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Der totalitäre Staat

 

24. November 1939

 

»Der erste Akt, worin der Staat wirklich als Repräsentant der ganzen Gesellschaft auftritt — die Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft — ist zugleich sein letzter selbständiger Akt , als Staat... An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktions­prozessen. Der Staat wird nicht >abgeschafft<, er stirbt ab.« (Friedrich Engels)

 

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Wir haben (im vorhergehenden Beitrag) deutlich zu machen versucht, daß es sich bei dem Bündnis zwischen Hitler und Stalin nicht nur um ein außenpolitisches Ereignis von außerordentlicher Bedeutung handelt, sondern daß durch diesen Pakt neue Probleme für die sozialistische Bewegung geschaffen worden sind, daß es nun darum geht, Begriffe zu bereinigen und Meinungen zu revidieren.

Wenn in diesen Tagen deutsche Flugzeuge Flugzettel mit dem Text von Molotow-Reden streuen, wenn Nazi-Sender in französischer Sprache sich an die französischen Arbeiter im Namen des »sozialistischen« Deutschland wenden, wenn französische Stalinisten in ihrer mündlichen Propaganda von einem Deutschland sprechen, das nun fast schon kommunistisch sei, so handelt es sich um mehr als um taktische Tricks: Zwei totalitäre Staaten haben zueinander gefunden. Es geht nun darum, das Verhältnis zwischen Staat und Sozialismus wieder einmal klarzustellen. 

Mit dieser Darstellung beginnen wir die Abwehr der schändlichen Versuche, den wissenschaftlichen Sozialismus zu nazifizieren.

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Innerhalb der Arbeiterbewegung sind drei verschiedene Auffassungen über den Staat entstanden. Die Auffassung der Marxisten war stets die, daß der Staat ein Instrument zur Aufrechterhaltung einer bestimmten Ordnung innerhalb der klassengespaltenen Gesellschaft ist, daß die Beseitigung der Klassen die Beseitigung des Staates in einem Prozesse in sich schließe, daß es somit keinen klassenlosen, keinen sozialistischen Staat geben könne. In dem Ausmaße, als die Expropriation der Expropriateure und die Herstellung einer Planwirtschaft auf der Basis der gesellschaftlichen Aneignung sich vollendet, in dem gleichen Maße stirbt der Staat ab. Zu dieser Auffassung bekannten sich auch die Kommunisten.

Die Auffassung der Reformisten, besonders der deutschen Sozialdemokratie, die niemals wirklich aufgehört hatte, lassalleanisch zu sein, war, daß der Staat sehr wohl das Instrument zur Sozialisierung der kapitalistischen Wirtschaft werden könnte, sie sahen in ihm nicht ein Klasseninstrument. Hatte Lassalle sich mit Bismarck zu verständigen versucht, so sah die deutsche Sozialdemokratie während des letzten Krieges in den Maßnahmen der Kriegswirtschaft den Sozialismus. Sie glaubte, daß je stärker der Staat würde, umso schwächer die herrschende Klasse werden müßte. Es erwies sich nach dem Kriege, daß die Sozialisierung des Elends keineswegs ein Schritt zum Sozialismus ist.

Die dritte Auffassung ist die der Anarchisten, die den Staat von heute auf morgen abgeschafft wissen wollen, gleichviel welche gesellschaftlichen, welche Klassen­bedingungen gegeben seien.

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Die schwierigste Frage, die der Marxist sich zu stellen hatte, blickte er in die Zukunft, war: »Welche Organisationsform hat an die Stelle der zerschlagenen Staatsmaschine zu treten?« 

Die Oktoberrevolution antwortete darauf: Die Diktatur der Mehrheit in Gestalt der Rätedemokratie, das heißt, es soll an die Stelle jeder Art von Bürokratie die bestimmende Teilnahme aller Werktätigen an allen Staatsgeschäften treten. Es war klar und einleuchtend, daß, je mehr Menschen Staat würden, umso mehr der Staat seine spezifischen Funktionen verlieren, absterben würde.

Der Krieg, in dem diese Revolution geboren wurde und den sie lange fortsetzen mußte, erzwang eine sehr bedeutende Zentralisierung der Gewalten. Doch war dies als Übergangsperiode angesehen, wie ja überhaupt die Phase der Diktatur des Proletariats nur als Übergang aufzufassen sein sollte.

Die Entwicklung in Rußland führte in der Tat zur Abschaffung der Klassen — bei Beginn der Periode des zweiten Fünfjahres­planes sagte Molotow, man sei bereits in die Phase der Klassenlosigkeit eingetreten — doch der Staat, anstatt abzusterben, wurde immer stärker, die Freiheit der einzelnen immer geringer. Die Rätedemokratie vollendete sich nicht, sondern verschwand praktisch vollkommen. Es gab nicht die Bestimmung von unten nach oben und die Verantwortung von oben nach unten, sondern im Gegenteil begann eine »Staatsräson« - unter dem Pseudonym Stalin — alles von oben nach unten zu bestimmen.

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Das Volk bekam, genau wie im Hitlerreich, das Ja-Recht, das Gegenteil des Veto-Rechts. Hundertsiebzig Millionen wurden Ja-Sager, alle jene wurden beseitigt, die es nicht waren oder unter Umständen hätten aufhören können, es zu sein.

Was da geschah, hat seine Gründe und könnte teilweise gerechtfertigt werden. Es wird aber zur Gefahr für den Sozialismus, wenn solch ein Zustand, wie er in Rußland besteht, beansprucht, Sozialismus zu sein. Eine freie sozialistische Revolution in Deutschland hätte den russischen Zustand desavouiert, und zwar in positivster Weise. Das Bündnis mit Hitler und dessen weitere Folgen sollten solche Desavouierung verhindern. »Höchste Entwicklung der Staatsmacht zur Vorbereitung der Bedingungen des Absterbens der Staatsmacht«, so lautet die marxistische Formel? Nein, so lautet die Formel des georgischen Priester­seminaristen, des Witzboldes, den der kluge Tory Churchill eine »formidable Persönlichkeit« nennt, aus genau den gleichen Gründen, aus denen der Marxist ihn den Totengräber der Arbeiterbewegung nennen muß, den Verderber der Oktoberrevolution: Stalin.

Daß die Planwirtschaft auf monopolkapitalistischer Basis dank einem entsprechenden Eingreifen des Staates möglich sei, hatte bereits Engels erkannt, das ist nicht neu. Daß das Hitlerreich die höchste Entwicklung der staatlichen Organisation des Kapitals bedeutet, unterliegt keinem Zweifel. Auch ist es durchaus denkbar, daß dieses Regime die wichtigsten Vertreter des Monopol­kapitals erschießt oder sonstwie von ihrem Eigentum befreit. Wäre dies dann Sozialismus?

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Im Sinne der etatistischen Auffassung Stalins: Ja! Im Sinne des Marxismus: eine Wegbereitung für den Sozialismus, nicht mehr und nicht weniger als es die gesamte Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft ist. Andererseits aber ist die Verabsolutierung des Staats, die Herrschaft der Wenigen über alle anderen das genaue Gegenteil des Sozialismus — und Hitler hat dieses durch ungezählte Arbeitermorde, durch die ganze barbarische Unterdrückung all dessen, was den Namen Freiheit verdienen könnte, deutlich gemacht.

 

Sagen wir es in der kürzesten Formel: Der Etatismus ist keine Form des Sozialismus, so wenig wie Metternich ein Sozialist war, weil er das Tabakmonopol eingeführt hat. Die Entwicklung in Rußland führte nicht von der Diktatur des Proletariats zum Absterben des Staates, sondern zu der Verabsolutierung eines Staates, einer Staatsräson, die machiavellistisch, das heißt ohne Berücksichtigung irgendeines Willens außer dem einer kleinen Gruppe, verantwortungslos bestimmt. 

Die volonte generale hat aufgehört, irgendwelche bestimmende Kraft zu sein, sie ist nur dazu da, das Rhabarber-Geräusch der Komparserie zu machen: hundertprozentige Abstimmungen zu ergeben. Somit ist der Weg, den Stalin beschritten hat, nicht ein Weg zur sozialistischen Gesellschaft ohne Staat, sondern zum absoluten brutalen Staat auf einer ökonomischen Basis allerdings, auf der nach einer neuerlichen Revolution der Sozialismus aufgebaut werden kann. In diesem Sozialismus, um den allein es uns geht, »treten die objektiven fremden Mächte, die bisher die Geschichte beherrschten, unter die Kontrolle der Menschen selbst. Erst von da an werden die Menschen ihre Geschichte mit vollem Bewußtsein selbst machen ... Es ist der Sprung der Menschheit aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit« (Engels). Stalin gelang der Sprung zurück: aus dem Reich der Freiheit in das Reich der Polizeinotwendigkeiten; er landete bei Hitler.

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Das Grundproblem der sinnvollen Ordnung der menschlichen Verhältnisse war stets das Problem der Freiheit. Der wissen­schaftliche Sozialismus hat dieses Problem konkreter formuliert, indem er auf die ökonomische Wurzel aller bisherigen Unfreiheiten hingewiesen hat. Doch hat er niemals den Kampf um das Brot in den Vordergrund gestellt um des Brotes wegen, sondern weil es ihm gewiß war, daß erst mit dem Verschwinden dieser Frage, mit ihrer sozialistischen Lösung, die Grundlagen einer menschheitlichen Geschichte geschaffen werden könnten. 

Dann erst wird es möglich werden, die Menschen vom Druck aller Autoritäten zu befreien, die Menschlichkeit freizusetzen. Dann sollte es möglich sein - mit Kant -, die Freiheit des einzelnen in der Freiheit aller zu begründen, und in der >Deutschen Ideologie< schrieben die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus von der Notwendigkeit, durch die Revolution nicht nur den Unrat einer überalterten Ordnung, sondern auch den inneren Unrat im Menschen selbst revolutionär zu beseitigen. Wir haben in Rußland erlebt, daß der Unrat einer überalterten Ordnung ökonomisch beseitigt wurde, aber menschlich so gigantisch geworden ist, daß in dieser Sintflut alles, was das Leben wertvoll macht, unterzugehen droht. Darum ist es notwendig, deutlich festzustellen: Rußland ist nicht das Beispiel des durchgeführten sozialistischen Experiments. Dieses Beispiel gilt es erst zu schaffen. Der Marxist hat keinen Grund, daran zu verzweifeln. Bis zur Nacht des 23. August — der kalendarische Witz der Weltgeschichte wollte, daß der Stalin-Hitler-Pakt in der Bartholomäusnacht abgeschlossen wurde —, bis zu dieser Nacht durfte der deutsche Marxist hoffen, Deutschland würde berufen sein, das große gültige Beispiel zu liefern und damit die Oktoberrevolution zu retten.

Die Hoffnung ist bis auf weiteres dahin. Der Kampf, in den er jetzt gestellt ist, kann nur ein Teilkampf sein: gegen Hitler und für die Wiedererringung der verlorenen Rechte und Freiheiten. Doch für die Zukunft und die großen Kämpfe muß er sich seine theoretischen Waffen schmieden. Die Reaktionäre und die Stalinisten stimmen darin überein, daß das heutige Rußland und seine Führer den wahren Marxismus repräsentieren und anwenden. Hitler und Stalin stimmen darin überein, daß der starke Staat Sozialismus sei. So haben wir den Weg zur Freiheit, die wir meinen, zu säubern. Es ist nicht zu früh. Wir haben schweigend und leidend die Beschmutzung, die Schändung des Sozialismus mit angesehen. Es ist Zeit, eine große Aufklärungsaktion, vor allem in Deutschland, einzuleiten.

Doch damit wir gehört werden, wo hitlerisch-stalinistische Stimmen so laut sind, müssen wir uns über das Wesen, über die psychologischen Voraussetzungen ihrer und unserer Propaganda klar sein. Wie erzieht man Ja-Sager und wie gibt man Ja-Sagern wieder den Mut zum Denken? Das sind die nächsten Fragen, mit denen man sich zu beschäftigen hat.

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