Über <Freiheit Pur> von Horst Stowasser
Rezension von Thomas vom netzladen.org
mit seiner Genehmigung für den Nachdruck auf detopia.de
"Packend erzählt, verständlich geschrieben und umfassend angelegt hat dieses Buch alle Aussichten, zum politischen Standardwerk zu werden. Neben einer kritischen Einführung in die freiheitliche Ideenwelt und einer Reise durch die verblüffend reiche Geschichte anarchistischer Experimente widmet sich der Autor auch Zukunftsszenarien, die in der These gipfeln: Die Gesellschaftsform des kommenden Jahrtausends wird eine anarchistische sein."
So wird im Klappentext das neuste Buch von Horst Stowasser angepriesen. Rausgekommen ist es schon vor einiger Zeit, es hat allerdings etwas gedauert, bis ich mich durch die insgesamt 397 Seiten durchgearbeitet hatte. Am Schreibstil lag es nicht, der ist, wie aus seinen vorherigen Büchern gewohnt, einfach gehalten und interessant, ab und zu jedoch packte mich so die Wut, dass ich es hin und wieder beiseite legen musste, sonst haette ich’s zerrissen. Doch dazu später.
Der Klappentext macht neugierig, wer wagt schon bei einer Neuerscheinung von sich selbst zu behaupten, ein Buch herauszugeben, dass ”zum politischen Standardwerk” wird. Noch dazu, wenn es sich um ein anarchistisches Werk handelt.
Bei aller Skepsis, in vielem wird das Buch den hochgeschraubten Erwartungen gerecht. Die Sprache ist einfach, ohne das Geschriebene platt wirken zu lassen. Umfassend ist das Buch allemal, 140 Seiten sind allein in die Einführung und Beschreibung der Idee des Anarchismus investiert. Jedes Kapitel beginnt mit einem Zitat, so fließen ganz unaufdringlich Originalquellen in die historische Beschreibung.
Horst Stowasser schafft es auch recht vielschichtige, komplexe Themen anzusprechen und sie klar und nachvollziehbar aufs Papier zu bringen. Einige Kapitel würden sich auch hervorragend als Flugblatt eignen. Überhaupt sind die einzelnen Kapitel zwar aufeinander aufgebaut, historisch, sie sind jedoch in sich abgeschlossen und so auch - ganz anarchisch - kreuz und quer zu genießen.
Auch der geschichtliche Teil ist äußerst umfangreich mit beinahe 230 Seiten. Spätestens hier zeigt sich das Buch auch für den anarchistisch vorbelasteten Menschen von Interesse. Wo sind schon die anarchistischen Wurzeln im Taoismus behandelt worden oder im Buddhismus, bei den alten Griechen, usw.. Wo wird sich schon mit dem Anarchismus in Korea beschäftigt. Entgegen der sonst eher eurozentristischen Betrachtungsweise der Geschichte, die populärerweise gerade noch nach Lateinamerika schaut, wird hier ein geschichtlicher und theoretischer Streifzug abgehandelt, der in dieser Komplexität seines gleichen sucht.
Erstes Stutzen machte sich jedoch bei mir breit, als von der historischen Erzählung zu einer aktuellen Betrachtung übergegangen wird. Nicht, dass ich das nicht für wichtig halte, aber ein Autor, der sich als guter Kenner des Anarchismus darstellt und als Insider der Bewegung, sowie als überzeugter Anarchist zu verstehen gibt, sollte doch etwas von jener vielbeschworenen Toleranz und gegenseitiger Anerkennung widerspiegeln. Stattdessen wird das Buch, im Laufe der vielen Seiten immer mehr zu einer Abrechnung mit dem Anarchosyndikalismus und einer Glorifizierung des Projektanarchismus. So, als ob hier zwei unterschiedliche Ansätze gegeneinander stehen würden.
Der ”in einem libertären Großprojekt in Südwestdeutschland” (Klappentext) lebende Stowasser scheint hier wohl alte Rechnungen begleichen zu wollen.
Im Kapitel 16 ”Anarchismus und Organisation” werden da schon mal ganz klare Schubladen aufgemacht. Unter ”Bewegung in Ratlosigkeit” werden die verbliebenen internationalen anarchistischen Foederationen als ”klassische anarchistische Foederationen” bezeichnet. Klassisch steht hier aber fuer veraltet, ueberholt.
”Die überkommenen Organisationen waren fuer viele kaum noch attraktiv oder passten nicht mehr zu den neuen Aktionsfeldern” so Stowasser. Auf Deutschland bezogen schreibt er ”In Deutschland gibt es keine klassische anarchistische Foederation, dafuer aber eine recht rege libertaere Bewegung von auffaelliger Vielfalt. Aus ihr sind mehrere landesweite Zusammenhaenge hervorgegangen, von denen sich nur eine in die Tradition einer klassischen, offiziellen Organisationsform gestellt hat.”
Unklar bleibt hier, welche Organisation er meint, die FAU - IAA oder die IAFD. Weiter meint er: ”Die anarchosyndikalistischen Organisationen sind daher in den meisten Faellen zu kleinen Propagandagruppen geworden, die die Idee des Anarchosyndikalismus verbreiten und sich ansonsten an irgendwelchen aktuellen Bewegungen beteiligen.”
Stimmt, die anarchistische Bewegung heute hat zahlenmaessig nichts mit den grossen Zeiten des Anarchismus mehr gemein. Das kapitalistische System stellt sich als ausserordentlich gefestigt dar und die Idee einer freien Gesellschaft und freien Foederationen stoesst nicht gerade auf offene Ohren. Stimmt, viele Sektionen der IAA sind recht klein und koennen sich mit den grossen anarchistischen Gewerkschaften frueherer Tage nicht mehr messen. Aber was soll hier eigentlich gegeneinander gestellt werden? Welcher anarchistischen Gruppe oder Organisation geht es anders? Hab ich da was verpasst, ist die FOEGA mitlerweile so flaechendeckend erstarkt, ist das ganze Land mit libertaeren Projekten ueberzogen? Gibt es soviele ueberzeugte AnarchistInnen, die ich nur nicht mitkriege? Und was soll da eigentlich die Bemerkung ”irgendwelche aktuelle Bewegungen”, darf eine sozialrevolutionaere Gewerkschaft sich ploetzlich nicht mehr an sozialen Kaempfen beteilligen? Aber dieser kleine Absatz waere das Aergern nicht wert gewesen, waere er nicht der Anfang einer immer penetranteren Hetze gegen den Anarchosyndikalismus.
Im Kapitel 32 ”Anarchosyndikalismus - Geburtshelfer der Revolution” wird nach einer ausfuehrlichen historischen Betrachtung wieder zum Sprung in die Realitaet angesetzt. ”Die grosse Zeit der Gewerkschaften ist vorbei. Der Wunsch nach gesellschaftlicher Umwaelzung ergibt sich heute aus anderen Spannungsfeldern als ausgerechnet dem des Elends westlicher Industriearbeiter.” ist hier zu lesen.
Dabei muesste es Horst Stowasser doch besser wissen, er selbst macht doch immer wieder deutlich, wie falsch es ist auf momentan starke Trends und Bewegungen zu setzen. Nicht ohne Stolz auf die aufrechten AnarchistInnen wird doch immer wieder betont, wie vorausschauend es war, sich nicht von der bolschewistischen Revolution vereinnahmen zu lassen obwohl ihre grosse Zeit anstand, wie irrefuehrend die Ideen der Gaenge durch Institutionen oder Gruendungen von Parteien sind.
Das Prinzip eine Errichtung einer freien Gesellschaft, kann nur durch freie Organisationsstrukturen geschehen, dies war uns doch immer wichtiger, als das Schielen nach Zeitgeist. Wer hat denn behauptet, dass eine Gewerkschaft nur zur Organisation von Industriearbeitern da sei. Die Rolle einer Gewerkschaft sahen die Anarchosyndikalisten schon immer weitlaeufiger.
Dazu Rudolf Rocker (1919): ”Aus diesem Grunde erblicken sie (die Arbeiter) in der Gewerkschaft keineswegs ein voruebergehendes Produkt der kapitalistischen Gesellschaft, sondern die Keimzelle der zukuenftigen sozialistischen Wirtschaftsorganisation.” Wenn Stowasser von einem ”Klassenkampf ohne Klasse” spricht, frage ich mich doch, wo lebt er? Nur weil es heute kein Klassenbewusstsein mehr gibt, sind doch noch lange nicht die Klassenschranken gefallen. Soll es ploetzllich verkehrt sein sich darum zu bemuehen, moeglichst viele Menschen zu organisieren und gilt das schon als gescheitert, nur weil zwar die ueberwiegende Zahl der Menschen direkt oder indirekt lohnabhaengig ist, die Notwendigkeit sich fuer ihre Interessen selbstbestimmt zu organisieren aber zur Zeit nicht sieht?
Der Anarchosyndikalismus muss sich weiterentwickeln und darf nicht in starrem Traditionsdünkel stecken bleiben, aber einen Grund ”seine Struktur von ihren historischen Bindungen lösen” zu wollen, wo ist der gegeben? Ein paar Seiten weiter beantwortet Stowasser diese Frage für sich so ”Schliesslich ist die anarchistische Gewerkschaftsidee nichts weiter als ein auf die Arbeitswelt angewandter >projektanarchistischer< Ansatz.”
Wenn Stowasser den Projektanarchismus dem Anarchosyndikalismus vorzieht, so ist dem nichts entgegenzusetzen. Die anarchistische Bewegung lebt von ihrer Vielfalt und das heutige Gesellschaftssystem laesst sich allemal besser aendern, wenn wir es von so vielen Seiten wie moeglich versuchen. Warum dann aber mit solchen Saetzen um sich werfen wie ”Gewiss machen auch heute noch einige Gruppen wackerer Anarchas und Anarchos in Nostalgie und halten das Banner des Proletariats hoch.”
Wozu sollen solch Saetze in einem Einfuehrungswerk zum Anarchismus dienen, wenn nicht der Diskreditierung eines Teils der Bewegung? ”Organisation bedeutet ihre Buendelung zur Konfrontation, Wurzelwerk ihre Diffusion zur Infiltration. Die Entwicklung der libertaeren Bewegung seit 1968 geht eindeutig in Richtung dieses subversiven Einsickerns” (Seite 351)
Dem langsam aufgebaute negativen, veralteten Image des Anarchosyndikalismus wird nun mehr und mehr die These draufgesetzt, dass moderner Anarchismus sich als wirkender Teil einer sozialen Gruppe oder Bewegung” versteht ”sie difundieren”. Difundieren, Infiltrieren, als Teil einer Bewegung oder Projekt in einer Gemeinde, das alles hoert sich fuer mich mehr nach einem Anarchismus durch die Hintertuer an, als eine offene ehrliche politische Arbeit. Nicht von ungefaehr wird auch auf dem Klappentext lediglich von einem ”libertaeren Grossprojekt in Suedwestdeutschland” gesprochen und das Kind nicht beim Namen genannt, als Projekt ”Wespe” in Neustadt a.d. Weinstrasse. Seit wann so hintenrum, das kann doch nicht unser Ziel sein.
Gilt noch zu beweisen, dass das alles viel effektiver ist als ”in Nostalgie” zu tun: ”Die meisten Anarchos der Nach - APO - Zeit aber agieren in kleinen, meist informellen Gruppen und engagieren sich in allem, was ihnen ueber den Weg lief. Anfang der Siebziger schaetzte man ein- bis zweitausend Libertaere, was etwa einem Hundertstel der Staerke der Vorkriegszeit entsprach, waehrend die Aktionsfelder, in denen diese Handvoll Menschen drinsteckt, um ein Zehnfaches hoeher lag.”
Ein interessante These, die Vorkriegsbewegung mit ihren Frauenverbaenden, Jugendorganisationen, Gewerkschaften, Genossenschaftsprojekten, Landkommunen, Wohnungsbaugesellschaften, Verlagen, Volkskuechen, Turnvereinen, Choeren und und und... soll tatsaechlich wesentlich weniger ”Aktionsfelder” abgedeckt haben als die diffundierende Nach-APO- Bewegung. Das haette ich gerne genauer erklaert gehabt.
Nach und nach mehren sich merkwuerdig konstruierte Behauptungen.
Zum Thema ”Anarchismus in der Aera Kohl” (Seite 359) begegnen uns die ”Aktionsfelder” wieder: ”Der Wust an Aktionsfeldern, in die sich die Anarchisten der Nach-APO-Zeit gestuertzt hatten, ist zugunsten einer kontinuierlicheren Arbeit zusammengeschmolzen. Das beguenstigte die Herausbildung einiger vergleichsweise stabiler Projekte, die sich innerhalb der spezifisch anarchistischen Bewegung einrichten konnten.” Aufgezaehlt werden dann Zeitungsprojekte, zu seinem Projektanarchismus kommt er erst spaeter wieder. Worin aber der Vorteil liegen soll, zu Zeitungsprojekten zusammenzuschmelzen bleibt fraglich.
In diesem Zusammenhang wird auch auf die FAU direkt eingegangen. ”Die FAU ist indes nicht, wie zu vermuten waere, eine Gewerkschaft, sondern muss sich mangels Basis in den Betrieben mit der Rolle eines Propagandaverbandes begnuegen, der die Idee des Anarchosyndikalismus vertritt.” Wir behaupten nicht, dass Gewerkschaftsarbeit einfach ist heutzutage, wir sind sicher auch nicht in der Lage zu branchenweiten Streiks aufzurufen. Aber was heisst hier fehlende Basis, die Basis sind wir, die sich organisieren und da wo wir stehen, versuchen wir auch gewerkschaftlich zu arbeiten, das ist auf Grund unserer geringen Groesse bestimmt nicht spektakulaer aber sicher mehr als reines Zeitungsverkaufen. Ab wann zaehlt denn eine Organisation als Gewerkschaft - wenn sie ”tariffaehig” wird? Abgesehen davon, dass das vielleicht gar nicht unser Ziel ist, scheint da doch stark aus buergerlichen Gedankenmuster argumentiert zu werden und weniger aus der Kenntnis unserer Arbeit.
Im Laufe des Buches wiederholt sich immer wieder der Vorwurf an den Anarchosyndikalismus, veraltet zu sein, und die Herausstellung des Projektanarchismus als die Loesung. Eine, von Stowasser an anderer Stelle geforderten, ”Einstellung positiver Toleranz”(Seite 366) dient dies nicht gerade.
Hier wird es sicher nicht verwundern, dass ich dem Kapitel ”Die Zukunft” auch nicht so recht folgen mag. Hatte ich urspruenglich noch neue innovative Ideen erhofft, ahnte ich spaeter schon, was kommen mag. Einleitend gelangt es nur zu einer persoenlichen Aufarbeitung von Anspruechen, die ihm innerhalb seines Projektes bezueglich seines patriachalen Schreibstils gestellt wurden. Er haette sich besser mehr auf diese Diskussion eingelassen, statt das Projekt ”Wespe” zu verlassen. Vielleich haette er dann nicht so frauenfeindliche Saetze gebracht wie diesen: ”Die Eckwerte solcher Experimente finden sich in vielen praktischen Initiativen wieder, ... : freies Leben, nachvollziehbare Beispielhaftigkeit, Einklang mit der Natur,..., Offenheit und Respekt vor der Einzigartigkeit jedes Menschen und natuerlich auch der Eigenheit von Frauen und Kindern.”(Seite 299). Zukunftsweisend ist diese Passage auf jeden Fall nicht. Dafür finden sich arg gewagte Thesen: ”Gerade die Yuppie-Generation ist groesstenteils hochqualifiziert und durchaus intelligent. Irgendwann werden immer mehr von ihnen feststellen, dass das Leben doch wohl noch mehr zu bieten haben muesste. Dass es keinen Sinn macht sich jahrelang fuer ein schnelles Auto zu verschulden. ... Nun braucht eine solche Sinnkrise nur noch mit massiven Erschuetterungen in Weltpolitik und -oekonomie zusammentreffen - und schon wuerde aus dem persoenlichen Weltschmerz urploetzlich ein tiefer Zweifel am gesamten System. ...
In dem Moment, wo sich eine ”schweigende Mehrheit” verunsichert nach Alternativen umschaut, muessten auch welche da sein. ... Das waere die grosse Stunde von Strukturen, wie wir sie im modernen Projektanarchismus kennengelernt haben der Augenblick, wo sich seine Wurzelwerke zu bewaehren haetten und sich auch aktiv handelnd als revolutionierende Kraft einbringen koennten.” (Seiten 386+387)
Anstelle von aktuellen Analysen treten hier selbstgestrickte Vermutungen, das ist wohl eher nicht das Zeug, auf den sich unsere Zukunftsäußerungen aufbauen sollten.
Wäre das Werk bei der Einführung und dem historischen Teil belassen worden, es wäre immer noch dick genug und würde wirklich zur Heranführung an den Anarchismus dienen, so scheint der Versuch gemacht worden zu sein, eine bestimmte Richtung des Anarchismus hervorzuheben, noch dazu gepaart mit dem Herabsetzen anderer Herangehensweisen. Dies unter dem Anspruch eines Einführungswerkes, als Autor mit seiner Autorität des Wissenden, dem Insiders, grenzt an Machtmissbrauch und ist nicht sonderlich anarchistisch.
Für die Interessierten kann das zu Verwirrungen führen, da sich die Realität nicht mit den konstruierten Beispielen decken wird. Für die Aktiven unter uns kann es eher zu gegenseitigen Misstrauen führen, statt zu einem gemeinsamen Blick nach vorne. Insgesamt vermisse ich die gegenseitige Toleranz, da ist noch eine große Lücke zwischen selbst erklärtem Anspruch und eigenem Handeln.
Von einem Gründungsmitglied der FAU-IAA hatte ich anderes erwartet.
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