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27. "Hoch das Dynamit!" 

 

Der Anarchismus und die Bombe

 

Die Explosion meiner Bombe ist nicht allein das Zeichen der Verzweiflung eines einzelnen Menschen,
sie ist der Ausdruck der Not einer ganzen Klasse, die bald den Schrei des Einzelnen übertönen wird.
Auguste Vaillant

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ZWANZIGTAUSEND TOTE HATTE DER STAAT in den Straßen von Paris zurückgelassen. Zwanzigtausend ausgelöschte Leben jeden Alters und Geschlechts. Sie hatten kein anderes Verbrechen begangen, als sich gegen die Obrigkeit aufzulehnen und Autonomie zu fordern.

Das Ende der Pariser Commune war für alle freiheitlich denkenden Menschen ein Schock. Ein Trauma, das tief saß und die Arbeiterbewegung wie betäubt zurückließ. Niemals hatte man sich Illusionen darüber gemacht, daß die Herrschenden ihre Privilegien verteidigen würden. Aber das, was im Mai 1871 in Paris geschah, war kein Klassenkampf mehr, das war Krieg.

Während die Organisationen gelähmt ihre Wunden leckten, ihre großen Denker ratlos schwiegen und niemand einen Ausweg zu sehen schien, gab es einzelne, verzweifelte Menschen, die diese Kriegserklärung trotzig aufnahmen. Als der kollektive Aufstand scheiterte, schlug die Stunde der individuellen Kämpfer.

 

   Tyrannenmord als Allheilmittel  

Die Jahre nach 1871 sind geprägt von einer fast tatenlosen Ohnmacht. Alle Sozialisten spüren diese Krise und geraten nun zusätzlich noch in die Defensive, denn in fast allen europäischen Ländern nimmt die Verfolgung der Arbeiterbewegung bedrohliche Ausmaße an. Der Londoner Anarchistenkongreß von 1881 konnte seinen Anhängern nichts besseres mehr empfehlen, als in die Illegalität abzutauchen. 

Schon bald folgte eine Welle individueller Gewalt, ausgeführt von einzelnen Attentätern, Verschwörergruppen und berufsmäßigen Banden. Tyrannenmord, Attentate auf verhaßte Staatsdiener und Einrichtungen, Bomben zur Unterstützung von Streiks, wahllose Anschläge auf Orte bürgerlicher Vergnügungen bis hin zu politisch motiviertem Räuberhandwerk — all das wurde zum Ausdruck dieser wütenden Verzweiflung und all ihrer Perspektiv­losigkeit. Die Bombe avanciert zum Symbol dieser Zeit, das Dynamit zum Zaubermittel der Ausweglosen.

Viele derjenigen, die damals zum Mittel individueller Gewalt griffen, beriefen sich auf den Anarchismus. Es war nicht schwer, in Schriften Stirners, Bakunins, Kropotkins oder Malatestas Stellen zu finden, aus denen man eine politische Rechtfertigung für Gewalt herauslesen konnte. Angereichert mit ein bißchen Blanqui, Robespierre und Netschajew, ergab sich eine bizarre Theorie, mit der alles zu begründen war. Die Attentäter handelten für gewöhnlich im Hochgefühl moralischer Überlegenheit, fühlten sich selbstverständlich im Recht und betrachteten ihre Gegner mit kalter Verachtung. Genau damit aber hatten sie sich auf das Niveau derjenigen begeben, deren Abscheulichkeit man bekämpfen wollte. Sehr effektiv war diese blutige Taktik - selbst im Rahmen ihrer eigenen Moral und Logik – übrigens auch nicht. Die meisten Anschläge mißlangen, und fast alle Attentäter endeten am Galgen oder auf dem Schafott.

Bei den Anarchisten hieß dieses Vorgehen "Propaganda der Tat", die Bürger nannten es Mord, Terror, Chaos – eben das, was man noch heute landläufig unter ›Anarchie‹ versteht. Liegt im Werfen von Bomben, im individuellen Terror also doch das Wesen des Anarchismus?

 

   Die Propaganda der Tat  

Es hat tatsächlich eine Zeit gegeben, in der große Teile der anarchistischen Bewegung im individuellen Attentat den Stein der Weisen sahen. Diese Phase, vor allem in Frankreich, aber auch in Rußland und vereinzelt in Spanien, Deutschland, Italien den USA und Lateinamerika, hatte ihren Höhepunkt zwischen 1891 und 1894. Man machte aus der Not eine Tugend und gebar ein Konzept, das besonders den Verzweifelten einleuchtete.

Die Not bestand darin, daß die Arbeiterbewegung seit der Commune in einer Sackgasse steckte. Andererseits hatte man in all den Jahren in dem Glauben gelebt, die soziale Revolution stünde unmittelbar vor der Tür. Fast zwangsläufig wurde ihr ›Erscheinen‹ erwartet, wenn nicht heute, dann spätestens übermorgen. Man müsse Staat und Kapital nur mal kräftig gegen's Schienbein treten, dann würden sie schon umfallen.

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Vor diesem Hintergrund predigten die Jünger der "Propaganda der Tat" eine einfache Idee: Einzelne, entschlossene Männer sollten besonders verhaßte Repräsentanten des Systems – Könige, Bischöfe, Präsidenten, Kapitalisten und Polizeichefs - durch gezielte Attentate töten. Die wären dann nicht mehr da, der Gegner also geschwächt. Das wiederum würde dem Volk Mut machen, sich "massenhaft zu erheben", denn ein jeder würde erkennen, daß der mächtige Gegner verwundbar sei. Die Prozesse könne man zu leidenschaftlichen Anklagen gegen das System nutzen, darin läge großer propagandistischer Wert. Und wenn man dann angesichts der Guillotine ein entschlossenes "Vive l'Anarchie!" ausriefe, wäre der Idee ein unschätzbarer Dienst erwiesen. Außerdem brauchte es dazu keine starke Bewegung, keine mühsame Organisationsarbeit – nur ein paar Entschlossene.

Es klang wie ein Patentrezept, das alle Probleme der verzweifelten Bewegung jener Jahre mit einem Schlag zu lösen schien. Den Pferdefuß, daß man dabei die eigenen Ideale verraten mußte, ›vergaßen‹ viele Anhänger dieser Taktik in ihrer Begeisterung. Die Sache aber hatte, jenseits aller ethischen Vorbehalte, noch weitere Haken. Das Volk tat alles andere, als den Helden begeistert nachzustürmen. Es gaffte, es konsumierte, es applaudierte allenfalls. Statt zum Fanal des Aufstandes, wurden die Prozesse zu Lieferanten für den grusligen Stoff schauriger Geschichten in den Klatschblättern der Epoche. Statt zu zerfallen, festigte sich die Macht der Herrschenden; unter dem Druck des Dynamits verschwanden Rivalitäten. Der Machtapparat kroch nicht zu Kreuze, sondern holte zum Gegenschlag aus. Jeder Anarchist, ja die gesamte Arbeiterbewegung mußte mit harter Verfolgung, mit Verhaftungen, mit der Liquidierung rechnen. Die ausgeflipptesten Kriminellen begannen plötzlich, ihre Taten mit dem magischen Wort "Anarchie!" zu rechtfertigen. Sie hatten für ihr soziales Elend, das sie zu Kriminellen gemacht hatte, eine politische Interpretation entdeckt, die all ihre Taten zu rechtfertigen schien. Die anarchistische Idee, ihre gesamte Bewegung konnte nun mit Leichtigkeit diffamiert werden. Jeder Anarchist war fortan ein Bombenleger, nichts weiter. Am Ende stand die Bewegung mit einem Haufen ›Märtyrer‹ da und einem denkbar üblen Image.

Dabei hatte nur ein Teil der Anarchisten mit der "Propaganda der Tat" sympathisiert, und nur eine kleine Minderheit sie jemals angewandt. Die wirbelte dafür aber um so mehr Staub auf. Der größte Teil wandte sich schon bald entschieden gegen diese blutige Mode, unter ihnen auch Kropotkin und Malatesta. Sie stellten nachdrücklich fest, daß sie Gewalt allenfalls im Zusammenhang mit dem Recht einer gewaltsamen Erhebung des Volkes gegen seine Unterdrücker gutgeheißen hätten, nicht aber als Mittel individuellen Terrors. Der sei weder moralisch noch praktisch ein probates Mittel zur Erlangung der Freiheit. Es sei überdies eine Illusion, schrieb Kropotkin, den Zusammenhalt der Ausbeuter durch ein paar Kilo Sprengstoff brechen zu können.

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Eine Welle der Gewalt

Zunächst aber blieben solche Worte ungehört. Für einige Jahre hatte erst einmal der "Anarchisterich mit dem Attentatterich" Hochkonjunktur, wie Erich Mühsam diesen Typus vierzig Jahre später ironisch nannte. In den achtziger Jahren sorgten die russischen Narodniki für eine Reihe von spektakulären Attentaten gegen Polizeiminister und höchste Repräsentanten des Zarismus. Diese "Volkstümler", wie sie sich selbst nannten, waren eine straff organisierte Politorganisation junger Menschen aus den gebildeten Ständen, die sich zunächst voller Idealismus den Bauern zuwandten. Unter ihnen gab es auffallend viele Frauen. Bakunins Aufforderung, "zu den Wurzeln des Volkes zurückzukehren", interpretierten die Narodniki schon bald auf ihre Weise und versuchten, Netschajews Revolutionsszenarien folgend, mit ihren Anschlägen eine Volkserhebung zu entfesseln. Selten ist ein Attentat in aller Welt so freudig aufgenommen worden wie das, dem 1881 der verhaßte Zar Alexander II. zum Opfer fiel — der Aufstand der Massen aber blieb aus. Führende Narodniki wie Wera Sassulitsch, Boris Ssawinkow, Sofia Perowskaja oder Vera Figner gingen zwar in den Pantheon der linken Legenden ein, ihre Bewegung aber wurde Stück für Stück und ziemlich unspektakulär aufgerieben.

Als isolierte Taten Einzelner stellten sich die meisten Attentate heraus, die zwischen 1878 und 1900 führenden Regenten im westlichen Europa galten. Der arbeitslose Klempnergeselle Maximilian Hödel, ein ehemaliger Sozialdemokrat, und der zum Mystizismus neigende Philosoph Dr. Carl Nobiling verüben im Sommer 1878 in Berlin, unabhängig voneinander, in kurzer Folge Attentate auf Kaiser Wilhelm I., der jedoch beide Male dem Tode entgeht. Hödel wird hingerichtet, Nobiling stirbt später an den Folgen einer unmittelbar nach dem Attentat versuchten Selbsttötung. Die Anschläge dienen Bismarck zum Vorwand für die Verhängung des Ausnahmezustandes, der unter dem Namen "Sozialistengesetz" bekannt wurde und zwischen 1878 und 1890 alle linken Parteien und Gruppierungen Deutschlands in die Illegalität zwang. Im Herbst desselben Jahres schießt der junge Arbeiter Oliva Moncasi auf den spanischen König Alfons XIII., ohne ihn jedoch zu treffen. Moncasi, der sich als Mitglied der spanischen Internationale zu erkennen gibt, beruft sich im Verhör ausdrücklich auf Hödel und Nobiling, deren Beispiel er folgen wollte. Im Dezember wird er in Madrid öffentlich mit der garrote, dem mittelalterlichen Würgeeisen, hingerichtet.

Ebenfalls 1878 mißlingt das Attentat des jungen Kochs Giovanni Passanante auf den italienischen König Umberto I. Mit dem Ruf "Es lebe die internationale Republik!" stürzte er mit einem Messer auf den Monarchen. Zum Tode verurteilt, wird er begnadigt und stirbt 1910 in der Haft. 1897 entgeht derselbe Umberto I. erneut einem Messerattentat. Unter seiner Regentschaft war es inzwischen zu harten Repressalien gegen alle Arbeiterorganisationen und die aufständischen Bauern in Sizilien gekommen; Presse- und Versammlungsfreiheit waren aufgehoben, und 847.000 Menschen wurde wegen "Progressismus" das Wahlrecht aberkannt. Kriegerische Abenteuer in Afrika stürzten das Land in eine wirtschaftliche Krise. In diesem sozialen Klima will der anarchistische Einzelgänger Pietro Acchiarito am König exemplarische Rache nehmen, verfehlt den Monarchen aber und sticht sein Messer in die Polster der Kutsche. Auch er beendet sein Leben im Zuchthaus. Die sozialen Unruhen verschärfen sich, die Repression wird härter, und im folgenden Jahr kommt es in fast allen Provinzen zu Protesten. 

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Universitäten werden geschlossen, Zeitungen verboten. In Mailand unterdrückt der General Bava Beccaris den Protest von Arbeitern und Studenten und hinterläßt dabei 80 Tote und 450 Verletzte. Umberto beglückwünscht ihn öffentlich und verleiht ihm "wegen seiner Verdienste um die Zivilisation" den höchsten Verdienstorden Savoyens. Damit hatte er sein eigenes Todesurteil gesprochen, denn nun tritt erstmals eine organisierte anarchistische Gruppe auf den Plan, die den Tod des Tyrannen beschließt. Im fernen Paterson, New Jersey, wird dieser Entschluß gefaßt. Das Los fällt auf den Drucker Gaetano Bresci, einen jungen italienischen Einwanderer, der im Jahre 1900 nach Europa reist und den König am 7. Mai aus drei Metern Entfernung erschießt. Die Bürger im Park der Sommerresidenz, die ihn lynchen wollen, schreien ihn an: "Mörder! Du hast Umberto getötet", worauf Bresci antwortet: "Ich habe nicht Umberto getötet, sondern einen König."

Alle Monarchen der Epoche lebten mit einem besonders hohen Berufsrisiko, und nicht nur Umberto wurde mehrere Male zum Ziel von Anschlägen. In Spanien hatte 1880 Alfons XIII. erneut das Glück, einem Attentat zu entgehen, das diesmal Olivero Gonzales verübte, der Moncasi rächen wollte. Eine vom Regen aufgeweichte Zündschnur bewahrte 1883 etliche Bischöfe und die höchsten deutschen Fürsten davor, mitsamt ihrem Kaiser in die Luft gesprengt zu werden. Eine Anarchistengruppe um August Reinsdorf hatte das Dynamit anläßlich der Einweihung eines vaterländischen Monumentaldenkmals plaziert und aus Kostengründen die billigere Lunte verwendet. Im Spätsommer 1898 lungerte der italienische Anarchist Luigi Luccheni am Genfer See herum, um irgendeinen Monarchen umzubringen. Kaiserin Elisabeth von Österreich hatte das Unglück, ihm zufällig über den Weg zu laufen und mußte sterben. Sterben mußten natürlich auch Gonzales, Reinsdorf und Luccheni.

 

In Frankreich jedoch, wo das Trauma der Commune nie vergessen wurde, sollte die "Propaganda der Tat" zu Beginn der 90er Jahre ihren Höhepunkt erreichen. Sie trat wie eine Epidemie auf und war offenbar ansteckend. Zwar gab es auch hier den klassischen Einzeltäter, aber im Gegensatz zu anderen Ländern entstand - besonders in Paris - geradezu eine soziale Szene der Gewaltverherrlichung mit dem typischen, fast möchte man sagen folkloristischen Ambiente des outlaw*.

Auflagenstarke Anarchoblätter wie der Père Peinard unterstützten militantes Handeln, applaudierten der Gewalt und sorgten für weiteste Verbreitung der Gedanken, die die Protagonisten der Aktion von sich gaben. Taten wie die von Henry, Ravachol oder Bonnot hielten in einer Mischung aus klammheimlicher Bewunderung, Nervenkitzel, Schadenfreude und Märtyrerkult Einzug in die subversive Phantasie der einfachen Leute. Als Lieder, Legenden und Folklore lebten sie fort in den Trivialmythen der vorstädtischen Subkultur. Aus dieser Szene ging überdies ein ganz spezieller Typus des sich politisch legitimierenden Kleinkriminellen hervor, der sich stolz "Anarchiste expropriateur" nannte - auf deutsch; "anarchistischer Enteigner".

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Emile Henry, der hochintelligente Sohn eines überlebenden communard, wurde am 24. Juli 1894 guillotiniert - seinen Kopf kann man übrigens in einem mit Formalin gefüllten Glas im Polizeimuseum von Paris bewundern. Er war unter anderem verurteilt worden, weil er eine Bombe in das vollbesetzte Cafe Terminus geschleudert und dabei einen Gast getötet und zwanzig verletzt hatte. "Es gibt keine Unschuldigen" sagte der eiskalt-rationale Überzeugungstäter vor Gericht. "Die Bourgeoisie soll endlich begreifen, daß die, die gelitten haben, ihrer Leiden müde sind. Sie kennen keine Achtung vor dem Menschenleben, weil die Bourgeoisie es auch nicht respektiert."

Nirgends kommt der ins krankhafte gesteigerte Haß gegen alles, was bourgeois ist, klarer zum Ausdruck als bei Henry. Dabei kann man, bei aller Abscheu vor blindem Terror, der Argumentation in seiner berühmt gewordenen Verteidigungsrede kaum die Stringenz* absprechen, mit der er beweist, daß er nichts anderes getan hat als seine Feinde: wahllos Unschuldige zu töten. Eben darum aber, so urteilten die meisten Anarchisten seiner Zeit, könne er sich nicht auf den Anarchismus berufen.

Bei den Bombenanschlägen auf das Hotel Foyot und das Café Terminus werden auch die mit dem Anarchismus sympathisierenden Schriftsteller Laurent Tailhade und Octave Mirbeau verletzt, was in der Presse zu einmütiger Schadenfreude führt. Mirbeau bemerkte damals: "Ein Todfeind des Anarchismus hätte diesem keinen größeren Schaden zufügen können als Emile Henry mit seinem unerklärlichen Bombenanschlag auf friedliche Bürger, die in ein Cafe gekommen waren, um vor dem Zubettgehen noch ein Bier zu trinken. (...) Émile Henry versichert, er sei Anarchist. Das ist möglich. Aber der Anarchismus hat einen breiten Rücken, er ist geduldig wie Papier. Heute pflegen sich Kriminelle auf ihn zu berufen, wenn sie ein gutes Verbrechen begangen haben. (...) Jede Partei hat ihre Kriminellen und Wahnsinnigen, weil jede Partei sich aus Menschen zusammensetzt."

Typisch für Henry und viele seiner Bombenwerferkollegen war, daß sein erstes Attentat in engem Zusammenhang mit sozialen Kämpfen stand. Vor dem Büro einer Bergwerksgesellschaft, die auf streikende Arbeiter hatte schießen lassen, deponierte er seinen aus einem Kochtopf gebastelten Sprengsatz, der dann in einem Polizeirevier detonierte. Ganz ähnlich war die Motivation des Anarchisten Charles Gallo, der eine Explosivröhre in die Pariser Börse geschleudert hatte, ohne freilich jemanden zu verletzen. Er tat dies aus Solidarität mit den Bergarbeitern von Decazeville. Deren Lohn war zwischen 1878 und 1886 um 50% gedrückt worden und reichte nicht einmal mehr fürs Essen, während die Gesellschaft ihren Aktionären einen Jahresgewinn von 460.000 Franc ausschüttete. Nun sollten die Löhne abermals gekürzt werden. Die aufgebrachten Arbeiter warfen daraufhin den verhandlungsführenden Ingenieur, dem im Erfolgsfalle eine Provosion von 5 % versprochen war, aus dem Fenster, wobei sich dieser das Genick brach. Als Gallo im Prozeß gefragt wurde, ob man in Anarchistenkreisen die Mörder des Ingenieurs verherrliche, antwortete dieser: "Natürlich, und ich selbst habe gehofft, es sei nur der Anfang einer ganzen Serie."

Aus einer Bewegung zur Befreiung der Menschheit schien ein Zirkel einsamer Rächer geworden zu sein.

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Kaum noch etwas von sozialem Rächertum ist bei Claude Ravachol zu finden, einem verarmten Angestellten, der sich zunächst als Kleinkrimineller und Grabräuber durchs Leben schlug, um sich später auf Raubmorde zu verlegen. Sofern Ravachol alle Verbrechen begangen hat, die ihm zur Last gelegt, aber letztlich nicht nachgewiesen wurden, trifft hier Mirbeaus Wort von den "Kriminellen und Wahnsinnigen" ins Schwarze, denn manche Taten fielen durch ihre besondere Bestialität auf. Jedenfalls prahlte Ravachol mit großen Verbrechen ebenso wie mit anarchistischen Phrasen, die er in linken Kreisen aufgeschnappt hatte.

Nach zwei dilettantisch inszenierten Bombenanschlägen gegen einen Richter und einen Staatsanwalt verrät er sich durch Wichtigtuerei und endet am 14. Juli 1892 unter der Guillotine. Obwohl schon vor ihm in Deutschland das Anarchistenduo Stellmacher / Kämmerer und in Osterreich deren Gesinnungsgenossen Engel und Pfleger ähnlich blutige Raubzüge veranstaltet hatten, war es Ravachols Name, der als Synonym des Expropriateurs in die Geschichte einging und als "La Ravachole" sogar in einem zeitweise sehr beliebten Modetanz seinen Niederschlag fand.

Anarchokriminelle Taten dieser Art fanden noch eine ganze Weile ihre Nachahmer - nun aber vermehrt in Banden. Für die Mitglieder solcher Gangs war Raub eine revolutionäre Form des Klassenkampfes. Weniger brutal als Ravachol, dafür aber wirtschaftlich bedeutend erfolgreicher praktizierten etwa die Ortiz-Bande oder die Panther von Batignolles diese moderne Version der Robin-Hood-Legende. Noch 1911 machte die berüchtigte Bonnot-Bande von sich reden, die im Vorgriff auf den amerikanischen Gangsterstil das Automobil als Werkzeug der anarchistischen Expropriation einführte. In einem regelrechten show down wurden sie schließlich von der Polizei in ihrem Versteck umstellt, von Militär belagert und medienwirksam zusammengeschossen.

Eher ein individueller Verzweiflungstäter war hingegen die tragische Gestalt des Auguste Vaillant: ein ausgemachter Pechvogel und philosophierender Schwärmer, der mit seinen zwanzig Franc Monatslohn Frau und Tochter nicht ernähren konnte. In seiner Aussichtslosigkeit bastelte er eine Bombe, die sich als recht harmlos erwies, und warf sie in die Deputiertenkammer des Pariser Parlaments, ohne daß dabei jemand verletzt wurde. Obwohl sich mehrere der Abgeordneten für ihn verwendeten, verurteilte ihn das Schwurgericht zum Tode. Sein Gnadengesucht wurde abgelehnt, und auch Vaillant endete unter dem Fallbeil. Der Mann, der das Todesurteil zur Vollstreckung freigab, war der Staatspräsident Sadi Carnot, der seinerseits am 24. Juni 1884 von dem italienischen Bäckergesellen Sante Caserio aus Rache erdolcht wurde, dessen Kopf wiederum am 15. August unter der Guillotine fallen sollte...

Es schien, als hätte die Verzweiflungstheorie von der "Propaganda der Tat" ein Karussell des Wahnsinns in Gang gesetzt, eine Art politischer Blutrache, die in schwindelerregender Folge ihre Kreise zog: Ein jeder wollte jemanden rächen oder bezog sich auf einen Vorgänger, der seinerseits jemanden hatte rächen wollen. Eine Spirale der Gewalt, deren Ende nicht abzusehen war. Ein Kampf aber auch, der niemals zu gewinnen war.

Rirette Maitrejean, die zusammen mit Victor Serge das Blatt Anarchie herausgab, in deren Redaktion die Mitglieder der Bonnot-Bande ein- und ausgingen, schrieb später über diese Epoche:

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"Unsere Ideen waren schön. Leider verstanden diese Neulinge, die jungen Burschen, nicht die abstrakte Lehre daraus zu ziehen. Sie haben getötet. Und das vergossene Blut fiel auf uns zurück."

 

Die gesamte anarchistische Bewegung durchlebte nun eine nie zuvor gekannte Repression, die keine Unterschiede machte und nicht nach Schuld fragte. Viele Anarchisten, die anfänglich dem Tyrannenmord applaudiert hatten, wandten sich angewidert von der Praxis der Bombenleger und Raubmörder ab. Es dauerte nicht lange, bis sich bei den Libertären die Erkenntnis wieder durchgesetzt hatte, daß Terror kein Weg sein konnte und durfte. Das war im Anarchismus theoretisch auch nie anders gesehen worden. Aber die Dynamik, die jene entfesselten, die glaubten, zwischen "revolutionärer Gewalt" und "Terror" eine saubere Grenze ziehen zu können, setzte starke Emotionen und zeitweise auch gewisse Sympathien frei. Es spricht für die innere Stärke der anarchistischen Bewegung, daß sie sich nach kaum zehn Jahren aus eigener Kraft aus dieser tödlichen Sackgasse befreite. Die bombige Idee von der Zauberwaffe Dynamit verschwand ebenso schnell wieder, wie sie aufgetaucht war. Der Anarchismus entwickelte neue, konstruktivere Formen der Auseinandersetzung, in der das individuelle Attentat keinen Platz mehr hatte. Der Schatten der Bombe aber lastet noch heute auf ihm.

Das ist erstens ungerecht, und zweitens ist es grotesk. Ungerecht, weil Gewalt kein Merkmal des Anarchismus ist. Grotesk, weil diejenigen, die dem Anarchismus Gewalt vorhalten, das Gewaltmonopol innehaben und sich darüber in keiner Weise moralisch den Kopf zerbrechen. Ganz im Gegensatz zu den Anarchisten.

 

Exkurs: Anarchismus und Gewalt

Einer der wichtigsten Grundsätze des Anarchismus fordert die Anwesenheit des Zieles in den Mitteln. Freiheit kann man nicht mit unfreien Mittel erpressen, ein harmonisches Nebeneinander nicht mit Dynamit herbeibomben. Versucht man es doch, birgt dies bereits den Keim zu neuer Gewalt in sich, der in der künftigen Gesellschaft üppig wuchern würde. Dieser Grundsatz ist das genaue Gegenteil solch weitverbreiteten Unsinns, daß man mit der Diktatur einer Partei zu einer freien Gesellschaft oder mit staatlichen Vorschriften zum mündigen Bürger gelangen könne. Für Anarchisten heiligt der Zweck also nicht die Mittel.

Hat irgendjemand das Recht, einem anderen das Leben zu nehmen? Sicher nicht. Auch nicht die Anarchisten. Kann irgendjemand einer geschundenen Kreatur verbieten, sich zu wehren, sich zu rächen? Ja, aber es wäre lächerlich.

Sprechen wir deshalb nicht von den spontanen Wutausbrüchen, von geplünderten Kirchen oder erschlagenen Folterern, von angezündeten Militärkasernen, verwüsteten Justizarchiven oder gelynchten Polizeispitzeln. Solche Eruptionen des angestauten Zorns wird es immer geben, solange Unterdrückung, Erniedrigung und Demütigung Instrumente der Herrschaft sind. Mit "Anarchismus" haben sie nichts zu tun. 

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Die alten Ostfriesen ließen gelegentlich einen fürstlichen Steuereintreiber im Grünkohlkessel verschwinden, ein drangsalierter Jude im Jahre Null hat schon mal einen Besatzer erschlagen, auch wurde hier und da ein Inquisitor gelyncht, und selbst Benito Mussolini hat man ohne Gerichtsurteil einfach erschossen. Solche Dinge mag man verurteilen, man mag dabei schaudern oder sich klammheimlich darüber freuen — das ändert nichts daran, daß die Opfer bisweilen den Spieß umdrehen. Denn der Inquisitor, Mussolini und der Römer haben eines gemeinsam: die lange Liste ihrer Opfer.

Das soll keine Rechtfertigung von Gewalt werden. Solche Gewalt entzieht sich jeder Rechtfertigung wie auch jeder Verdammung. Sie wird immer wieder produziert von vorausgehender Gewalt. Sie ist für Täter und Opfer kein ethisches Problem und kennt keine Abwägung von Gut und Böse. Über diese Art von Gegengewalt den Stab zu brechen, wäre pervers. Dann müßte man auch einer jüdischen Mutter, die, nackt, mit ihrem Kind auf dem Arm, in Auschwitz in die Gaskammer getrieben wird, den Vorwurf der Körperverletzung machen, wenn sie in ihrer Verzweiflung auf die Idee käme, über den SS-Offizier herzufallen.

Reden wir stattdessen von geplanter Gewalt. Von Gewalt als Mittel zum Zweck und ihrem Verhältnis zum Anarchismus.

 

Die Frage der Gewalt ist für den Anarchismus in keiner Weise prägend oder entscheidend. Hierin unterscheidet er sich nicht im geringsten von allen anderen politischen, religiösen oder weltanschaulichen Strömungen.

Es gab immer Anarchisten, die Gewalt prinzipiell und kategorisch ablehnten, aber auch solche, die Gewalt zum Prinzip erhoben. Das ergibt sich schon aus der Vielfalt - man könnte auch sagen: der Inkonsequenz - dieser Bewegung. Pazifistische und gewaltbereite Anarchisten sind indes nur die Extrempositionen, zwischen denen sich die ganze Bandbreite einer Bewegung entfaltet, die auch in ihrem Verhältnis zur Gewalt keinen einheitlichen Standpunkt kennt.

Das ist aber überall so und keinesfalls charakteristisch für Anarchisten. Liberale und Nationalisten, Christen und Patrioten, Mohammedaner und Demokraten, Rassisten und Republikaner, Kommunisten und Protestanten, Imperialisten und Sozialisten, Palästinenser und Israelis, Kapitalisten und Separatisten, Bourgeois und Proletarier, Föderalisten und Faschisten, Kaufleute, Forscher und Wissenschaftler, Braune, Rote, Schwarze, Grüne, Bunte und Schwarzrote - kurz: die Menschen schlechthin - haben zu allen Zeiten mehr oder weniger intensiv Gewalt für ihre Ziele angewendet. Alle, mit Ausnahme wirklicher Pazifisten, haben zu bestimmten Zeiten und für bestimmte Ziele Bomben gelegt, Menschen getötet, Geiseln genommen, ohne daß es einem vernünftigen Menschen einfallen würde, auch nur eine der genannten Menschengruppen als "Bombenwerfer" zu definieren, wie es mit den Anarchisten geschah.

Die meisten Morde indes geschehen im Namen des Staates. Das ist offensichtlich. Der Staat baut, besitzt und benutzt die meisten Bomben. Er hat Milliarden von ihnen hergestellt und auch eingesetzt. Darin liegt das eigentlich Groteske am Gewaltvorwurf gegen den Anarchismus:

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Nüchtern betrachtet ist der Staat der berufsmäßige Terrorist, ein Profi unter lauter Stümpern. Er baut seine Bomben nicht in nächtlicher Schwarzarbeit wie Vaillant, sondern als Serienprodukt in Fabriken. Er unterhält eine ganze Klasse von Menschen, die berufsmäßig zum Morden und Bombenwerfen ausgebildet werden. Oder ist ein Bomberpilot der Luftwaffe etwas anderes als ein professioneller Bombenwerfer mit Pensionsanspruch? Im Vergleich zum Terrorpotential des Staates sind die anarchistischen Attentäter - vielleicht zwei Dutzend an der Zahl - ein hoffnungsloses Häuflein von Dilettanten. Der Staat mitsamt seinen Armeen, Polizisten, agents provocateurs und Geheimdiensten - das sind die Profis der Gewalt. Ein Blick auf die täglichen Schlagzeilen beweist, daß es Heuchelei sein muß, wenn sich ausgerechnet der Staat über Gewalt im Anarchismus empört: Sie sind täglich voll von Terror und Gegenterror, Krieg und Vergeltungskrieg. Kein Hahn kräht danach. Es ist die Normalität. Für den Staat war Gewalt nie eine Frage der Moral, für ihn ist sie ein wichtiges Monopol. Er hat Angst, daß ihm jemand ins Handwerk pfuschen und seine eigenen Waffen gegen ihn kehren könnte.

Ich sagte vorhin, niemand habe das Recht, einen anderen Menschen zu töten, und das gelte auch für Anarchisten. Die Betonung liegt aber auch auf niemand: Weder der Mörder hat dieses Recht, noch sein Henker hat es, weder Emile Henry, noch der Richter, der ihn zum Tode verurteilte, weder der Offizier, der auf Streikende schießt, noch der Anarchist, der die Streikenden rächt. Nur - wer sich am allerwenigsten an diese Ethik hält, ist der Staat.

Die moralische Frage von Gewalt ist ein Problem, mit dem sich die Anarchisten immer herumgequält haben und bis heute herumquälen. Der Staat tut das nicht. Anarchisten müssen mit diesem ihrem Dilemma leben und selbst zurechtkommen - der Staat sollte hierzu am besten den Mund halten. In der Frage von Gewalt und Moral wäre er der inkomptenteste Ratgeber, den man sich denken kann.

Der Nobelpreisträger Bertrand Russell, Philosoph, Pazifist und Libertärer, hat das treffend ausgedrückt: "Wir können die ganze Frage der Gewalt, die in der allgemeinen Einbildung eine so große Rolle spielt, beiseite lassen, weil sie weder etwas Wesentliches, noch etwas Besonderes für die anarchistische Position darstellt."

 

Gewalt als Übel

Das Dilemma der Anarchisten ist damit freilich nicht gelöst. Wenngleich die historische Ära der Attentate rasch überwunden wurde, so blieb der Anarchismus in der Folge keineswegs gewaltfrei. Der Unterschied bestand darin, daß fortan in der Gewalt an sich niemand mehr eine Taktik oder gar etwas Positives sah. Wo immer Gewalt noch auftrat, geschah dies, weil man glaubte, daß sie unvermeidbar war und nicht, weil man sie sich wünschte: In der Russischen, der Deutschen, der Spanischen Revolution wurde geschossen. Die militante Taktik der "Direkten Aktion" libertärer Gewerkschaften in Spanien, Lateinamerika und den USA war auch nicht gerade friedfertig. Selbst die anarchistische Expropriation lebte in abgewandelter Form wieder auf, um Streikkassen zu füllen, Schulen zu finanzieren, illegale Gewerkschaften aufzubauen.

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Der Kampf anarchistischer Partisanen gegen Mussolini oder libertärer Guerillas gegen Franco konnte nur mit Gewalt geführt werden. Sogar Attentate hat es nach 1900 noch vereinzelt gegeben - etwa gegen Mussolini und Franco, den spanischen Diktator Primo de Rivera, den faschistoiden Bischof von Zaragoza oder die Militärs Falcon und Varela, die die Verantwortung für blutige Massaker an der argentinischen Arbeiterschaft trugen. Das geschah nicht aus Lust an der Gewalt, sondern die Beteiligten hielten es für unumgänglich. Diese "Beteiligten" handeln jetzt auch nicht mehr, wie Ravachol oder Bonnot, auf eigene Rechnung, sondern im Kontext sozialer Kämpfe. Sie waren Teil einer politischen Organisation oder Bewegung, der sie Rechenschaft ablegen mußten. Keine von ihnen aber hat jemals wieder Gewalt zum Inhalt ihres Handelns gemacht, sie alle betrachteten Gewalt als Übel.

Das alles aber beantwortet nicht das ethische Problem, das sich den Anarchisten bei der Anwendung von Gewalt stellt. Diese Frage beantworten verschiedene Anarchisten auf verschiedene Weise, und nur bei den Pazifisten ist diese Antwort eindeutig. In der Tat sind es die sogenannten gewaltfreien Libertären, die sich als einzige konsequent nicht nur gegen Gewalt wenden, sondern aktiv für Friedfertigkeit eintreten. In den Traditionen von Tolstoi, Gandhi, Martin Luther-King und Russell haben sie dabei ein ganzes System ethischen Handelns entwickelt, das durchaus in der Lage ist, sozialen Druck auszuüben, ohne gewalttätig zu sein. Für sie ist Ablehnung von Gewalt nicht das Ergebnis einer Abwägung der Vor- und Nachteile, sondern eine eindeutige ethische Entscheidung. In regelrechten Workshops trainieren sie passiven Widerstand, defensive Taktik und Deeskalation, und bestens aufeinander eingespielte "gewaltfreie Bezugsgruppen" tragen solche Aktionsformen dann in die Arenen politischer Kämpfe, in denen sonst eher Knüppel und Pflasterstein regieren. Dabei nehmen sie lieber eine Niederlage in Kauf, als zur Gewalt zu greifen, denn dies wäre ihre schlimmste Niederlage. Sie setzen auf Zeit, beweisen Geduld und kommen immer wieder. Dabei sind sie durchaus zornig und keineswegs immer sanftmütig - aber eben nie gewalttätig. Auf diese Weise haben sie, auch in Deutschland, durch jahrelanges Beispiel Stück für Stück das Klima der politischen Kultur und Auseinandersetzung verändert. Selbst­verständlich ist in der Theorie ein gewaltfreier Anarchismus zugleich auch der konsequenteste Anarchismus, denn Gewalt ist immer auch Zwang.

Im Mainstream-Anarchismus dominiert heute eine eindeutige Abscheu vor Gewalt; noch in den siebziger Jahren war eher die Lust am "militanten Zoff" die Regel. Heute wird Gewalt fast ausnahmslos als ein Übel verstanden, das so selten wie möglich als ›unver-meidlich‹ angesehen werden darf. Ihr Nutzen wird sehr begrenzt eingeschätzt und müsse, so die vorherrschende Meinung, sehr verantwortungsbewußt gegen ihre Gefahren abgewägt werden. Wobei nicht vergessen werden darf, daß in der politischen Diskussion unter "Gewalt" heute eher ein geworfener Pflasterstein, ein niedergerissener Bauzaun oder ein zerschlagenes Schaufenster verstanden wird als die Bomben des Emile Henry, die selbst in Anarchistenkreisen kaum mehr dem Hörensagen nach bekannt sind.

Das führt natürlich zu der Frage, was denn Gewalt überhaupt genau ist.

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Jeder, der nicht meint, die Herrschenden würden eines Tages wegen der besseren Argumente der Unterdrückten freiwillig abtreten, muß wissen, daß sich gewaltsame Auseinandersetzungen - gleich in welcher Form - kaum vermeiden lassen werden. 

Gewalt kann viele Gesichter haben: brutal oder sanft, physisch oder psychisch, direkt oder indirekt, vernichtend oder erpresserisch. Letztendlich ist jeder Druck, den Menschen auf andere Menschen ausüben, damit diese etwas tun, was sie nicht wollen, eine Form von Gewalt. In diesem Sinne wäre selbst ein Hungerstreik Gandhis als Gewalt zu werten. Es ist keine Frage, daß ein überzeugter Anarchist im Zweifelsfalle stets eine ›Gewalt à la Gandhi‹ vorziehen würde. Nur: Die Herrschenden stellen die Machtfrage meist in ihrem Sinne und mit ihren Mitteln, und die bestehen eben in der Regel aus – Gewalt.

Die "Anwesenheit des Ziels in den Mitteln" ist ein kluger Grundsatz des Anarchismus. Jeder Mensch weiß, daß auch dieser Grundsatz ein Ziel ist, ein Ziel, daß beständig angestrebt werden muß, aber nicht immer erreicht wird. Eine Maxime, wie die Philosophen sagen.

Die Terroristen vom Schlage Henrys und Ravachols hatten, selbst wenn sie sich Anarchisten nannten, mit dieser Maxime nichts im Sinn. Die Anarchistin Severine, Lebensgefährtin des Ex-Kommunarden Jules Volles, spricht über sie ein mitleidloses Urteil: Sie waren "Hysteriker des Elends, Neurotiker der Revolte, die sich an ihrer Virulenz wie an einem allzu feurigen Wein berauschten."

Wie wichtig diese Maxime im Denken späterer Generationen werden sollte, mag das Zitat der jungen Anarchistin Victoria d'Andrea zeigen. Es stammt aus der leidenschaftlichen Gewaltdiskussion, die in den zwanziger Jahren die Gemüter der argentinischen Libertären erhitzte und eine der stärksten, populärsten und hoffnungsvollsten anarchistischen Bewegungen der Welt in eine verhängnisvolle Spaltung trieb:

"Wir sind nicht Anarchisten weil wir hassen, sondern weil wir das Leben lieben. Der Mensch ist von Natur aus ein geselliges Wesen, und wir kämpfen dafür, daß jeder wieder zu seinem Recht kommt, über sein Leben zu verfügen; das bedeutet, die jetzige Gesellschaftsform zu vernichten und eine anarchistische aufzubauen, die der natürlichen Entwicklung des Menschen gerecht wird. Da für uns Mord unmenschlich ist, können wir ihn auch nicht als Kampf­methode akzeptieren."

 

 

Literatur:

Justus F. Wittkop: Propaganda der Tat, in: Unter der schwarzen Fahne, Frankfurt/M. 1973, Fischer, 270 S., ill.
James Joll: Terrorismus und Propaganda durch die Tat, in: Die Anarchisten, Berlin 1969, Ullstein, 222 S.
Rudolf Krämer-Badoni: Terror m: Anarchismus, Wien, München, Zürich 1970, Melden, 288 S.
Roderick Kedward: Individueller Terror, in: Die Anarchisten Lausanne 1970, Editions Rencontre, 128 S., ill.
Georges Sorel: Über die Gewalt Frankfurt/M. 1969, Suhrkamp, 393 S.
Johann Most: Revolutionäre Kriegswissenschaft Berlin 1980, Rixdorfer Verlagsanstalt, 97 S.
Arthur Holitscher: Ravachol und die Pariser Anarchisten Frankfurt/M. o.J., Freie Gesellschaft, 94 S.
Maria Matray, Answald Krüger: Der Tod der Kaiserin Elisabeth von Österreich München, Wien, Basel 1970, Desch, 415 S.
Siegfried Schröder: Bomben, Blut und Bitterkeit Berlin 1980, Militärverlag der DDR, 270 S.
Walter Laqueur: Terrorismus Kronberg 1977, Athenäum, 243 S.
Friedrich Hacker: Terror Reinbek 1975, Rowohlt, 331 S.
Hannah Arendt: Macht und Gewalt München 1970, Piper, 1363.
Eric J. Hobsbawm: Sozialrebellen Neuwied 1971, Luchterhand, 285 S.
Edith Eucken-Erdsiek: Die Macht der Minderheit - Eine Auseinandersetzung mit dem Neuen Anarchismus Freiburg 1970, Herder, 123 S.
George Lakey, Michael Rändle; Gewaltfreie Revolution Berlin 1988, Oppo, 113 S.
Kurt Hiller: Pazifismus der Tat -Revolutionärer Pazifismus Berlin 1981, AHDE, 71 S.
April Carter: Direkte Aktion - Leitfaden für den Gewaltfreien Widerstand Berlin 1983, AHDE, 76 S.

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