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Jena, 31. Oktober 1986  

 

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Mein zwanzigster Geburtstag. Es gab Zeiten, da machten Zwanzigjährige Revolutionen. Normalerweise aber wurden sie, nicht anders als ihre Väter und Großväter, wie auch ich jetzt wehrpflichtig. 

Früher hatte ich einen ausgesprochenen Hang zum Militärischen: Da war der abschnitts­bevollmächtigte Polizist, Vater eines Schulkameraden und beschlagener Modelleisen­bahner; vor allem aber gab es die erdbraunen Uniformen der sowjetischen Militärpatrouillen – Soldaten mit roten Armbinden und straff am Gürtel sitzenden Pistolen. Manchen hingen ihre Mützen verwegen ins Gesicht. Angst vor ihnen kannte ich nicht. Sie zu hassen, war mir von niemandem beigebracht worden, nicht einmal von meinem Großvater, der gegen sie gekämpft und in ihren Lagern gesessen hatte. 

Doch gab es andere Leute, die, obzwar mit ähnlicher Biographie, noch nach ihrer Rückkehr aus der Kriegs­gefangenschaft wahrlich böse Erfahrungen gemacht hatten. So der Tischlermeister aus Löbstedt, dem einer ihrer Panzer eines Tages im Wohnzimmer stand, nachdem er von der Straße abgekommen war. Sein Junge, der in meine Klasse ging, hatte folglich seine eigene Meinung. Da blieb immer noch etwas übrig vom "Iwan" der Nazipropaganda.

Mit zwanzig hat man noch keinen Begriff von Zeit und wehrt sich gegen das Erwachsensein. Doch beginnt man — viel zu früh — sich zu erinnern. Den Zustand aufgezwungener Fremde vor Augen, wundert es mich, daß ich nie wirklich ausgebüxt, durch­gebrannt bin, nicht einmal einen Gedanken daran verschwendet habe.

Vaters bester Spruch heute: "Gratulation zum Tag, den du schuldhaft nicht verursacht hast." Für mich kann ich also nichts. Existenz und Geburt scheinen zwar eine Folge unwägbarer Zufälle zu sein, doch ist der Geburtstag immer ein Anlaß, den Eltern zu danken.


Jena, 2. November 1986

Der Herbst ist golden, wie kaum je zuvor. Die Kernberge zeigen noch einmal, wie schön sie sind: Hier sind wir bewundere und vergiß uns nicht!

Am Abend betrachtete ich mir das alte Foto der Kompanie meines Urgroßvaters, aufgenommen Anfang 1915 auf dem Zwickauer Bahnhof. Stolz wie eine Fußballmannschaft stehen die Soldaten aufgereiht. Ihre Mützen sind tief in die Stirn gezogen, sitzen auf abstehenden Ohren. Fast alle tragen Schnauzbärte. Die Gesichter wirken ernst und fest, ohne jeden Anflug von Jubel oder Hochmut. Das waren nicht mehr die Gymnasiasten vom August 1914. 

In der Mitte der vorderen Reihe, das Kompanieschild vor den Knien, sitzt mein Urgroßvater, damals 32 Jahre alt. Es ging an die gefürchtete Westfront. Mit einigen leichten Blessuren kam er davon, hatte vermutlich mehr Glück als die meisten seiner Kameraden. Später sprach er vom Krieg nur noch als dem "grußn Scheißdrack".

 

Delitzsch, 3. November 1986

Einberufung zum Grundwehrdienst, das mindeste, wozu man hierzulande verpflichtet ist. Eigentlich hatte ich bis zuletzt jeden Gedanken daran verdrängt, was mir bevorstehen würde.

Am Westbahnhof sammelte sich in aller Frühe die Gesellschaft junger Männer, begleitet von Eltern, Freundinnen und Freunden. Mancher mochte verheiratet sein. Die Namen der noch Ahnungslosen wurden aufgerufen, dazu die künftigen Orte ihres Wirkens. Die Stimmen der Genossen vom Wehrkreiskommando verrieten schon etwas von jener Schneidigkeit, die dem gesprochenen Wort den fordernden Nachdruck des Befehls verleiht. Unsicher stiegen wir in die Wagen. Der Zug ratterte durch das kalte Morgengrauen.

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Nachmittags schon in der Bekleidungskammer, einem flachen Steinbau am Rande des Ausbildungszentrums "Kurt Bennewitz", der sicher ein Widerstands­kämpfer war. Bennewitz brachte mich wieder auf die Namenspatronen meiner Schulen, Artur Becker und Werner John — allesamt Märtyrer, deren Vermächtnis wir erfüllen sollen.

In der Kammer muffige und dämmrige Stimmung. Gelangweilte Figuren, Zivilisten zum Teil, taten hier Dienst. Im Vorübergehen händigte man uns Uniformen, Stiefel und Schuhe, Kochgeschirr und Stahlhelm aus. Alles ging schnell: paßt und weiter. Die Hosen waren zu kurz, wenigstens aber nicht zu eng. Schließlich schleppte ich meine Zeltbahn mit Ausrüstung über den riesigen Exerzierplatz, dem überhaupt nur die Marschkolonne als Existenzform angemessen scheint. Der einzelne wird da zum Fremdkörper oder besser zur Null. Neben mir trotteten andere — wie traurige Weihnachtsmänner, die nicht wissen, wohin mit ihren Geschenken.

Illustration

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Delitzsch, 4. November 1986

Ich bin zum Militärkraftfahrer bestimmt. Welch eine Aufgabe! Aber ich kann überhaupt nicht Auto fahren. Die Zivilklamotten gingen per Paket nach Hause ab. Jetzt ist Schluß mit der Buntheit: Es wird grün und grau. 

Schnell wurde mir klar, daß einem hier Dinge abverlangt werden können, für die man die Verantwortung guten Gewissens eigentlich nie und nimmer übernehmen kann. Dabei dachte ich noch gar nicht an Krieg. Auch Friedensarbeit soll gefährlich werden können.

 

Deutsch, 6. November 1986  

 

Vor dem Tisch des Diensthabenden bekam ich wieder das große Stammeln. Die Anrede mißlang, er übersah mich eine Weile, ließ mich dann wegtreten. Ich befaßte mich also, um Uniformen klassifizieren zu können, mit den Dienstgraden unserer Volksarmee. Rangunterschiede offenbaren sich zuerst in den Schulterklappen, in Streifen, Balken, Pickeln, auch im Material, von dem sie gefertigt sind. Erst wer sich da auskennt, kann den Oberleutnant vom Feldwebel unterscheiden, was hier unerläßlich ist.

Nach der Anzahl Buchstaben gerechnet, wären der Stabsobergefreite, der allerdings selten ist, und der Stabsoberfähnrich mit achtzehn führend. Ewige Spitze bliebe der Generalfeldmarschall mit zwanzig, den es bekanntlich nicht mehr gibt. Hindenburg war einer und Paulus, Quintilius Varus im studentischen Sauflied. Alle schützte der Rang nicht vor der Niederlage. Quintilius, seiner Legionen ledig, beging gar Selbstmord. "Kam'rad, zeuch dein Schwert hervor, und von hinten mich durchbohr' ..." Immerhin stirbt der Feldherr inmitten seiner Leute.

Die Anzahl der Buchstaben entspricht nicht immer der Ranghöhe des Dienstgrades, so bei Major oder Oberst. Der Hauptfeldwebel wird gern auf den "Spieß" reduziert. "Spieß" deshalb, weil dieser zu Kaisers Zeiten im Unterschied zur Truppe Säbel trug und damit das faule und angriffsunlustige Fußvolk piesacken konnte. Hier haben wir es mit einem blutarmen Kettenraucher zu tun, den ein schwerer Kürassiersäbel vermutlich zu Boden werfen würde.  

Von früh bis spät treibt er uns durchs Gelände und über die Betonstraßen, vorbei an den lebensgroßen Plakatwänden, von denen bewaffnete Friedenshelden gemäß Wilhelm Buschs "Igelphilosophie" über uns hinweg blicken. Hase und Igel würde ich mit dem Spieß gern spielen, aber man sitzt eben ganz jämmerlich in der Tinte. Wenn man sich nur freikaufen könnte! Aber Geld zählt nicht, nicht einmal der Sold, den man kaum wird ausgeben können.

Schmerzhafte Blasen an Fersen und Knöcheln. Die Stiefel müssen erst noch weichgeputzt werden. Fußkranke gibt es schon jetzt wie Sand am Meer, Marsch­befreiungen sind aber selten.

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Matthias Steinbach (Aschebuch) - Eineinhalbjährig — unfreiwillig -- Ein Soldatentagebuch (1986-88)