4. Was wollen die Anarchisten?
Keine Macht für niemand!
Ton-Steine-Scherben
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Es gibt viele gute Gründe, weshalb Anarchisten es immer vermieden haben, verbindliche Programme für eine künftige Gesellschaft aufzustellen; der Mangel an Ideen gehört mit Sicherheit nicht dazu. Eher das Gegenteil: die Überzeugung, daß eine an-archische Gesellschaft sich aus vielen unterschiedlichen Gesellschaften, Formen und sozialen Organismen zusammensetzen wird, hat sie seit jeher davon abgehalten, schon jetzt die Utopie von morgen in das Korsett programmatischer Vorschriften zu zwängen.
Kein starres Programm
Eine Gesellschaft nach dem Geschmack der Anarchisten ist kein starres Gebilde, Anarchie wird nicht eines schönen Tages ›erreicht‹ sein. Niemand anderes als die an ihm beteiligten Menschen werden festlegen, wie sie leben und sich organisieren wollen, und deren Vorstellungen werden vermutlich unterschiedlich sein. Deshalb müssen wir uns ›die Anarchie‹ als ein Gebilde vorstellen, das in einem bestimmten geografischen Raum nicht etwa nur eine Lebensform, eine Ethik, eine Art sozialer Organisation kennt, sondern zur gleichen Zeit viele verschiedene nebeneinander, die sich je nach Interessen, Neigung, Notwendigkeiten und Bedürfnissen frei verbinden.
Zugegebenermaßen eine schwierige Vorstellung für uns, die wir gewohnt sind, daß der Staat auf seinem exakt definierten Territorium eifersüchtig darüber wacht, daß alle seine Bürger einer Norm — der staatlichen — gleichermaßen unterworfen sind. Wir kennen nichts anderes; entsprechend exotisch kommt uns die anarchistische Gesellschafts- und Organisationstheorie vor. Ihre Struktur wird oft als ein Netzwerk beschrieben, und aus der Biologie wird das Bild des Mycels bemüht — jener chaotischen Pilzgeflechte, die extrem vital und überlebensfähig sind. All das mag an dieser Stelle eher verwirrend als erklärend wirken — wir werden darauf noch eingehen.
Im Augenblick soll uns genügen, daß auch bei der Frage nach der anarchistischen Zielvorstellung der Wunsch nach Vielfalt eine eindeutige oder gar eine dogmatische Antwort verhindert.
Ein weiterer Grund gegen eine anarchistische Programmatik sei noch genannt, auf den besonders Bakunin hingewiesen hat. Für ihn kann eine völlig neue Gesellschaft nur aus der völligen Überwindung der alten Gesellschaft entstehen. Heutige Menschen, autoritär geprägt und staatlich geformt, seien kaum in der Lage, wirklich neue Ideen hervorzubringen; in all ihren Entwürfen schlummere der Keim des Alten, der früher oder später wieder hervorbrechen müßte. Eine neue Gesellschaft, so Bakunin, könne nur aus Amorphismus entstehen, das heißt, aus der Zerstörung der alten.
Der Vorwurf, Bakunin wolle erst alles ›kaputtschlagen‹, um etwas Neues aufbauen zu können, tut ihm sicherlich unrecht. Mit dem Begriff ›Zerstörung‹ verband er nicht, Städte oder Fabriken in die Luft zu sprengen — ihm ging es um die Zerschlagung von Institutionen und Herrschaftsmechanismen. Andererseits bleibt der radikale Denker eine plausible Antwort darauf schuldig, wie er die Lücke zwischen Amorphie und neuer Gesellschaft zu schließen gedenkt — wann und wo also neue ›Tugenden‹ und Einrichtungen entstehen sollen. Spontaneität und Phantasie allein dürften dazu kaum ausreichen.
Spätere anarchistische Denker haben diese Frage schlüssiger beantwortet; hier soll im Moment nur interessieren, daß der von Bakunin eingebrachte Vorbehalt nicht einfach abgetan werden kann: daß nämlich Konzepte und Programme, die der unfreien Atmosphäre einer autoritären Gesellschaft entstammen mit Sicherheit nicht so frei, kühn, souverän und visionär* sein können wie die Ideen, die Menschen womöglich in einer befreiten Gesellschaft entwickeln könnten.
Daher braucht der Anarchismus weniger Programme und Regeln einer künftigen Gesellschaft, als vielmehr ein allgemeines Modell wandelbarer Strukturen.
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Ideen und Positionen
"Ja, zum Kuckuck, wollen die Anarchisten denn überhaupt irgendetwas Konkretes, oder verstecken sie sich nur hinter Ausflüchten, warum sie dieses oder jenes nicht wollen - -?"
Doch, es gibt konkrete Vorstellungen; die Anarchisten haben nur kein starres Programm daraus gemacht.
Das Ziel des Anarchismus ist die Abschaffung der Herrschaft von Menschen über Menschen; im Zentrum seiner politischen Aktivität steht ein sozial geprägter Freiheitsgedanke. Hieraus leitet er die Notwendigkeit ab, den Staat abzuschaffen. Der Staat sei schließlich kein Phantom, sondern ein Ausdruck ganz bestimmter — vor allem wirtschaftlich bedingter — Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Es geht also nicht um die Feindschaft zu dieser Regierung oder jenem Tyrannen, sondern darum, den Staat an sich zu bekämpfen und zugleich Alternativen zur Staatlichkeit zu entwickeln.
Aus diesem allgemeinen Ziel ergibt sich eine Reihe praktischer Forderungen, Ideen und Ziele, die sich die anarchistische Bewegung im Laufe ihrer Geschichte zu eigen gemacht hat:
Gleiche Freiheit für alle Menschen einer Gesellschaft. Niemand soll herrschen, das Leben soll gemeinschaftlich von den betroffenen Menschen selbst organisiert werden. Daraus ergeben sich soziale Systeme, in denen soviel Kollektivität* wie nötig und soviel Individualität* wie möglich nebeneinander bestehen. Den Grad von ›nötig‹ und ›möglich‹ entscheidet der einzelne Mensch nach seinen Bedürfnissen, insofern er sich ›seine‹ Gesellschaft aussuchen oder schaffen kann. Keine Gleichmacherei, aber gleiche Chancen und Rechte.
Diese Forderung scheitert in erster Linie an wirtschaftlicher Ungerechtigkeit. Deshalb treten die Anarchisten für die Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise ein, die sie als menschenverachtend, umweltzerstörend und in ihrem Wachstumszwang als irrational* ansehen. An ihre Stelle wollen sie nicht etwa die sozialistische Planwirtschaft setzen, sondern eine dezentrale und föderierte solidarische Bedarfswirtschaft, in der die Ökologie über der Ökonomie* und die Bedürfnisse der Menschen über denen des Profits stehen.
Eng mit der sozialen Gleichheit verknüpft ist die Forderung nach Überwindung von Klassen, Schichten und Machthierarchien. Menschen sind nach anarchistischer Auffassung durchaus unterschiedlich und sollen es auch bleiben, aber keine soziale Schicht soll kraft ihrer Geburt oder aus wirtschaftlichen, religiösen, rassischen oder geschlechtlichen Gründen Privilegien* genießen. Hieraus ergibt sich ein ganzer Katalog einzelner Forderungen, der von der ›direkten Demokratie‹ über die Kritik an Religion, Patriarchat* und Familie bis hin zum Besitz- und Erbrecht reicht.
Mit der Überwindung des Staates werden auch sein Apparat und seine Institutionen in Frage gestellt: Regierung, Bürokratie, Armee, Grenzen, Justiz, Polizei, Medienhoheit, Erziehungsmonopol* und dergleichen. Für diejenigen Funktionen des Staates, die ihrem Wesen nach notwendig sind, bemüht sich der Anarchismus um die Schaffung alternativer Modelle. Ihre Basis sind gemeinsame Bedürfnisse, ihre Elemente* Selbstorganisation, freie Vereinbarung, dezentrale Vernetzung und autonome Föderation. Aus den als überflüssig verstandenen Staatsfunktionen erwachsen typisch anarchistische Aktionsfelder wie beispielsweise der Antimilitarismus, die freie Erziehung oder die bürokratiefeindliche Selbstverwaltung.
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Direkt nach dem Staat rangiert die Kirche als klassische freiheitshemmende Institution. Die meisten Anarchisten sind Atheisten und lehnen Religion ab. Sie unterwerfen sich nicht gerne höheren Wesen oder Mächten; die Kirche betrachten sie als eine gigantische* Einrichtung der Verdummung. Dabei wollen Anarchisten niemandem das Recht auf Glauben absprechen, solange dieser anderen Menschen nicht die Freiheit einschränkt. Tatsächlich gibt es zwischen der Ethik einiger Religionen und der des Anarchismus zahlreiche Übereinstimmungen. Der Anarchismus ist deshalb eher antiklerikal* als antireligiös.
In freien Gesellschaften darf es kein Eigentum an Menschen mehr geben. Anarchisten wenden sich deshalb gegen die alltäglichen Abhängigkeits- und Unterdrückungsverhältnisse - speziell die von Frauen und Kindern. Die meisten Libertären lehnen daher auch die Institution der Ehe und der ›bürgerlichen Kleinfamilie‹ ab. In ihr sehen sie eine wichtige Stütze des Staates. Sie ziehen freiwillige Zusammenschlüsse nach dem Prinzip der Wahlverwandtschaft vor, etwa in Großfamilien, Wohngemeinschaften oder Kommunen, deren Zusammensetzung wechseln kann.
Das bedeutet übrigens nicht, daß alle Menschen so leben mußten, oder daß sich zwei Menschen nicht etwa lebenslang lieben und ›treu‹ sein dürften — vorausgesetzt, sie tun dies freiwillig und ohne den erpresserischen Zwang des Eherechts. Vielmehr geht es darum, auch andere Formen zuzulassen, und die in normalen Familien übliche Hierarchie zu überwinden: Frauen und Kinder sollen als gleichberechtigte Menschen akzeptiert sein, und die religiös gefärbte Sexualmoral soll einer lustvollen Gleichberechtigung weichen. Das Patriarchat als die bei uns gängige Form der Herrschaft steht damit automatisch im Zielkreuz anarchistischer Kritik.
Eine noch so schöne Utopie kann nicht in einer sterbenden Welt gedeihen. Der Mensch kann nur im Einklang mit seiner Umwelt überleben. Anarchisten gehen davon aus, daß die dringend nötigen ökologischen Veränderungen so radikal sein müssen, daß sie im Rahmen einer kapitalistischen Wachstumswirtschaft kaum möglich sind. Sie meinen,, daß eine dezentrale Organisation kleiner Einheiten mit einer ›Bedürfniswirtschaft nach menschlichem Maß‹ die einzig wirklich ökologische Gesellschaftsstruktur ist und deshalb das Modell der Zukunft sein wird.
Kein Paradies
Anarchisten räumen ein, daß es auch in einer libertären Gesellschaft Ungerechtigkeit, Kriminalität und Aggression geben wird. Anarchistische Modelle versprechen kein Paradies, sondern versuchen, Strukturen zu entwickeln, in denen sich soziales Fehlverhalten soweit reduziert, daß man mit dem verbleibenden Rest anders verfahren kann. Kriminelle etwa sollten nicht als Delinquenten* angesehen und bestraft werden, ihnen müsse Hilfe erwachsen. Psychisch kranke Menschen dürften nicht isoliert, sondern sollten in die Gesellschaft aufgenommen werden. Gefängnisse, psychiatrische Anstalten, Erziehungsheime und Strafen seien Bankrotterklärungen eines hierarchischen Systems vor Problemen, die es überwiegend selbst hervorbringe.
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Für einen Anarchisten ist Freiheit ein unteilbares Gut. In unseren Gesellschaften sind wenige Menschen ›frei‹ auf Kosten der Unfreiheit vieler - das gilt ökonomisch, politisch und psychisch. Mit Leichtigkeit gelingt es den Massenmedien, die ›Freiheit‹, die sich reiche Menschen dadurch erkaufen können, daß sie ärmere Menschen ausbeuten, als das Ideal des ›freien Westens‹ zu verkaufen. Diese Ungerechtigkeit existiert nicht nur in den Ländern, in denen wir leben, sondern in großem Maßstab auch weltweit zwischen armen und reichen Nationen, in dem Verhältnis zwischen "Erster", "Zweiter" und "Dritter Welt".
Anarchisten treten deshalb für weltweite Modelle der Vernetzung ein, die die wirtschaftliche und kulturelle Versklavung überwinden und allen Menschen ein Leben in Würde und ohne Mangel bieten können. Dann würden Massenfluchten aus Armut vom Süden in den Norden, vom Osten in den Westen von selbst aufhören; eine Gesellschaft ohne Grenzen müßte nicht länger eine Utopie bleiben. Das ist einer der Gründe, weshalb sich der Anarchismus gegen Imperialismus*, Rassismus* und Kolonialismus* in all seinen alten und neuen Formen wendet.
Die Liste solcher anarchistischen Essentials* könnte man noch lange fortsetzen und sich dabei in Details verlieren. Sie alle sind indes nichts anderes, als die praktische Nutzanwendung des umfassenden anarchistischen Freiheitsprinzips auf die soziale Realität, die uns umgibt. Auf diese Weise ist nun doch so etwas wie ein programmatischer Katalog libertärer Forderungen entstanden. Aber auch für diesen ›Katalog‹ gilt: Anarchie ist ständig der Veränderung unterworfen. Sobald sie erstarrt und Dogmen gebiert, ist sie nicht mehr Anarchie. Phrasenhafter Antiimperialismus, gebetsmühlenhafter Klassenkampf oder blinder Geschlechterkrieg werden nicht etwa dadurch gescheiter, daß sie sich mit anarchistischer Globalität garnieren. Leider sind auch Anarchisten nicht immer so undogmatisch wie sie behaupten und keineswegs gegen doktrinäres Schwarzweißdenken immun.
Für einen Anarchisten kann sich alles ändern: die Wahrnehmung, die Erfahrungen, die Prioritäten*, die persönlichen Einsichten und die eigene Kraft - nur nicht das Ziel. Das Ziel ist eine wahrhaft freie Gesellschaft. Alles weitere sind Mittel, dieses Ziel zu erreichen, und die richten sich nach den Bedürfnissen der beteiligten Menschen.
Literatur:
/ Errico Malatesta: Ein anarchistisches Programm Karlsruhe o.J., ABF, 15 S.
/ Alexander Berkman: ABC des Anarchismus Meppen 1971, AVN, 23 S.
/ Nestor Machno: Das ABC des revolutionären Anarchisten Osnabrück o.J., Packpapier, 40 S.
/ Herbert Read: Philosophie des Anarchismus Berlin 1982, AHDE, 34 S.
/ Paul Goodman: Anarchistisches Manifest Westbevern 1977, Büchse der Pandora, 64 S.
/ Gruppi Anarchie Federati: Ein anarchistisches Programm Berlin 1984, Libertad, 55 S.
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5. Was tun die Anarchisten?
Anarchisten bekämpfen keine Menschen, sondern Institutionen.
-- Buenaventura Durruti --IHREN KAMPF GEGEN staatliche Strukturen und für eine freie Gesellschaft führen Anarchisten mit den unterschiedlichsten Mitteln: durch Aufklärung und Medien, den Aufbau von Gegenkultur und Selbstverwaltungsmodellen ebenso wie durch Provokation, direkte Aktion, Streiks und Demonstrationen. All das ebensogut als Einzelkämpfer wie in losen Gruppen, Gewerkschaften oder spezifischen Organisationen. In ihrer Geschichte versuchten sie alle Arten von Protest und Widerstand bis hin zur Schaffung befreiter Gebiete, in denen soziale Experimente gedeihen konnten. Eine Eroberung der Macht im Staate jedoch, schrittweise politische Reformen im Rahmen des Systems, die Beteiligung an Wahlen, politischen Parteien und Regierungen lehnen sie in der Regel ab. Sehr früh haben sie die Erfahrung gemacht, daß staatliche Systeme eine große Integrationskraft* besitzen, und Macht korrumpiert*.
Natürlich bewegen auch Anarchisten sich meist in kleinen Schritten auf ihr großes Ziel zu. Sie machen sich dabei aber nicht zum Teil des Staates und seines Systems; ihre Modelle sind vielmehr so angelegt, daß sie tendenziell gegen staatliche Institutionen gerichtet sind und Herrschaftsstrukturen zersetzen, um so in ihrem Schöße die Keime einer neuen, herrschaftsfreien Gesellschaft entstehen zu lassen.
Destruktiver und konstruktiver Anarchismus
Im Grunde gibt es zwei verschiedene Vorgehensweisen der Anarchisten. Die eine sieht in erster Linie den Gegner und versucht, ihn anzugreifen und seine Macht zu zerstören. Hier reduziert sich Anarchismus zumeist auf bloße Staatsfeindlichkeit; die Frage nach dem Aufbau einer anderen Gesellschaft ist zweitrangig. Gedacht wird überwiegend in militärischem Kategorien*: Verteidigung, Angriff, Vernichtung des Gegners. Solches Verhalten erschöpft sich fast immer in einer Geste der Herausforderung.
Die andere sieht das Ziel als vorrangig an. Für sie ist der Staat ein Hindernis auf dem Weg zu diesem Ziel, aber nicht der indirekte Daseinszweck des Anarchismus. Sowenig sie darum herumkommt, gegen dieses Hindernis zu opponieren und es zu bekämpfen, sosehr steht für sie doch die Frage nach konkreten und gangbaren Modellen im Vordergrund — Wege, die zu einer an-archischen Gesellschaft führen können.
Etwas überspitzt könnten wir die eine Richtung den destruktiven Anarchismus nennen, die anderen den konstruktiven. Die eine geht den Gegner direkt und frontal an, die andere versucht, ihn zu zermürben und überflüssig zu machen. Kampf oder List, offene Feldschlacht oder Katalysator* — das sind die extremen Pole anarchistischer Aktivitäten.
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Natürlich ist das grob vereinfacht, aber beide Formen lassen sich nachweisen: Zwischen dem bombenwerfenden Schlapphut-Anarchisten und dem körneressenden Einsiedler, der Liebe und Gewaltfreiheit predigt, gab es in der anarchistischen Bewegung so ziemlich jeden denkbaren Typus. Eines allerdings läßt sich klar sagen: Der berühmte Typ des Verschwöreranarchos, der sich voll Haß aufmachte, einen König in die Luft zu sprengen und glaubte, der Staat würde dadurch zusammenbrechen und die Anarchie kraftvoll erblühen, starb praktisch schon im vorigen Jahrhundert aus.
Diese sogenannte Propaganda der Tat war nur eine unter den zahllosen Aktionsformen, die der Anarchismus hervorgebracht hat - eine relativ kurzlebige obendrein. Zuvor haben Anarchisten an Volksaufständen teilgenommen und Geheimgesellschaften gegründet, Arbeitervereine aufgebaut, Bibliotheken und Schulen eingerichtet. Tauschbanken und Konsumgenossenschaften gehörten genauso zu ihrem Repertoire* wie Zeitschriften, Theater und Gesangvereine — ebenso Bankräuber, die sich stolz Expropriateure* nannten und brav jeden Pfennig bei ihren politischen Organisationen ablieferten oder Volksaufklärer, die mit dem Esel von Dorf zu Dorf zogen, den Menschen das Alphabet beibrachten und ihnen das Nahen der Anarchie verkündeten.
In späteren Jahren kamen unter dem Namen Anarchosyndikalismus* verstärkt die Gewerkschaften ins Spiel, mit deren Hilfe Anarchisten eine freie Gesellschaft mit libertärer Wirtschaft aufbauen wollten — was sie für kurze Zeit auch tatsächlich schafften. Aus Volksaufständen entstand in anderen Ländern die Taktik der Guerilla, die auch von Anarchisten genutzt wurde und vorübergehend in der Lage war, die Staatsgewalt zu besiegen und große Gebiete zu befreien. Erst Jahrzehnte später sollte die Guerillabewegung, unter kommunistischem Vorzeichen zur reinen Taktik der Machteroberung degradiert, als Mittel der Befreiung grandios scheitern.
Seit den Tagen Tolstois und den Taten Gandhis setzte sich in anarchistischen Kreisen vermehrt die Form des zivilen Ungehorsams durch, die eine besonders scharfe Waffe im Fundus des gewaltfreien Aktions-Anarchismus darstellt. Nach Studentenrevolten, autonomen Arbeiterkämpfen und heftigem Widerstand gegen Atomstaat, Militarismus und Wohnungsspekulation beginnen Anarchisten in unseren Tagen verstärkt mit dem Aufbau praktischer und lebendiger "Projekte". Diese Modelle allgemeiner Selbstverwaltung sollen im sozialen Alltag der Menschen verankert sein und sich vom herrschenden System nicht vereinnahmen lassen. Solche ›vorweggenommenen Utopien‹ versuchen, indem sie sich gegen Staatsgesellschaft wenden, zugleich Experimentierfeld für eine nichtstaatliche Gesellschaft zu sein.
Grundzüge anarchistischer Aktion
Ein typisches Kennzeichen anarchistischen Vorgehens ist die direkte Aktion. Anarchisten lieben gerade Wege und mißtrauen Winkelzügen. Die Betroffenen wenden sich mit Vorliebe direkt gegen die Verursacher ihres Problems, meist mit sehr wirkungsvollen Aktionen. Wo die einen Unterschriften gegen Wohnungsnot sammeln, würden Anarchisten eher ein leerstehendes Haus besetzen — der Prototyp* einer direkten Aktion.
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Die Frage, ob ein solches Handeln legal oder illegal ist, pflegen Anarchisten mit unbekümmertem Lachen zu ignorieren: ihnen steht menschliche Ethik über formalem Recht. Wenn jemand nichts zu essen hat, muß er sich Brot nehmen, auch wenn das Gesetz das Eigentum vor dem Hunger schützt. Direkte Aktionen können gewaltfrei oder militant sein, lustig, symbolisch oder unerhört praktisch; sie können von einem Menschen durchgeführt werden oder von hunderttausend — immer haben sie zwei entscheidende Vorteile: sie führen in der Regel ohne Umschweife zum Ziel und werden von den meisten Menschen sofort verstanden, eben weil sie direkt sind.
Spontaneität* ist ein weiteres Merkmal anarchistischer Aktion. Sie ergibt sich aus der Direktheit der Betroffenen, der dynamischen* Kraft der Empörung und der Lust an ungewöhnlichen Formen fast von selbst. Das Fehlen von Institutionen, Apparat und Bürokratie erleichtert spontanes Handeln. Langweilige Entscheidungsfindung durch viele Instanzen oder biedere Vereinsmeierei sind in anarchistischen Kreisen sehr ungewöhnlich. Viel lieber wird einer spontanen und originellen Idee der Vorzug vor verkrusteter Routine gegeben. Spontan sein kann man alleine ebensogut wie in der Gruppe, und letztendlich ist jeder Mensch frei, so zu handeln, wie er es gegenüber seinen Überzeugungen und seinen Mitmenschen vertreten kann.
Das ist natürlich ein heikler Punkt. Was ist, wenn Schüler mal ›ganz spontan‹ ihre Schule anzünden? Möglich, daß bei diesem Gedanken so manches Pennälerherz höher schlägt, aber das wäre weder eine direkte noch eine spontane Aktion im anarchistischen Sinne — dem steht ein dritter libertärer Grundsatz entgegen: die Anwesenheit des Ziels in den Mitteln: Das, was man erreichen will, muß auch in der Wahl der Mittel zum Ausdruck kommen. Freiheit kann nicht mit unfreien Methoden erreicht werden, Wahrheit nicht durch Folter, Glück nicht durch Zwang und Friede nicht durch Krieg. Das ist ein hoher moralischer Anspruch, und Anarchisten haben in der rauhen sozialen Wirklichkeit damit auch zu allen Zeiten ihre Schwierigkeiten gehabt.
Kann man seinen Gegner besiegen, ohne ihm weh zu tun? Wie sollte ein anarchistischer Milizionär im spanischen Bürgerkrieg gegen die Faschisten kämpfen, wenn nicht mit dem Gewehr? Mit schönen Worten und einem Blümchen in der Hand? Wohl kaum - obwohl die Idee so absurd nicht ist, denn daß mit gewaltfreien Mitteln Revolutionen gewonnen wurden und Armeen besiegt, dafür gibt es in der Geschichte ebensogut Beispiele wie für den Sieg durch das Gewehr. Trotzdem haben die Anarchisten in der Spanischen Revolution richtig gehandelt, als sie kämpften. Das Problem liegt woanders. In der Tragik nämlich, daß anarchistische Bewegungen sich meistens die Form ihrer Aktion nicht aussuchen können — sie wird ihnen aufgezwungen. In Spanien begann die Revolution mit einem Putsch der Faschisten, und nicht der Anarchisten ...
Nichts ist unanarchistischer als eine Armee, Krieg und Töten. Aber meist ließ die Geschichte den Anarchisten nicht die ›Wahl der Waffen‹. Um so mehr Grund für sie, auf diesem schwierigen Prinzip der Anwesenheit des Ziels in den Mitteln zu beharren und es immer dort, wo sie die Formen der Aktion bestimmen können, zu beherzigen.
Zwischen Empörung, direkter Aktion, Spontaneität und der Vision einer freien, menschlichen und gewaltfreien Gesellschaft gibt es kein besseres Regulativ*.
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6. Kritik am Staat
Der Staat ist eine Abstraktion, die das Leben des Volkes verschlingt -
ein unermeßlicher Friedhof, auf dem alle Lebenskräfte eines Landes
großzügig und andächtig sich haben hinschlachten lassen.
Michail Bakunin"WAS SOLL AM STAAT denn schon so schlimm sein, daß die Anarchisten sich derart in ihn verbeißen? Sicher, der Staat engt mich irgendwie ein, Politiker lügen, korrupte Beamte gibt es auch; das Finanzamt ist ein Raubritternest und die Armeen verpulvern unsere Steuergelder. Aber der Staat baut auch Straßen, unterhält Schulen, und wenn ich alt bin, hält er für mich meine Rente bereit. Leiden die Anarchisten vielleicht unter einer Staatspsychose*, daß sie ihn für die Ursache allen Übels halten?"
Solche Argumente sind jedem Anarchisten geläufig. Kaum jemand liebt den Staat, viele schimpfen über ihn, und leicht stimmt der Normalbürger auch mal einem Anarcho zu, wenn er gegen diese oder jene Schweinerei wettert. Doch dann kommt stets das große "Aber ..." und das bedeutet meist nichts anderes als: "Es könnte ja alles noch viel schlimmer sein". Die glühenden Patrioten sind ausgestorben; moderne Staatsbürger haben eine negative Identifikation* mit dem Staat, und diese Haßliebe ist zäh und schwerer zu erschüttern als der hohle Nationalismus vergangener Epochen — ein Phänomen, das Anarchisten übrigens oft unterschätzen.
Nun ist ja die unbestreitbare Tatsache, daß alles noch schlimmer sein könnte, kein Grund, nicht dafür einzutreten, daß alles noch besser werden sollte. Eben das versuchen Anarchisten, wobei sie ständig an Grenzen stoßen, die der Staat setzt. Sie haben dabei oft festgestellt, daß es auch mit seinen positiven Seiten nicht immer weit her ist. In der Tat gibt es keine einzige Dienstleistung des modernen Staates, die spezifisch* staatlich wäre. Angefangen von der Post über die Eisenbahn, Krankenhäuser, Straßen- und Brückenbau, Universitäten und Schulen bis hin zu Rentenversorgung, Altersversicherung und Arbeitslosenunterstützung hat sich der Staat im Laufe der Jahrhunderte eine ganze Latte positiver gesellschaftlicher Errungenschaften schlicht unter den Nagel gerissen. Alle diese Einrichtungen entstanden unabhängig von Regierungen aus der Gesellschaft, und Gesellschaft ist nicht gleich Staat. Ihre Ursprünge liegen in Dorfgemeinden, Klöstern, Handwerkergilden, Privatfirmen, Einzelinitiativen oder der kollektiven Selbsthilfe Betroffener. Erst nach langer Zeit, oft unter Druck von Sozialreformern und gegen den Widerstand von Regierungen, haben sich Staaten solche Einrichtungen angeeignet. Ob unsere modernen ›Sozialstaaten‹ mit ihrem bürokratischen Apparat diese Aufgaben optimal, human, gerecht und effektiv erfüllen, ist eine Frage, die selbst Politiker zunehmend bezweifeln. Die Tatsache, daß immer mehr dieser Bereiche in die Privatwirtschaft zurückgegeben werden — was natürlich kaum eine bessere Alternative ist —, läßt eher auf das Gegenteil schließen.
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Soziale Aufgaben machen den Staat nicht aus. Was den Staat tatsächlich ausmacht — und was er auch nie privatisieren würde —, sind seine spezifischen Institutionen wie Regierung, Parlament, Bürokratie, Staatsbeamtentum, Steuerhoheit, Geld- und Erziehungsmonopol, Justiz, Polizei, Armee, Geheimdienste, Zoll, Fernseh- und Rundfunkhoheit und nicht zuletzt das Recht, jeden zu bestrafen und notfalls zu töten, der gegen eines dieser Dinge aufbegehrt. Dies sind die eigentlichen Funktionen von Herrschaft — sie sind genuin* staatlich. Alles andere ist usurpiert*.
Der moderne ›demokratische‹ Staat ist noch kaum hundert Jahre alt, aber schon tut er so, als läge ausgerechnet im Sozialen sein Wesen.
Arroganz der Macht
Wie anmaßend all diese spezifisch staatlichen ›Rechte‹ sind, wird ohne weiteres klar, wenn Jemand anderes als der Staat sie in Anspruch nehmen wollte. Versuchen Sie einmal, von Ihren Mitmenschen unter der Androhung von Strafe und Verfolgung regelmäßig Gelder einzutreiben. Was wäre, wenn Sie auf die Idee verfielen, einen Menschen, der gegen Ihre Grundsätze verstößt, jahrelang in einen kleinen Käfig zu sperren oder sich das Recht herausnähmen zu entscheiden, daß er nicht länger leben darf und ihn umbrächten? Oder bezahlen Sie ein paar Männer, geben ihnen Helm, Knüppel und Pistole und lassen sie auf all diejenigen los, die anderer Meinung sind oder andere Interessen verfolgen! Und wenn Sie gar in der Lage wären, technische Einrichtungen zu schaffen, mit denen Sie auf einen Schlag Millionen von Menschen töten und ganze Städte vernichten könnten — wie würde man das wohl finden?
Kein normaler Mensch würde von sich aus zu einem solchen Horrorszenario greifen und schon gar nicht versuchen, das auch noch ethisch zu rechtfertigen. Im Gegenteil: solche Dinge sind bei uns mit Fug und Recht geächtet und verboten. Es wäre schlicht ›räuberische Erpressung‹, ›Freiheitsberaubung‹, ›Körperverletzung‹, ›Mord‹, ›Bildung einer kriminellen Vereinigung‹, ›Terrorismus‹ oder ›Völkermord‹. Tut der Staat jedoch die gleichen Dinge, bekommen sie die Aura* ethischer Notwendigkeit und wohlklingendere Namen: ›Steuerrecht‹, ›Justiz‹, ›Todesstrafe‹, ›Polizei‹, ›Armee‹, ›Verteidigung‹ oder ›moderne Waffensysteme‹. Wir alle kennen diesen Widerspruch: Töte ich einen Menschen als Bürger, bin ich ein Mörder — tue ich es für den Staat als Soldat, bin ich ein Held.
Natürlich gibt es unzählige Rechtfertigungen für staatliche Privilegien: "Ohne die harte Hand des Staates würden die Menschen sich gegenseitig zerfleischen". "Die Alternative zu staatlicher Unterdrückung wäre Chaos". Und die dreisteste von allen: "Der Staat, das sind wir ja selber, und er tut das alles nur, weil wir es wollen — zu unserem Besten und mit beachtlichem Erfolg."
Bilanz des Versagens
Daß wir der Staat seien, ist ein frommes Märchen, an dem eigentlich nur erstaunt, daß so viele Menschen daran glauben — wir werden uns dieser Frage im nächsten Kapitel zuwenden. Daß er uns zu unserem Besten unterdrücke, ist ein groteskes* Argument, das uns selbst jegliche Mündigkeit abspricht.
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Aber es soll ja auch Kinder geben, die nach einer Tracht Prügel von Eltern oder Lehrer noch obendrein ein schlechtes Gewissen haben, sich bedanken und meinen, es geschähe ihnen recht.
Ist aber trotz allem das staatliche System nicht recht erfolgreich?
Wenn wir unter ›Anarchie‹ einmal die landläufige negative Bedeutung verstehen wollen, nämlich Chaos, so haben wir sie heute: weltweit und flächendeckend. Ein System, in dem genug Nahrung produziert wird und wo dennoch täglich Zigtausende Menschen verhungern, ist ein Irrsinn. Ein System, das periodisch organisierte Massenmorde anordnet, ist unmenschlich. Ein System, das diesen Planeten zunehmend ausplündert und unbewohnbar macht, ist selbstmörderisch. Ein System, das zehn Prozent der Menschheit Reichtum beschert und die große Mehrheit der Ärmsten immer weiter ausplündert, ist niederträchtig. Ein System, das seine Bürger nur dadurch davon abhalten kann, sich gegenseitig umzubringen, indem es sie wiederum selbst mit dem Tod bedroht, ist eine moralische Bankrotterklärung.
Wenn Anarchisten in einer Diskussion ein solches System ernsthaft vorschlügen, würden sie mit Recht ausgelacht. Man müßte sie Zyniker* nennen. Aber dieses System haben wir heute überall, es herrscht auf jedem Stückchen Land dieser Erde, und wir leben mittendrin. Es ist das staatliche System, das unterm Strich völlig versagt und weltweit ein Chaos von unvorstellbarem Ausmaß hervorbringt. Wir nehmen es nur nicht wahr, denn wir sind gewohnt, in zweierlei Maß zu denken. Vergessen wir nicht: Staat existiert nicht nur in unseren liberalen, westlichen Demokratien, in denen es sich zugegebenermaßen besser leben läßt — Staat, das ist auch Bangladesch und Burkina Faso, Haiti und Laos, Ruanda und Kambodscha. Idi Amin und Helmut Kohl, Saddam Hussein und Boris Jelzin, Hitler und Kennedy sind letztlich Vertreter derselben Struktur. Die Unterschiede zwischen verschiedenen Regimen sind keine prinzipiellen Unterschiede, sie sind andere Erscheinungsformen ein und derselben Idee: der Staatlichkeit.
Der Staat als Interessengeflecht
Derartige Kritik am Staat und seinen Organen ist typisch für den Anarchismus. Für ihn ist der Staat nicht zufällig in die eine oder andere Unzulänglichkeit unserer Gesellschaft verwickelt, sondern von vornherein der falsche Denkansatz, eine untaugliche Organisationsstruktur. Er ist gewiß nicht die ›Ursache allen Übels‹, aber er bündelt viele Übel, repräsentiert und verstärkt sie, erzeugt viele der Probleme erst, die er dann zu bekämpfen vorgibt. Vor allem aber stehen Staaten jeder tiefgreifenden sozialen Änderung als Hindernis entgegen, denn der Staat ist ein Selbstzweck. Er will um jeden Preis überleben und darin ist er zäh und anpassungsfähig. Das Beispiel zahlloser Revolutionen, die mit freiheitlichen Ansprüchen angetreten waren, eine bessere Gesellschaft aufzubauen und zu neuer Diktatur wurden, zeigt, wie hartnäckig sich Staatlichkeit, Zentralismus, Hierarchie und Bürokratie einnisten. Sie kämpfen äußerst erfolgreich um ihr Überleben und überwuchern alles Positive, fressen und verdauen es. Gustav Landauer hat dieses Dilemma in den drastischen Satz gebracht: "Wer vom Staat ißt, stirbt daran."
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Allerdings ist der ›der Staat‹ weder ein Phantom* noch ein gefräßiges Fabeltier. Er ist ein ausgesprochen komplexes* Gebilde aus Interessen, von denen die jeweilige Regierung eigentlich nur eine Riege relativ machtloser Repräsentanten ist. Wirtschaftliche Interessen und politische Macht sind ebenso Bestandteile des ›Gebildes Staat‹ wie psychologische, ideologische, nationalistische, religiöse oder militärische Komponenten. Alle sind miteinander verflochten und voneinander abhängig. Anarchisten haben deshalb nicht bestimmte Regierungen, Präsidenten oder Könige bekämpft; ihr Gegner war immer ›der Staat an sich‹ in allen seinen Facetten*.
Der Staat im Kopf
Da viele Menschen den Staat ebenfalls als alltäglichen Unterdrücker erleben, stellt sich die Frage, warum sie trotzdem so staatstreu bleiben. Zum einen gelingt es hervorragend, Zorn zu kanalisieren. Die Medien spielen hierbei eine entscheidende Rolle. Meinung wird bei uns täglich produziert, millionenfach und sehr erfolgreich. Schuld wird dabei im Detail gesucht, in Pannen, bei Minderheiten oder irgendwelchen ›schlechten Menschen‹.
Die >öffentliche Meinung< redet uns ein, eine Nation sei eine ›Gemeinschaft‹, wir alle seien gleich, und der Staat spiele lediglich den unparteiischen Schiedsrichter. So werden die ungeheuren sozialen Unterschiede in einem jeden Staat vertuscht, und die Privilegien der wirklich Mächtigen verdeckt. Andererseits tragen wir aber alle mehr oder weniger auch einen ›Staat im Kopf‹ mit uns herum. Es ist, als hätten wir die Staatlichkeit mit Löffeln gefressen: der Glaube an die Allmacht der Obrigkeit steht im umgekehrten Verhältnis zum Vertrauen in unsere eigenen Fähigkeiten. Der Staat hält uns in dem Glauben, daß er und nur er in der Lage wäre, mit seinem Apparat, seinen Spezialisten und Fachleuten die komplexen Probleme der Menschheit in den Griff zu bekommen. Immer mehr Menschen erkennen zwar, daß das nicht stimmt, aber es fehlt die Alternative, und das macht mutlos. Und es mangelt an Freiräumen zum Experimentieren, an Modellen zum Anregen, Erfahrungen, die aus dem Experiment neue Gesellschaften entstehen lassen — Gesellschaften ohne Staat.
Anarchistische Staatskritik ist sehr alt und in vielem geradezu prophetisch. Es ist, als hätten Anarchisten die staatlichen Abscheulichkeiten des Zwanzigsten Jahrhunderts von Auschwitz über Hiroshima bis Kambodscha vorausgesehen. In einer Zeit, als alle Welt glühenden Patriotismus pflegte, und die Nation das Höchste war, schrieb Pierre-Joseph Proudhon die folgenden bissigen Worte, die bis heute nichts an Aktualität verloren haben:
"Regiert sein, das heißt unter polizeilicher Überwachung stehen, inspiziert, spioniert, dirigiert, mit Gesetzen überschüttet, reglementiert, eingepfercht, belehrt, bepredigt, kontrolliert, eingeschätzt, abgeschätzt, zensiert, kommandiert zu werden durch Leute, die weder das Recht noch das Wissen noch die Kraft dazu haben ... Regiert sein heißt, bei jeder Handlung, bei jedem Geschäft, bei jeder Bewegung notiert, registriert, erfaßt, taxiert, gestempelt, vermessen, bewertet, versteuert, patentiert, lizenziert, autorisiert, befürwortet, ermahnt, behindert, reformiert, ausgerichtet, bestraft zu werden.
Es heißt, unter dem Vorwand der öffentlichen Nützlichkeit und im Namen des Allgemeininteresses ausgenutzt, verwaltet, geprellt, ausgebeutet, monopolisiert, hintergangen, ausgepreßt, getäuscht, bestohlen zu werden; schließlich bei dem geringsten Wort der Klage unterdrückt, bestraft, heruntergemacht, beleidigt, verfolgt, mißhandelt, niedergeschlagen, entwaffnet, geknebelt, eingesperrt, füsiliert, beschossen, verurteilt, verdammt, deportiert, geopfert, verkauft, verraten und obendrein verhöhnt, verspottet, beschimpft und entehrt zu werden. Das ist die Regierung, das ist ihre Gerechtigkeit, das ist ihre Moral. [...] Die Regierung des Menschen über den Menschen ist die Sklaverei. Wer immer die Hand auf mich legt, um über mich zu herrschen, ist ein Usurpator und ein Tyrann. Ich erkläre ihn zu meinem Feinde."
Proudhon war einer, der wissen mußte wovon er sprach: Im Frankreich des 19. Jahrhunderts war er sowohl Abgeordneter der Nationalversammlung als auch Gefängnisinsasse ...
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Literatur:
Pierre-Joseph Proudhon: Ausgewählte Werke (Hrsg. v. Thilo Ramm), Stuttgart 1963, K. F. Koehler, 363 S.
Michail Bakunin: Staatlichkeit und Anarchie (u.a. Schriften) Frankfurt 1972, Ullstein, 884 S. / ders.: Gott und der Staat Reinbek 1969, Rowohlt, 245 S.
Peter Kropotkin: Der moderne Staat in: "Der Staat" (Aufsatzsammlung), Frankfurt/M. o.J., Freie Gesellschaft, 125 S.
Gustav Landauer: Entstaatlichung Wetzlar 1976, Büchse der Pandora, 58 S.
Stefan Blankertz, Paul Goodman: Staatlichkeitswahn Wetzlar 1980, Büchse der Pandora, 160 S.
Franz Oppenheimer: Der Staat Berlin 1991, Libertad, 160 S.
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