Zustand des Gemeineigentums und der Klassenlosigkeit aufzuheben durch den Sündenfall der Erfindung des Privateigentums an den Produktionsmitteln; verzichten wir endlich auch auf die Frage, ob in den bereits etablierten sozialistischen Gesellschaften irgendwo eine klassenlose Gesellschaft im Modell verwirklicht ist!

19)  Georg Lukács, Von Nietzsche zu Hitler, S. 158ff.
20)  Theodor W. Adorno, Jargon der Eigentlichkeit, Edition Suhrkamp 16.


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Befragen wir nur das Dogma: 

"Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen ... Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen."21

Nirgendwo ist die Sklavenhaltergesellschaft durch einen Sklavenaufstand gestürzt worden. Die Sklavenerhebungen der Antike sind alle gescheitert lange vor dem Untergang der Antike; in der Spätantike wurde die Sklaverei weitgehend durch das Kolonat verdrängt. Nirgendwo ist die Feudalgesellschaft durch einen Aufstand der Leibeigenen gestürzt worden. Die Bauernaufstände sind alle gescheitert (der Bauernaufruhr des Wattyler in England, die Jacquerien in Frankreich, der Große Bauernkrieg in Deutschland) lange vor der Aufhebung des Feudalabsolutismus. Das Bürgertum ist von Anbeginn keine unterdrückte, sondern eine mit Freiheiten ausgestattete Klasse gewesen. Fraglich ist, inwiefern die etablierten sozialistischen Gesellschaften durch Erhebungen der Arbeiterschaft geschaffen worden sind.

Bei näherer Prüfung erweist sich der historische Materialismus als konstruierte Geschichte vom Stamm der Hegelschen Konstruktion. Der Histomat ist eine bedeutende Interpretation von hohem Erklärungswert für das Verständnis ökonomischer, technologischer und soziologischer Zusammenhänge und revolutionärer Tendenzen, und er erlaubt eine genetische Definition der kapitalistischen Gesellschaftsstruktur. Hat die bürgerhch bestimmte späthumanistische skeptizistische Soziologie Jacob Burckhardts jeden zu untersuchenden Status konstruiert aus den historischen Potenzen Religion, Kultur, Staat und dabei die Wirtschaft (die Technik inbegriffen) souverän ignoriert, so behauptet der Marxismus den Primat der ökonomischen Basis, der gegenüber das Gesamt der Burckhardtschen Potenzen als ideologischer Überbau lediglich sekundären Charakter hat, ein Epiphänomen ist.22)

21)  Marx und Engels, Manifest der Kommunistischen Partei (1848), hier nach Fischer Bücherei 6061, S. 59.
22)  Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, Kröner, Stuttgart 1905.


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Das Verhältnis von Überbau und Basis ist eines der schwierigsten Probleme der marxistischen Historik, es äußert sich z. B. als Verhältnis von Kultur und Gesellschaft, Kunst und Klassenstruktur. Die marxistische Theorie unternimmt es, Kulturen und kulturelle Erscheinungen mit einem dazu unzureichenden Instrumentarium zu analysieren. Weder die Spontaneität noch die religiöse, ethische, ästhetische Qualität vermag sie kausalistisch zu erklären. Sie versagt auch vor der Tatsache der Pluralität und Diskontinuität der Kulturen als gesellschaftlich geistiger Systeme, welche gewisse Ablaufsgesetzlichkeiten zeigen.

Hier ist die Chance der Kulturmorphologie. Auch Spengler kann kulturelle Phänomene, Religionen, Dichtungen, Kunstwerke, Ethiken nicht erklären, desgleichen nicht Kultur überhaupt noch irgendeine seiner "Kulturen", weder ihren Ursprung noch ihre Eigenart. Er will es auch gar nicht. Sie sind Zufälle höheren Ranges, kausalistisch unableitbar, Reinentsprungnes. Spengler zitiert Goethe: "Man suche nichts hinter den Phänomenen, sie selbst sind die Lehre."

Lukács behauptet: 

"Die unmittelbare, die oberflächliche Polemik mag gegen das schulmäßige Schema der Dreiteilung gerichtet sein, mag die Entdeckung östlicher Kulturen, die tatsächlich ignoriert worden waren, als Argument anführen. Das sind Scheingefechte. Denn der historische Materialismus vermag auch deren Entwicklung ökonomisch zu erklären und die inhaltliche — freilich verschlungene — Bewegungsrichtung vom Urkommunismus zum Sozialismus aufzuzeigen. Dagegen richtet sich in Wahrheit die Polemik Spenglers."23

Den Beweis für seine Behauptung bleibt er schuldig. Jedes monokausale und eindimensionale System verfehlt den konkreten Pluralismus der Religionen, Gesellschaften und Kulturen. Vermöchte der historische Materialismus tatsächlich die Diskontinuität der großen Kulturen, ihre physiognomischen Eigenarten, die unabhängig von den ökonomischen Basen sich entfaltenden Weltreligionen und die zyklischen Ablaufsgesetzlichkeiten der Kulturen, ihre Verfallsepochen und das Faktum ihres Erlöschens, jenen nachweislich so oft wiederholten Rückfall in die Barbarei befriedigend zu erklären, so hätte dies die Kulturtheoretiker überzeugt; es wäre dann nicht Raum gewesen für Kulturmorphologen, Kultursoziologen und Kulturphilosophen, die zum Teil durch Spengler angeregt, zum Teil in Opposition gegen ihn ihre Kulturmodelle und Systeme entwickelt haben:

23)  Georg Lukács, Von Nietzsche zu Hitler, S. 156.


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Arnold J. Toynbee, Walter Schubart, Theodor Lessing, Nikolai Berdjajew, F. S. C. Northrop, Alfred L. Kroeber, Pitirim A. Sorokin, Arnold Gehlen, Hugo Fischer, Albert Schweitzer, Hans Freyer, Christopher Dawson, Alfred Weber, Carl Jaspers, Alois Dempf, Romano Guardini, Philip Bagby u. a. m.

 

Sie alle — bei weitgespannten Unterschieden des Ansatzes, der Betrachtungsweisen und Ordnungsformen — machen ernst mit der Geschichtlichkeit, Vergänglichkeit, Sterblichkeit und also Zeitlichkeit der geschichtlichen Formen. Sie haben vor dem Hintergrund eines schier endlosen Trümmerfeldes einst glanzvoller Städte, zum Nomadentum herabgesunkener Kriegervölker, nicht mehr geglaubter Religionen, unzugänglich gewordener Kunstwerke und sinnleer gewordener Einrichtungen und im Hinblick auf das eindringlichste Deklinationsbeispiel, den Untergang der Antike, in den Auflösungserscheinungen der westlichen Zivilisation den möglichen Untergang dieser unserer Gesittungsgemeinschaft diagnostiziert, viele mit der Hoffnung, durch Einsicht in die Gründe der Krise einen Weg zu ihrer Überwindung zu finden, Spengler konsequent von der Unerbittlichkeit des Fatums durchdrungen.

Unter dem eisigen zwingenden Anhauch seiner unaufhörlichen Angst, die sich reflektiert politisch als Sorge darstellt, psychologisch als Lebensangst und Todesangst, überkompensiert durch ein starres Willenstrotzdem (der er sich gelegentlich entzieht im Eskapismus der "freien" Phantasie), verdrängt Spengler die im gymnasialen Traditionalismus überbetonte Tatsache des Fortlebens vieler historischer Einzelprodukte und Einzelelemente, bedeutender Problemstellungen und Teilsysteme; seine Tapferkeit besteht im entschlossenen Memento mori

Der Marxismus hingegen verdrängt das Bewußtsein des Todes als Stigma des Historischen, um der Gattung Mensch eine innerweltliche Unsterblichkeit und Vollendbarkeit zuzusprechen als Grundlage für die diesseitige Verwirklichung eines erhofften Reiches der Gerechtigkeit, einer res publica, eines contrat social aus Freien und Gleichen; er setzt für die Gattung stillschweigend die potentio non mori voraus. 


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Der Marxismus, wie ihn Ernst Bloch aus der ursprünglichen kausalistischen Sageweise seiner Entstehungsepoche entbunden hat zu seiner Eigentlichkeit als finalistisches, zur Zukunft offenes System der Freiheit, lebt aus dem Prinzip Hoffnung.24) Spenglers Geschichtsmorphologie ist durchdrungen vom Prinzip Sorge als Objektivierung und Rationalisierung der Angst. Sein Werk ist, was er der ägyptischen Kultur nachrühmt, eine "Inkarnation der Sorge".25) Die Sorge ist ein Gefühl, das ein Wissen in die Ferne hinaus voraussetzt, um das, was kommen wird, wie die Reue ein Wissen um das, was war.26)

 

Optimismus und Pessimismus, die Prinzipien Hoffnung und Sorge, haben keinen Ort in der klassischen Historik Rankes, die methodisch von Gegenwart und Zukunft absehend nur ermitteln will, "wie es wirklich gewesen ist"; sie gewinnen ihren Sinn in Geschichtsbildern, die Orientierungshilfen für politisches Handeln sind. Ernst Bloch deutet den Kulturpessimismus ideologiekritisch als Ausdruck der hypostasierten Aussichtslosigkeit der bürgerlichen Klasse: 

"Primär lebt jeder Mensch, indem er strebt, zukünftig. ... das Zukünftige enthält das Gefürchtete oder das Erhoffte ... Funktion und Inhalt der Hoffnung ... wurden in Zeiten aufsteigender Gesellschaft unaufhörlich erlebt ... betätigt und ausgebreitet. Einzig in Zeiten einer niedergehenden alten Gesellschaft, wie der heutigen im Westen, läuft eine gewisse partielle und vergängliche Intention nur abwärts. Dann gibt sich Furcht als subjektivistische, Nihilismus als objektivistische Maske des Krisenphänomens .. .Die Ausweglosigkeit des bürgerlichen Seins wird als die der menschlichen Situation überhaupt, des Seins schlechthin ausgedehnt. Auf die Dauer freilich vergebens: das bürgerliche Leergewordene ist so ephemer wie die Klasse, die sich darin einzig noch ausspricht."27

24)  Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Suhrkamp, 3 Bde., 1968. 1954. 
25)  Untergang des Abendlandes, S. 16.
26)  Oswald Spengler, Der Mensch und die Technik, München 1931, S. 24.
27)  Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 1968, S. 3.


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Wenn der Gang der Epoche uns etwas lehren kann, ist es hinterfragende Kritik: Einsicht in die Willensgründe des Pessimismus ebenso wie Skepsis gegenüber einem Optimismus, der auf die Machbarkeit aller Dinge und auf die Vollendbarkeit des Menschen aus eigener Kraft vertraut. Die Hoffnung, die Natur des Menschen durch Veränderung des Gesellschaftssystems oder der Gesellschaftsphilosophie zu verändern, ist durch die geschichtliche Erfahrung nicht bestätigt worden. 

Die machtvolle Entwicklung aller Wissenschaften und die durchgehende Technisierung der "Erdumfangkultur" (Gehlen), das Bekenntnis der meisten Staatsführungen zu einem Kodex humanitärer Verpflichtungen und der Übergang großer Mächte zum Sozialismus hat die begründete Sorge um die Zukunft nicht etwa nur der bürgerlichen Klasse oder der westlichen Zivilisation, sondern der ganzen Menschheit nicht vermindert.

Prognostik (wie Historik überhaupt) umschließt stets eine bestimmte Anthropologie. Der historische Optimismus der Marxisten setzt voraus, daß man den Menschen für ein aus seiner eigenen Kraft, innerweltlich vollendbares Wesen hält. Ist er dies, dann muß das "Unbehagen in der Kultur", das Freud festgestellt hat,28 muß die Entfremdung des Menschen, bedingt durch eine die Leistung fetischisierende Klassengesellschaft, aufhebbar sein. Dann ist durch den revolutionären Überschritt ins Jenseits der Leistungsgesellschaft die Versöhnung von Lustprinzip und Realitätsprinzip möglich; dann ist das "Ende der Utopie"29 gekommen und der Neue Mensch in seine Wirklichkeit getreten.

Die einlinige Konstruktion der gesamten historischen Welt, der Gesellschaft, der Kultur, der Geschichte als widerspruchsvolle Entwicklung aus dem überstrapazierten Ödipuskomplex, dem man, der atavistischen fortwirkenden Männerrechtsansprüche innewerdend, einen selten zitierten Elektrakomplex verlegen anleimt, die Herleitung der Zivilisation aus der methodisch-systematischen Transformation des Lustprinzips in Realitäts-, Erkenntnis- und Leistungsprinzip muß jedoch korrigiert werden durch das Ernstnehmen des Kain-Komplexes.

28)  Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, Fischer Bücherei 6043, S.65. 
29)  Herbert Marcuse, Das Ende der Utopie, Oberbaum, Berlin 1967.


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Die Erfahrungen der permissiven Gesellschaft lehren, daß die Aufhebung der sexuellen Tabus keineswegs zum Abbau der Aggressionen führt, vielmehr oft als Anreiz zur Enthemmung auch der Gewalttätigkeit wirkt. Sex and Crime schließen sich nicht aus, sondern ein, und keineswegs nur im Film. Die exzessive Zunahme der Kriminalität in allen verstädterten und industrialisierten Gesellschaften aller weltanschaulichen Farben, die spezifische Ausbildung der Wohlstandskriminalität zumal redet eine deutliche Sprache.

"Ein grauenvolles Elend, eine Verwilderung aller Lebensgewohnheiten, die schon jetzt ... in Kellern und Hinterhöfen einen neuen Urmenschen züchtet, hausen in jeder dieser prachtvollen Massenstädte. Das ist in Bagdad und Babylon nicht anders gewesen wie in Tenochtitlán und heute in London und Berlin".30

So Spengler. Und schon Nietzsche sah den Ausbruch aller Triebe in der regelstörenden Form der Krankheiten und Verbrechen als nicht aufhebbares Symptom einer gesamtgesellschaftlichen nihilistischen Dekadenz: 

"Der Abfall, Verfall, Ausschuß ist nichts, was an sich zu verurteilen wäre; er ist eine notwendige Konsequenz des Lebens ... Es ist eine Schmach für alle sozialistischen Systematiker, daß sie meinen, es könnte Umstände geben, gesellschaftliche Kombinationen, unter denen das Laster, die Krankheit, das Verbrechen, die Prostitution, die Not nicht mehr wüchse ... Aber das heißt das Leben verurteilen ... Es steht einer Gesellschaft nicht frei, jung zu bleiben ... Alter schafft man nicht durch Institutionen ab. Die Krankheit auch nicht. .. Was man bisher als Ursachen der Degeneration ansah, sind deren Folgen."31

Das ist der extreme Gegensatz zum sozialistisch modifizierten Rousseauismus Marcuses.

Spengler, an Nietzsche orientiert, sieht im Menschen "ein Element der allebendigen Natur, das sich gegen diese Natur empört und diesen Trotz mit dem Dasein büßen wird".32 Der Mensch ist ein "erfinderisches Raubtier",33 "er gehört zu den Tieren, deren Leben im Töten besteht ... Das Raubtier ist die höchste Form des freibeweglichen Lebens".34 Der Mensch aber wird zum Menschen durch die Entstehung der Hand, die das Werkzeug oder die Waffe geradezu fordert. Herstellung und Gebrauch des Werkzeugs und der Waffe befreien den Menschen vom Zwang der Gattung. Zum "Denken des Auges" tritt das "Denken der Hand".35

30) Untergang des Abendlandes, S. 676.
31)  Friedrich Nietzsche, Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte, Kröner, Leipzig 1928, S. 30f.
32)  Oswald Spengler, Uriragen, S. 337.
33)  Oswald Spengler, Der Mensch und die Technik, S. 14, 26.
34)  Ebenda, S. 16 ff.


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Zur schauenden — theoretischen — tritt die handelnde — praktische — Vernunft. Das tätige kämpferische Leben des Menschen wird schöpferisch, befreit sich vom Zwang der Gattung. Der Mensch wird zum Schöpfer der bewußten, willkürlichen und veränderlichen Technik als der Taktik seines Lebenskampfes. "Sie ist seine Größe und sein Verhängnis. Und die innere Form dieses schöpferischen Lebens nennen wir Kultur."36 Die menschliche Seele voranschreitend "in wachsender Entfremdung gegenüber der ganzen Natur", gleichsam eine Natur, die in sich gespalten und widersprüchlich ist, "ist die Seele eines Empörers".37 Kunst ist der Gegenbegriff zur Natur. 

"Künstlich, widernatürlich ist jedes menschliche Werk ... der <freie Wille> schon ist ein Akt der Empörung ... <Weltgeschichte> (ist) die Geschichte einer unaufhaltsam fortschreitenden, verhängnisvollen Entzweiung zwischen Menschenwelt und Weltall, die Geschichte eines Empörers, der dem Schöße seiner Mutter entwachsen die Hand gegen sie erhebt. Die Tragödie des Menschen beginnt, denn die Natur ist stärker ... Alle großen Kulturen sind ebensoviele Niederlagen ... Der Kampf gegen die Natur ist hoffnungslos, und trotzdem wird er bis zum Ende geführt werden." 38)

Weltgeschichte ist in Spenglers letzter Konzeption ein in Stufen bestrittener Aufstand des Menschen gegen die Natur, seinen eigenen Ermöglichungsgrund. In den "Urfragen" kennt Spengler vier Stufen, er nennt sie karg: a, b, c, d. Die Stufe a, von Spengler mit Goethes geliebtem Granit verglichen, umfaßt viele Jahrzehnttausende der Altsteinzeit und entfaltet sich in gattungsmäßig vom Instinkt bewegten Rassen.

Die Sozietäten, jede ein Wir, zeigen nur grundständige Wesenszüge. Die Stufe b, von Spengler dem "Paideuma" des Leo Frobenius gleichgesetzt und mit dem Kristall verglichen, bringt im Jungpaläolithikum vom 20. Jahrtausend bis zum 6. Jahrtausend herunter in biologischer Mutation eines Teils der damaligen Menschheit dumpf menschliche Verbände hervor, in denen begabte Schichten Stil und Ornament des Daseins gestalten. 

35)  Oswald Spengler, Der Mensch und die Technik, S. 30. 
36)  Ebenda, S. 25. 
37)  Ebenda, S.33ff. 
38)  Ebenda, S. 35 ff.


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Aus den Rassen gliedern sich Volksstämme aus. Die Stufe c entwickelt wiederum in biopsychischer Mutation eines Teiles der Menschheit umrissene Volkspersönlichkeiten innerhalb dreier Kulturen, die Spengler mit fließend beweglichen Amöben vergleicht und Atlantis, Turan und Kasch nennt. Auf dieser Stufe, die das Neolithikum und die Zeit der Kupferbearbeitung umfaßt und bis zum zweiten vorchristlichen Jahrtausend heraufreicht, bilden sich überall die Sprachen. Jegliche Sprachstuktur offenbart besonders in der Syntax eine eigene Logik, mit deren Hilfe der Raum, also die Natur, ausgelegt wird. Zugleich mit den Nomina werden Numina geschaffen. Aus Rassenkreuzungen, desgleichen aus ständischen Übereinanderschichtungen der zueinander offenen Kulturen gehen die Basen der späteren Hochkulturen hervor. Diese, von Spengler als Stufe d bezeichnet, mit Pflanzen verglichen — "Lebewesen höchsten Ranges, sie wachsen in erhabener Zwecklosigkeit auf wie die Blumen auf dem Felde"39 —, sind der eigentliche Gegenstand von Spenglers "Untergang des Abendlandes". Ihre Gesamtbiographie ist Weltgeschichte im engeren Sinn, die Gesamtbiographie der drei Frühkulturen ist Frühzeit der Weltgeschichte.40

Kulturen bauen sich aus Nationen auf, innerhalb derer die Individuen zu oft schmerzlicher Helle des Selbstbewußtseins gedeihen. Ihr Individualismus ist "das letzte Aufbäumen der Raubtierseelen gegen die Gefangenschaft in der Kultur".41

Die Hochkulturen, im "Untergang des Abendlandes" von Spengler noch schlichtweg Kulturen genannt, jede in einer mütterlichen Landschaft verwurzelt, sind physiognomisch durchgebildet und kraft der Stärke des sie organisierenden Formprinzips gewissermaßen gegeneinander verschlossen, "fensterlose Monaden" mit Leibniz zu reden. 

39)  Untergang des Abendlandes, S. 29.
40)  Dieser umfassende Entwurf von Menschheitsgeschichte und Weltgeschichte ist von Spengler bereits skizziert in seiner Rede "Der Mensch und die Technik", an einen Bruchteil der Geschichte ausgeführt in dem Aufsatz "Zur Weltgeschichte des zweiten vorchristlichen Jahrtausends" in Hans Erich Stiers Zeitschrift "Die Welt als Geschichte", veröffentlicht in "Reden und Aufsätze"; aus dem Nachlaß geschöpft in "Urfragen" und "Frühzeit der Weltgeschichte", dort S. 492: Vergleichstabelle.
41)  Oswald Spengler, Der Mensch und die Technik, S. 58.


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Jede Kultur beginnt mit einer ihr eigenen Weltanschauung, einer Religion, einem Mythos. Alle Wissenschaft ist begriffliche Auslegung und Ausfaltung des Mythos, im Fortschreiten allerdings Widerspruch des Rationalen wider das Irrationale, Zweifel am vorgegebenen Mythos, Aufklärung, kritische Aufhebung in Skepsis, Atheismus, Nihilismus. Alle Kunst ist anfänglich Einbildung des Mythos in die Sinne, also Theophanie, Symbol, Rühmung. Im Lebensprozeß der Kultur verweltlicht die Kunst und verliert mit dem Erlöschen der Religion Aussagekraft und Richtung. Die Kultur geht in die extravertierte Form der Zivilisation über, in der nicht mehr die Mächte der Innerlichkeit, Religion, Wissenschaft und Kunst zusammenhaltend wirken, sondern Technik, Wirtschaft und Politik den Zusammenhalt organisieren müssen. Die Zivilisationen können sehr lange bestehen, wenn es ihnen gelingt, ihren Strukturbereich politisch zu sichern. Beispiele dafür sind nach Spengler das Imperium Romanum und die bis in unsere Tage fortwirkenden Zivilisationen der "arabischen" und der chinesischen Kultur: das Osmanische und das Chinesische Reich.

 

Von vielen Seiten ist gegen die organismische Kulturlehre Spenglers eingewendet worden, das sei Biologismus. Kulturen dürfen nicht als Überindividuen mit Metapsychen angesehen werden, es sind keine Lebewesen, in denen das Ganze vor dem Teil rangiert, wo die Zellen sterben, wenn das Ganze stirbt, sondern Gesellschaften aus Individuen, die willensfrei sind. Die Spenglerschen Kulturen schienen Hypostasierungen des Mythos. "Hier wird deutlich sichtbar, wie der Diltheysche Begriff des Typos in einen Mythos hinüberwächst ... die Radikalisierung, die das relativistische Moment in der Typologie auf die Spitze treibt, bedeutet zugleich deren Umschlagspunkt in den Mythos."42 

Spengler ist tatsächlich in der Wahl seiner Bilder, in seiner Wissenschaftslehre und in seinem Sprachstil, dem angemessenen Ausdruck seines Denkstils, der Lebensphilosophie verbunden gewesen, die im irrationalen Leben und Erleben eine dem rationalen Denken überlegene Erkenntnisquelle zu besitzen glaubte. Zudem wirkt in ihm der Enthusiasmus einer durch stürmische Fortschritte der Biologie (und Medizin) geprägten Epoche, der das Schlagwort Evolution soviel bedeutete, wie den späteren das Schlagwort Revolution, einer Epoche, in der dank Ernst Haeckel die Deszendenztheorie vor allem Darwinscher Prägung sich durchsetzte.

42) Georg Lukács, Von Nietzsche zu Hitler, S. 150ff.


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Spengler hat das biologische Gleichnis überbetont, eine Phänomenologie und Morphologie der Geschichte, den morphologischen Vergleich der Kulturen gefordert, für sie rationale und kausale Methoden abgelehnt und sich auf physiognomischen Takt berufen. Doch hat der dogmatische mythopoetische und prophetische Vortrag einer an sich fruchtbaren Arbeitshypothese der unmittelbaren Wirkung ebenso genützt, wie er der Nachwirkung geschadet hat. Seine Kulturlehre ist Ergebnis der Intuition, doch muß sie diskursiv überprüft, falsifiziert oder verifiziert werden. Heute kann sie, aus dem Symbolismus ihrer Entstehungszeit gelöst, weitergedacht werden, da uns die Kybernetik erlaubt, den für Spengler unaufhebbaren Gegensatz von mechanischen und organischen Abläufen zu überwinden und ein gemeinsames Modell biologischer, mechanischer und soziologischer Prozesse zu entwickeln. 

Die Spenglerschen Kulturen können als hochkomplexe, überstabile dynamische Systeme mit doppelter Rückkoppelung gelesen werden. Das Spenglersche Ursymbol stellt den soziogenetischen Code dar.43 Das Denkmodell erklärt gleicherweise die relative quasi-organische Geschlossenheit, Individualität und Ablaufsgesetzlichkeit der Kulturen wie ihre Offenheit, ihre Fähigkeit, fremde Güter, gewissermaßen "Störungen" im kybernetischen Sinn abzuweisen oder auch zu integrieren; auch das Problem der Pseudomorphosen kann dergestalt sinnvoll gelöst werden wie schließlich bei klarer Anerkennung der Diskontinuität der Kulturen die Frage nach der Kontinuität der Geschichte.

Was aber die mythologische Tendenz Spenglers betrifft, so ist sie keineswegs auf ihn, die Sphäre der Lebensphilosophie und den Symbolismus der Nabis und des Jugendstils beschränkt, ein, wie der Spätaufklärer Lukács meint, imperialistisches oder präfaschistisches Element; die Künstler des Surrealismus bekannten sich überwiegend zum Marxismus, dennoch manifestierten sie "den Schiffbruch der noch so schönen Vernunft im Meer der Gleichgültigkeit ... Alles läßt uns glauben, daß es einen bestimmten geistigen Standort gibt, von dem aus Leben und Tod, Reales und Imaginäres .. . Mitteilbares und Nicht-mitteilbares .... nicht mehr als widersprüchlich empfunden werden."44)

43)  Auf Spenglers System ist im besonderen Maß dieses Denkmodell anzuwenden, das Peter Krausser, Kritik der endlichen Vernunft, Suhrkamp, Frankfurt 1968, der Diltheyschen Wissenschafts- und Handlungstheorie eingeschrieben hat.   wikipedia.org/wiki/Peter_Krausser *1922    dnb  peter+krausser+kritik+vernunft 


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Zivilisation ist für Spengler "das unausweichliche Schicksal einer Kultur".45) "Das Wesen aller Kultur ist Religion; folglich ist das Wesen aller Zivilisation Irreligion."46) Allein im Fortschreiten, nachdem sie das Gesamtgefüge des Lebens vergebens auf die wechselnden und einander aufhebenden Strömungen der Philosophie und Wissenschaft hat begründen wollen und bei wachsender zentrifugaler Dynamik die feste Orientierung durch ein allgemeingültiges gesellschaftssymbolisches Wertsystem entbehren muß, kehrt jegliche Zivilisation zur "zweiten Religiosität" zurück.47) Spengler sieht diese Erscheinung fast abwertend an, nimmt in ihr nicht die große, im Wesen des Menschen begründete Chance der Religion wahr. 

Toynbee lehrt uns, im Stadium dieser zweiten, gelegentlich messianisch getönten Religiosität die Chrysalis erkennen, die Puppe, in welche der Ertrag des sich vollendenden Kultursystems eingeht, um im kommenden Aeon den Falter der morgendlich verjüngten Gläubigkeit aus sich zu entlassen. Spenglers in akzentuierten Epochen sich ausdrückendes Geschichtsdenken, das die Geschlossenheit der Kultur, die Aufgänge und Untergänge betont, muß in einer sorgsamen Analyse der Übergänge "aufgehoben" werden.

Ähnlicher Umdenkung muß Spenglers Zivilisationstheorie unterworfen werden. Für ihn hat jede Kultur eine ihr eigene, in den Formen auf den Ursprung zurückverweisende Zivilisation. Unsere sogenannte Weltzivilisation ist seiner Meinung nach ausschließlich eine Westzivilisation, gebunden an die Formensprache der faustischen Kultur und mit dem politischen Verfall des Abendlandes zum Erlöschen verurteilt; bei veränderten Leitmotiven kann sie doch aufgrund der ewigen Wiederkunft des Gleichen in Analogie etwa zur römischen Zivilisation der Spätantike beschrieben werden. Hier hat Sedlmayr den berechtigten Einwand erhoben, Spengler meine, wenn er z.B. die Kunst als Symptom der Epochaldeutung heranziehe, "gerade nicht die eigentümlichen Erscheinungen, sondern solche, zu denen es Analogien auch in anderen Epochen gibt. Es treten aber im Gebiete der Kunst seit rund 1760 Erscheinungen auf, die es nie und nirgendwo in der Weltgeschichte gegeben hat." 48)

Die Erstmaligkeit und Einmaligkeit in den symbolischen Formen der abendländischen Kunst, Dichtung und Musik, wie in Problemen und Lösungen der modernen Wissenschaften — dies alles ist Ausdruck der Erstmaligkeit und Einmaligkeit, mit der hier eine Zivilisation den gesamten Erdball umgreift. Der Übergang hat den von Spengler für möglich erachteten Charakter einer psychischen Mutation. 

Es ist nur konsequent, wenn man Spenglers spätes Schema des Aufbaus der Weltgeschichte um eine Stufe erweitert, eben die Weltzivilisation: die Zukunft, die uns aufgegeben ist. Spengler selbst sagt, wir stünden am Anfang des Fünften Akts. Nicht ausschließlich an unserem Erkennen, Wollen und Handeln, aber doch auch an dieser Synopsis und Sympraxis wird es liegen, was dieser Akt und darüber hinaus das Gesamtkunstwerk der Weltgeschichte sein wird: Humana Tragedia oder Divina Commedia.

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Anton Mirko Koktanek  

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44)  Andre Breton, Die Manifeste des Surrealismus, Rowohlt Paperback 63. 
45)  Untergang des Abendlandes, S. 43. 
46)  Ebenda, S. 458. 
47)  Ebenda, S. 942.
48)  Hans Sedlraayr, Verlust der Mitte, Ullstein-Bücher 39, S. 7.

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