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Beiträge von Manes Sperber in der Zeitschrift <Die Zukunft> (Willi Münzenberg, Paris).

 Die Zeit der Erniedrigung

27.01.1939

»Ich war einer von vielen, die auf einem beängstigend schmalen Grat dem Sturmwind standhalten mußten. 
Wir konnten keinen Schritt wagen, ohne - rechts oder links - in den Abgrund zu stürzen.« (Manes Sperber)

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Man kann - mit einiger Not - die Zahl derer feststellen, die hingerichtet, »auf der Flucht erschossen«, in Konz­entrationslagern zu Tode gefoltert worden sind. Man kann annähernd die Jahrhunderttausende Zuchthaus berechnen, zu denen in Deutschland Menschen verurteilt worden sind, deren einziges Verbrechen war: die Freiheit des Volkes anzustreben. Man kann einigermaßen genau die Zahl jener Deutschen feststellen, die ihre Heimat verloren haben und im Elend des Exils um die Befreiung ihres Vaterlandes kämpfen.

Doch kann man nicht feststellen die Zahl derer, die außer Landes gehen würden, wären ihnen nicht die Grenzen verschlossen. Doch kann man statistisch jene Wirkungen des Schreckens nicht erfassen, die den Alltag des Deutschen im Dritten Reich bestimmen. Die Statistik dieses Leidens ist nicht nur deshalb nicht vorhanden, weil es eher in der Macht derer ist, die leiden machen, Statistiken zu machen, sondern weil dieses Leiden von einer Vielfältigkeit ist, die vielleicht ein Dichter ahnbar, aber keine sachliche Beschreibung wißbar machen könnte. Und der Schrecken, der dieses Leiden erzeugt, bewirkt, daß es gleichsam ein "geheimes" ist.

Das Regime, das seit nunmehr sechs Jahren Deutschland zum Dritten Reich erniedrigt, hat die Macht, die revolutionären Terrorherrschaften Mittel gewesen war, zum Ziel, zum Selbstzweck erhoben und deshalb den Schrecken an die Stelle der Ideen gesetzt, gegen die er verwandt wird. Um die Ideen aus den Köpfen zu verjagen, für die Menschen bereit sind zu leben, wird die Idee des Schreckens zur totalen Herrschaft gebracht, unter der man für eine Idee nur sterben, aber nicht leben kann.

Für eine Idee sterben Menschen leicht nur in den großen Offensiven, zu denen Massen übergehen, wenn die Idee dadurch, daß sie sie ergriffen hat, selbst zu einer Gewalt geworden ist. In der Defensive gibt es keinen Massenheroismus — außer im Kriege, wo auch die Defensive auf einer Massenorganisation beruht. Doch die Terrorherrschaft zerschlägt schon zu ihrem Beginn jede Organisation, die ihr feindlich werden könnte, sie vereinzelt die Gegner, sie läßt jeden von ihnen vereinsamen und stellt ihn dann vor die Alternative der Ultima ratio: sich zu ergeben oder sinnlos zu sterben.

»Trotzdem - wäre es wahr, was ihr behauptet, daß nämlich die überwiegende Majorität des deutschen Volkes gegen dieses Regime ist, so wäre diese Herrschaft, die Herrschaft einer geringen Minorität also nicht möglich!« — Ist es nicht der Common sense, der hausbackene gesunde Verstand, der so spricht? Ach, seine Schulweisheit läßt sich den Alptraum nicht träumen, der in Deutschland zur Wirklichkeit geworden ist! Stünden nämlich das Volk und jene, deren Herrschaft es ablehnt, einander gegenüber, die ungezählten Millionen den — sagen wir — dreihunderttausend, so stimmte das Rechenexempel und der Gang wäre hinweggefegt. Doch stehen in der Wirklichkeit jeweils einander gegenüber die dreihundert­tausend und der wehrlose Einzelne. Und dieser Relation entspricht der Schrecken, den jene in diesem erzeugen.

Keinen Deutschen gibt es, aus dessen Nähe nicht wenigstens einer im Zuchthaus oder im Konzentrations­lager darbt. So findet jeder das schreckende Beispiel. Und es wird ihm dringlich genug nahegelegt, es stets vor Augen zu haben.

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Das Regime stellt ihn zum Beispiel vor Faits accomplis und lädt ihn dann ein, durch Abstimmung diese bereits vollzogenen, von der Welt geduldeten Akte gutzuheißen. Und der Untertan des Tyrannen ist gelehrt worden, so zu räsonieren: 1. Auch wenn ich mit Nein stimme, ändert es nicht das geringste am vollzogenen Gewaltakt. 2. Auch wenn ich mit Nein stimme, wird das am offiziellen Stimmergebnis nichts ändern. Die Herren haben längst festgesetzt, welches Ergebnis bekanntgegeben werden wird. 3. Die rühmen sich selbst, daß es für sie kein Wahlgeheimnis gibt. Also werden sie wissen, daß ich gegen sie gestimmt habe, und sie werden an mir Rache nehmen. 

— Lohnt es, um eines Protestes willen, der nutzlos, ungehört und völlig — wirkungslos bleibt, mich solchen Gefahren auszusetzen, meine Familie zu gefährden? So räsonieren die einzelnen, die Millionen, aber keine Millionenmasse sind, so räsonieren sie im Schatten der überfüllten Zuchthäuser und Folterlager, im Schatten der Göringschen Axt, die Hunderte köpft, aber die Drohung gegen Millionen einzelner mit Blut interpunktiert.

Der Leitartikler, der an solches Übermaß von Einschüchterung nicht glauben mag, und jener andere, der höhnisch den Mangel an Mut bei den Deutschen beklagt, sie beide müßten erst selber in solcher Situation den Mut bewähren, dessen Fehlen dem einen nicht glaubhaft, dem andern allzu kläglich erscheint.

»Niemals so wie in diesen Novembertagen kam mir unsere Erniedrigung zum Bewußtsein. Wie oft war ich im Begriff, einzugreifen, um diesem Grauen Einhalt zu tun, aber immer wieder mußte ich mir selber die Sinnlosigkeit eines solch gefährlichen Unternehmens vor Augen führen. Und so schlich ich mich, völlig gebrochen, nach Hause. Ich weinte vor ohnmächtiger Wut und Selbstverachtung.«

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Der diese Zeilen schrieb, ist ein Mann, der im Kriege hohen militärischen und sonst den so seltenen zivilen Mut bewahrt hat. Was ihn zerbricht, ist nicht die Gefahr, die die Schreckensherrschaft für jeden Aufrechten bedeutet, sondern die Sinnlosigkeit, zu der sie den so gefährlichen Widerstandsakt zu verurteilen scheint. Hier liegt die doppelte Wirkung des totalen Schreckensregiments: Der Mut gefährdet nicht allein, er wird auch zur Dummheit, scheint es, ja, geradezu zur Förderung der Herrschaft, der er den Gegner anzeigt und somit ausliefert.

Und hier beginnt die depravierende Wirkung des Terrors, der Charakterverderb, dem im Dritten Reich ein ganzes Volk unter­worfen ist, sich zu vervollkommnen. Wenn, was an dem Menschen gut und mutig ist, ungebraucht, zu seinem tiefsten Geheimnisse werden muß, wenn er sich daran gewöhnen muß, laut und immer lauter zu preisen, was er immer mehr haßt und verachtet, so tritt jene seltsame Selbstentfernung ein, die die psychische Massenerkrankung unter den Bedingungen der Tyrannis ist. Der Schrecken, den die Unterdrücker systematisch erzeugen, verselbständigt sich, er geht in das System des Bewußtseins und des Unbewußten ein — er schafft neue Automatismen, neue Verhaltensweisen, mit denen sich die Untertanen an den steten Druck anpassen. Das Gruseln ist erlernt, eine spezifische Angstneurose massenhaft geworden.

»Ich höre die deutschen Sender, vor allem die Übertragungen großer Versammlungen. Da merke ich nichts von Angst. Die Massen jubeln, singen.« Ja, sie singen. »Zum Singen bringen« — mit diesem Ausdruck bezeichnet der Franzose, was im Deutschen der Jurist wie der Laie erpressen nennt. Den Leitartikler möchte ich sehen, der nicht zum Sänger würde, stünde auf die Verweigerung des Gesangs das Konzentrationslager. Die Menschen faire chanter, ist niemals so leicht, als wenn man ihnen das Recht genommen hat, ihr Unglück zu bekennen und zu bekämpfen.

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Die Depravierung, die mit keiner Zahl bezeichenbar ist, die seelische Not der Verfolgten, eines ganzen Volkes, das sich vorläufig in einen Ausnahmezustand hat ergeben müssen, ist statistisch nicht erfaßbar. »Wüster immer, öder werden da die Menschen, die doch alle schön geboren sind; der Knechtsinn wächst, mit ihm der grobe Mut, der Rausch wächst mit den Sorgen ... Die Guten, sie leben... wie Fremdlinge im eigenen Hause.« Dies schrieb Hölderlin einem Deutschland auf die Stirne, das die Zeit der Erniedrigung, der es heute ausgeliefert ist, nie gekannt hatte. Übertrieb damals der deutsche Dichter, heute tut es die deutsche Wirklichkeit.

In dieser gleichen Wirklichkeit aber erwachsen die, die berufen sind, sie zu ändern. Sie selbst erzeugt Menschen, die auf die Maßlosigkeit des Schreckens und der Erniedrigung mit der Grenzenlosigkeit ihres Muts antworten: Arbeiter und Gelehrte, Bauern und Geistliche, deren Vereinzelung nicht gelingt, weil Ideen ihnen das Bewußtsein einer Gemeinschaft geben, der man das Recht zu sein, doch nicht das Sein hat nehmen können.

Wie groß diese Gemeinschaft ist, wird allen sichtbar werden, wenn das Volk sich eines Tages vom Schrecken befreien wird. Es wird sich von ihm befreien, wenn die Gefahr, unter seiner Herrschaft zu leben annähernd so groß geworden sein wird wie die Gefahr, im Kampfe gegen sie zu sterben: in Hungersnöten, im Kriege.

Es müßte der Massenheroismus, der da angefordert ist, nicht erst in einem Kriege sich entfalten. Er wäre da, würden die Massen von einer großen einigenden Idee ergriffen, einer positiven, offensiven Idee, für die es auch zu sterben lohnte, von deren Gewalt man aber so fest überzeugt wäre, daß niemand an seinen Tod und jeder an ihren Sieg dächte, glaubte.

Dringt heute der Schrecken der Tyrannis wie der Wüstensand durch alle Spalten, alle Ritzen, eine solche Idee täte es nicht minder. Und ihre Gewalt allein könnte die Idee der Gewalt besiegen.

Noch ist es nicht soweit. Doch heute wie vor sechs Jahren, da wir begannen, in der Fremde um die Heimat zu kämpfen, sind wir nicht nur die Zeugen der Verfolgung und der Erniedrigung des deutschen Volkes, sondern Zeugen auch einer Opposition, die, ausgeblutet und martyrisiert, niemals die Gewißheit verliert, daß die Kräfte des deutschen Volkes, heute unorganisiert-oppositionell, in nicht ferner Zeit zur offensiven Gewalt sich einigen und sich organisieren könnten.

Wer das ganze Ausmaß der Unterdrückung und des tyrannischen Verderbs kennt, der versteht das Verhalten des freiheitsliebenden deutschen Volkes. Der zweifelt nicht an der Zukunft seiner Freiheit.

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