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29  Hoffnung und Resignation:  Revolution in Rußland

 

Langsam aber sicher errichteten die Bolschewiki einen zentralistischen Staat,
der die Sowjets zerstörte und die Revolution niederschlug,
einen Staat, der sich, was Bürokratie und Despotismus anbelangt,
heute mit jedem Großstaat der Welt vergleichen kann.  Emma Goldman, 1922

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Die Grabrede bei Kropotkins Beerdigung hielt eine Anarchistin, die aus den USA nach Rußland gekommen war: Emma Goldman. Zusammen mit ihrem Lebensgefährten Alexander Berkman war die gefürchtete Agitatorin 1918 von der amerikanischen Regierung kurzerhand zwangsdeportiert worden. Beide reisten mit sehr großen Hoffnungen in ihre alte Heimat, wo es endlich zu einer veritablen Revolution gekommen war. Es schien, als hätten die einfachen Menschen ihr Schicksal in die eigenen Hände genommen. Jetzt, wenige Jahre später, blieb ihnen nur noch Resignation. 

Tief enttäuscht, aber auch bestätigt in ihrer anarchistischen Kritik am Marxismus, gingen sie in den Westen zurück. Früh genug, um dem Schicksal der meisten russischen Libertären zu entgehen, die bald dem neuen linken Terror zum Opfer fallen sollten.

"Ich bin felsenfest davon überzeugt", schrieb die <Rote Emma>, "daß jede kommende Revolution zum Untergang verdammt ist, wenn das, was Lenin selbst den militärischen Kommunismus, nannte, der Welt aufgezwungen werden sollte. ... Dies zu zeigen schulde ich der Revolution, die ans Kreuz des Bolschewismus geschlagen wurde."

 

   Eine libertäre Revolution  

Dieser Satz klingt Menschen fremd, die daran gewöhnt sind, zu glauben, die Russische Revolution sei von Lenin und den Bolschewiki ›gemacht‹ worden. Tatsächlich hat die bolschewistische Partei dafür gesorgt, daß die Revolution unterging und die Diktatur triumphierte.

Der Februar 1917 brachte Rußland nach drei Jahren Krieg einen Umsturz, der weit über einen politischen Kurswechsel hinaus­ging. Zwar trat zunächst nur eine linksbürgerliche Regierung an die Stelle des entmachteten Zaren, aber entscheidend war, daß die so oft beschworenen ›Massen‹ auf den Plan traten und die Initiative ergriffen. Rußland war kriegsmüde, zarenmüde, herrschaftsmüde. Man wollte keine mildere Regierung, sondern das Ende der Despotie und den Beginn der Selbstbestimmung. Das war nicht die Losung irgendwelcher Revolutionäre, sondern entsprach der allgemeinen Stimmung.

Die politischen Parteien und Bewegungen Rußlands wurden von der Revolution überrascht. Die leidenschaftliche Woge überrollte sie alle. Selbst Lenin mußte zugeben, daß seine Partei sich von den Massen links überholt sah. Das, was die Menschen wollten, forderten und auch spontan umzusetzen begannen, entsprach am ehesten libertären Idealen. Dies war allerdings kaum das Verdienst der wenigen und schlecht organisierten anarchistischen Gruppen, sondern Ausdruck eines allgemeinen Wunsches nach Befreiung und Selbstbestimmung.


In dieser Tendenz mag sich bis zu einem gewissen Grade die jahrzehntelange anarchistische Propaganda widerspiegeln, aber in erster Linie zeigte sie, daß solche Ideen einfach naheliegend und so populär waren, daß sie keiner Avantgarde bedurften. Genau das hatten Anarchisten ja immer gehofft.

Die russische Linke war seit langer Zeit gespalten. Die Sozialdemokratie, deren führende Köpfe überwiegend im Exil lebten, hatte sich 1903 in London zerstritten: Die gemäßigten Sozialisten, die einen parlamentarischen Weg der Reformen wollten, unterlagen in der Abstimmung und nannten sich nach dem russischen Wort für ›Minderheit‹ Menschewiki. Die ›Mehrheitler‹ – Bolschewiki – hingen einem revolutionären Marxismus an und wollten mit der Hilfe einer Partei von Berufsrevolutionären die Macht durch einen Umsturz erobern. Sie verstanden sich als Avantgarde, ihr Ziel war die sogenannte "Diktatur des Proletariats".

Der Parteiführer Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, lebte in Zürich im Exil, verfügte aber in Rußland über ein straff organisiertes Netz ihm ergebener Anhänger mit einem klaren Programm. Es ist dem deutschen Generalstab zu verdanken, daß er, ausgestattet mit Geld plötzlich in St. Petersburg auftauchte und entscheidend in die Ereignisse eingriff: Man hatte in Deutschland gehofft, daß die Bolschewiki die Ereignisse in Rußland soweit destabilisieren würden, daß es an der Ostfront zu einem Separat­frieden kommen könnte, denn Kaiser Wilhelm brauchte dringend Truppen für den Krieg im Westen. So durfte der gefürchtete Revolutionär in einem kaiserlichen Sonderzug quer durchs Deutsche Reich fahren, um die Front zu entlasten. Ein cleverer Schachzug des deutschen Geheimdienstes, der allerdings weitreichendere Folgen haben sollte, als man sich das in Berlin jemals gewünscht hatte.

Die Bewegung der Sozialrevolutionäre war ebenfalls in linke, rechte und andere Splittergruppen gespalten, die sogenannten Kadetten befürworteten eine gemäßigt demokratische Konstitution, und die Genossenschaften, Berufsverbände und Gewerk­schaften konnten sich zwischen all diesen Angeboten nicht recht entscheiden. Die Anarchisten schließlich lehnten jede Organisierung in Parteien ab und waren, besonders an der Basis sozialer Bewegungen, in erster Linie durch den Einfluß präsent, den sie in ihrem Umkreis durch persönliches Wirken ausübten. Sie waren in Gruppen organisiert, die zum Teil lose föderiert waren; außerdem konnten sie auf Vertrauensleute in den Betrieben und einige Zeitungen zurückgreifen.

Dieser ganze politische Klüngel jedoch hatte mit der eigentlichen Revolution herzlich wenig zu tun. Die Revolte, die unter den Soldaten an der Front, bei den Matrosen der Flotte, den Arbeitern in der Schwerindustrie, den hungernden Familien und den Bauern einzelner Distrikte ausbrach, kümmerte sich nämlich kaum um Parteien, Programme und Ideologien. Diese Revolution gehörte niemandem außer dem Volk. Ihr Impuls wirkte von unten nach oben, folgte keinen besonderen Strategien und entwickelte rasch Organe einer direkten Demokratie. Arbeiter bemächtigten sich spontan der Fabriken, Matrosen besetzten Schiffe und Häfen, Dorfbewohner und Nachbarn schlossen sich zusammen, bildeten Komitees und begannen zu handeln.

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Allenthalben entstanden Räte, die das Leben organisierten, sich miteinander verbanden und schon bald anfingen, die Zukunft zu planen. Mehr und mehr begannen diese Räte, sich nicht nur als eine Notlösung zu verstehen, sondern als die Struktur einer künftigen Ordnung: eine direkte Basisdemokratie – freiheitlich, dezentral, transparent, offen, gleich, unbürokratisch und ohne Dogma. Das war Punkt für Punkt die logische Antwort auf das, was man nicht mehr wollte: Despotie, Zentralismus, Unmündigkeit, Hierarchie, Privilegien, Bürokratie und Starrheit. Die Räte – auf russisch Sowjets – wurden zum populärsten Ausdruck der neuen Verhältnisse, sie waren das Synonym der Revolution. Quicklebendig und begeistert begrüßt, hatten sie nichts mit dem zu tun, was, die Bolschewiki in nur wenigen Jahren aus ihnen machten und womit noch heute der Begriff Sowjetunion in so übler Verbindung steht; einem staatlichen Instrument im Dienste einer bürokratischen Partei zur Beherrschung der Menschen. Als 1917 die Räte begannen, das soziale Leben im libertären Geist zu gestalten, war Lenin noch gar nicht im Lande. Aber auch die Räte waren nicht einfach vom Himmel gefallen.

 

   Die Revolution von 1905  

Sie waren in Rußland schon zwölf Jahre zuvor geboren worden, und auf diese Erfahrung von 1905 griffen die Menschen nun wieder zurück. Auch damals hatte die Not im Gefolge eines Krieges zur Erhebung geführt. Im fernen Osten waren sich der russische und der japanische Imperialismus in die Haare geraten, und Rußland unterlag haushoch zu Lande und zu Wasser. Im Januar kam es zu einer großen Antikriegsdemonstration; sie wurde zwar blutig niedergemetzelt, aber unter der Oberfläche gärte die Unzufriedenheit weiter.

Bis dahin war die Oppositionsbewegung Rußlands überwiegend eine Angelegenheit politischer Intellektueller der höheren Stände gewesen, deren Taktik sich in Propaganda und Verschwörung erschöpfte. Jetzt besteht die Opposition zu vier Fünfteln aus Arbeitern und Bauern, und sie beginnen, sich zu organisieren: Berufsverbände, Genossenschaften und Bauernbund erstarken zusehends, Gewerkschaften entstehen. Im Oktober entlädt sich, gegen den Willen vieler Partei­marxisten, die neue Kraft in einem gewaltigen Generalstreik. Fabrikanten, Adlige, Popen und Großgrundbesitzer werden vielerorts verjagt. Wirtschaft und Gesellschaft sind lahmgelegt.

Dies war die Geburtsstunde des ersten Sowjets, der in den großen Putilow-Werken von St. Petersburg entstand und rasch viele Nachahmer fand. Das Konzept dazu hatten sich kurz zuvor einige Industriearbeiter in der Wohnung des anarchistischen Juristen Wsewolod M. Eichbaum ausgedacht, besser bekannt unter dem Pseudonym Volin. Sie verfolgten schon damals syndikalistische Ideen, die erst Jahre später zur >offiziellen< Taktik im Anarchismus werden sollten. Ihrzufolge würden kämpferische "industrielle Verbände" zu einer Art "wirtschaftlicher Schule" für die Arbeiterschaft, um Verwaltung, Produktion und Verteilung selbst zu übernehmen. Ein solches Netz der Selbstorganisation sollte zur Grundlage einer befreiten Gesellschaft werden.

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In der kurzen Phase der 1905er Revolution entfalteten die Sowjets eine so rege Aktivität, daß der junge Leo Trotzki, damals Vorsitzender eines Arbeiter- und Soldatenrates, voller Begeisterung schrieb: "Die Aktivität des Rates bedeutete die Organisation der Anarchie. Seine Existenz und seine spätere Entwicklung bezeichnen eine Konsolidierung der Anarchie."

Angesichts der entfesselten Kräfte versprachen der Zar und seine Regierung rasch ein paar Freiheiten: eine liberale Verfassung, ein freies Parlament, Reformen. Tatsächlich schickte sich das einberufene Parlament, die Duma, an, eine weitreichende Landreform einzuleiten, den Klerus und den Adel zu enteignen und die Macht des Kaisers zu beschneiden.

Die Revolutionäre waren naiv genug, an ihren Sieg zu glauben. Ernsthafte Versuche, in diesem Moment der Staatskrise die Fabriken, die Verwaltung und die Schaltstellen der Macht zu übernehmen, gab es kaum. Zu schnell und zu leicht hatte man den vermeintlichen Erfolg errungen und war nun ein wenig ratlos. Nicht so das Regime, das seine Versprechen brach, sobald es sich stark genug fühlte. Die Duma wurde aufgelöst, die Verfassung zerrissen, der Widerstand in altbekannter Manier unterdrückt: Auf 400.000 Tote wurden die Opfer der blutigen Gegenrevolution geschätzt, 142.761 gab die Regierung offiziell zu. Während der Kämpfe fanden auf der Gegenseite etwa 4000 Menschen den Tod.

Eine traumatische Erfahrung, vergleichbar mit der Pariser Commune, aber ohne die jahrzehntelange Lähmung von damals. Die russische Arbeiterbewegung zog rasch ihre Lehren aus dieser Niederlage.

In den Gewerkschaften und Berufsverbänden, den eigentlichen Trägern des Streiks, wurde die entscheidende Rolle, die die Räte gespielt hatten, nicht so schnell vergessen. In den folgenden Jahren, für die sie sich immerhin eine legale Existenz erkämpft hatten, konnten sie ihre Stellung in der Gesellschaft ausbauen. Sie blieben dabei von Parteien und Bewegungen unabhängig, verstanden sich aber auch nicht als revolutionäre Organisationen. Dennoch waren auch hier typisch libertäre Forderungen durchaus populär geworden.

So beschloß etwa der Bauernbund auf seinem allrussischen Kongreß in Moskau, daß das Land denen gehören solle, die es bestellen. Land dürfe weder Privatbesitz noch Staatsbesitz sein, sondern müsse der Gemeinde gehören, die in ihrem inneren Verwaltungsleben unabhängig und selbständig bleiben solle. Man darf nicht vergessen, daß die Bevölkerung Rußlands zu achtzig Prozent aus Bauern bestand, die in unbeschreiblichem Elend und weitgehender Rechtlosigkeit lebten. Dabei konnten sie durchaus auf eigene freiheitliche Traditionen zurückgreifen – etwa die dörfliche Selbstverwaltung, den Semstwo, oder den Mir, das bäuerliche Gemeineigentum an Ackerland. Libertäre Ideen waren ihrem eigenen Erfahrungshorizont also keineswegs fremd. Vom marxistischen Standpunkt aus galten Semstwo und Mir jedoch als "rückständig", geradeso wie der Bauer an sich, war er doch ungebildet und ohne proletarisches Bewußtsein. Vermutlich verstand der alte Kropotkin, der in die dörfliche Autonomie so große Hoffnungen gesetzt hatte, mehr von der Psychologie des russischen Bauern als die russischen Marxisten, die einzig im modernen Industrieproletariat das Heil der Revolution erblickten.

Aber auch die Arbeiter in den großen Städten des Landes waren erwacht. Sie entwickelten ein starkes Selbstbewußtsein, und wußten ihre Unabhängigkeit gegenüber den Ideologen zu wahren. Alle Parteien Rußlands vertraten lediglich Minderheiten. Die Masse der Bauern und Arbeiter handelte, wenn sie in Bewegung kam, intuitiv. In dieser Intuition waren die Erfahrung der Sowjets von 1905 zu einer festen Größe geworden, die 1917 wieder aufgegriffen wurde.

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Die ›Jesuiten‹ schlucken Kreide

Es stellt sich natürlich die Frage, wie die kleine, relativ isolierte Partei der Bolschewiki es schaffen könne, eine so große, unabhängige Bewegung wie die von 1917, vor ihren Karren zu spannen. Hierfür gibt es eine Reihe von Gründen.

Die Partei der Bolschewisten war straff organisiert und gehorchte ohne Verzug den Anordnungen der Parteiführung. Sie verfügte über eine in sich geschlossene Ideologie, die im Rang eines fast heiligen Dogmas stand, und den Ruf einer allseits abgesegneten ›Wissenschaftlichkeit‹ genoß. Dadurch war sie weitgehend gegen Kritik abgeschottet. Sie war bewaffnet und scheute sich nicht, Gewalt einzusetzen.

Sie konnte sich auf einen gut organisierten Auslandsapparat stützen, der für logistische Unterstützung, Geld und Propaganda sorgte. Sie hatte einen unangefochtenen Chef, der ein kluger Taktiker und guter Redner war. Dieser Chef, Lenin, war intelligent, ehrgeizig und entschlossen, die Macht an sich zu reißen. Er verfügte über ein ausgeprägtes Gespür für die Gefühle im Volk, verstand es, sich unterschiedlichen Lagen anzupassen und schnell zu reagieren.

All das machte die Bolschewiki zu einer effektiven Truppe, die von Anfang an den Mythos einer selbstlosen, zielstrebigen und opferbereiten Kampfgemeinschaft unters Volk brachte; ein Volk, das von jeher einen Hang zur Verehrung des Märtyrertums hatte. Emma Goldman faßte all diese Eigenschaften in dem launigen Satz zusammen: "Die Bolschewisten bilden den Jesuitenorden in der marxistischen Kirche".

 

Gegen diese geballte Organisationsstärke waren etwa die Anarchisten hoffnungslose Stümper. Was nützte es da, daß sie solch ›effektive‹ Strukturen aus Prinzip ablehnten? Und wer verstand schon ihre warnende Kritik vor dem unseligen Geist des autoritären Sozialismus? Das waren Dinge, mit denen sich Theoretiker beschäftigten, Menschen, die Bücher lasen... So wurde die revolutionäre Bewegung von 1917, der es bei allem freiheitlichen Elan vor allem an revolutionärer Erfahrung und der Geschlossenheit einer eigenen, positiven Idee fehlte, relativ leicht übertölpelt.

Und doch hätte all das nicht ausgereicht, den libertären Geist dieser Revolution so einfach einzukassieren. Um denjenigen den Schneid abzukaufen, die in Rußland ohne Lenins Erlaubnis die Revolution gemacht hatten, mußten die Bolschewiki erst einmal gehörig Kreide fressen. Es klingt paradox, ist aber folgerichtig: Die Bolschewiki mußten zunächst die ›besseren Anarchisten‹ werden.

Lenin, der Freiheit einstmals als "bürgerliches Vorurteil" bezeichnet hatte, erfaßt nach seiner Ankunft sofort die Lage. Entgegen allen bolschewistischen Theorien schwenkt er umgehend auf libertären Kurs und verwirft offiziell all die Dogmen von der führenden Rolle der Partei, Verstaatlichung und Diktatur. Stattdessen schreiben die Bolschewiki plötzlich die libertäre Losung "Alle Macht den Räten!" auf ihre Fahnen.

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Damit liegen sie voll im Trend. "Lenin", schreibt Daniel Guerin, "tat seinen ›Leutnants‹ buchstäblich Gewalt an, indem er sie verpflichtete, eine libertäre Sprache zu reden. (...) Das Ansehen der Räte war so groß, daß der Oktoberaufstand nur in ihrem Namen und auf ihren Appell hin ausgelöst werden konnte."

Mit dem Sturm auf das Winterpalais im Oktober 1917 macht die revolutionäre Bewegung Schluß mit der provisorischen Regierung Kerenskij. Es scheint, als hätten jetzt die Werktätigen die Macht. Noch ziehen die einfachen Menschen, die Sowjets, Lenin und die Anarchisten an einem Strang. Unzweifelhaft kommt den Bolschewiki ein bedeutender Verdienst bei der Organisation und dem militärischen Sieg in dieser Nacht zu. Dieses Ereignis bringt ihnen dann auch einen enormen Prestigegewinn und bildet den Grundstock zur Legende der "siegreichen Oktoberrevolution", die indes nichts anderes war als eine Revolution in der Revolution und zugleich der Anfang ihres Niedergangs.

Ende Oktober sitzen die Bolschewiki fest im Sattel und genießen den Ruf entschlossener Revolutionäre. Die Partei verzeichnet großen Zulauf. Selbst bei den Anarchisten ist das Mißtrauen geschwunden, scheint es doch, daß sich Lenin zu einem aufrechten Libertären gelaufen hat. In der Tat operieren die Kommunisten mehr denn je mit knallharten Anarchoparolen. Nur so konnte Lenin hoffen, die nötige Begeisterung zu entfachen und alle Kräfte zu mobilisieren.

Auf dem dritten Rätekongreß Anfang 1918 verkündet er wörtlich: "Die anarchistischen Ideen nehmen jetzt lebendige Gestalt an". Auf ihrem siebten Kongreß beschließt die Bolschewistische Partei ihre denkwürdigen "Aprilthesen". In ihnen ist die Rede von der Abschaffung der Berufsfunktionäre, der Polizei und der Armee, der Gleichheit von Löhnen und Gehältern sowie der Vergesellschaftung der Produktion, die in den Händen der Arbeiterorganisationen liegen müsse. Die Räte sollten an der Regierung teilnehmen, Ziel sei die völlige Aufhebung des Staates und der Geldwirtschaft. Eine Räterepublik à la Pariser Commune müsse erreicht werden, in der eine Köchin in der Lage sei, das Land zu lenken. Kaum jemand traut den Bolschewiki zu, daß all das nur Taktik ist, kaum jemand hegt Mißtrauen, als sich in der Folge immer mehr prominente Bolschewisten in den Räten etablieren. Lenin wird Vorsitzender des Rates der Volkskommissare und installiert mit seinen Gefolgsleuten Schritt für Schritt eine An neuer Regierung, die das Land nach innen und außen vertritt. All das unter dem Etikett "Aufbau der Sowjetmacht".

In aller Welt fällt die Arbeiterschaft in einen Freudentaumel und feiert die große proletarische Revolution, in der die Werktätigen die Freiheit errungen haben. Es ist die Rede davon, nun das "Paradies der Arbeiter" aufzubauen. Wie später in China, Kuba, Nicaragua glaubt die Linke nur allzu gerne an die guten Nachrichten, die aus fernen Ländern kommen. Wer wollte auch angesichts des langersehnten Triumphes die Schattenseiten sehen! Selbst in Rußland dauerte es ein, zwei Jahre, bis die kritischsten Geister den wahren Charakter des Bolschewismus erkannten und das Scheitern der Revolution konstatieren mußten – wie sollte es da erstaunen, wenn im Ausland der Mythos der Russischen Revolution sogar in den Köpfen der Libertären noch viele Jahre lang festsaß.

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Zunächst jedoch schweißt der Druck von außen die revolutionären Kräfte noch einmal zusammen und überdeckt alle Widersprüche: Die Bolschewiki schließen in Brest-Litowsk unter erdrückenden Bedingungen einen Separatfrieden mit Deutschland. Inzwischen hat sich die Reaktion im Ausland formiert und beginnt eine gut organisierte Gegenrevolution. Von England unterstützte exilrussische Truppen greifen die junge Sowjetföderation von Westen, Süden und Osten an, eine Blockade wird verhängt. Das Land fällt in einen Bürgerkrieg und durchlebt furchtbare Hungerperioden. Die Revolution ist aufs äußerste bedroht.

In diesem Chaos bieten sich die Bolschewiki als Ordnungsfaktor und Retter an, ihre Position festigt sich weiter. Alle Unzulänglichkeiten und Grausamkeiten werden mit den ›besonderen Umständen des Krieges‹ erklärt oder als Kinderkrankheiten der Revolution dargestellt: bedauerliche Fehler, die sich mit der Zeit schon legen würden. Gleichzeitig räumt die Geheimpolizei stückchenweise alle Konkurrenten aus dem Wege. Am Ende des Bürgerkrieges ist Lenins Partei, die sich nun Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) nennt, unumschränkter Herrscher über ein riesiges Reich. Es gibt keine Opposition mehr, das Land ist militärisch organisiert und bürokratisch gleichgeschaltet. Das Volk hat nichts mehr zu sagen. Es regiert die Partei, und das tut sie mit Befehlen, Einschüchterung, nackter Gewalt. Der Geist der Revolution ist tot.

 

Bittere Lehren

All dem standen die Anarchisten fassungslos und unvorbereitet gegenüber. Sie hatten kein Verhältnis zur Macht und waren dem Umgang mit Machtmenschen hilflos ausgeliefert. Der Durchschlagskraft einer straffen Organisation hatten sie nichts entgegenzusetzen. Die Erkenntnis, daß auch die Freiheit sich konkret organisieren müsse, war bitter und wurde teuer bezahlt. Anarchisten hatten sich stets darauf verlassen, daß eine breite Entfesselung des allgemeinen Volksaufstandes ungeahnte Kräfte freisetzen würde, die sich nach dem Sieg der Revolution frei und schöpferisch entfalten könnten.

Die Russische Revolution hatte gezeigt, daß dies zwar möglich war, aber sie hatte auch schonungslos die Lücken im anarchistischen Revolutionsszenario freigelegt. Der Gegner stand nicht nur jenseits der Barrikaden, sondern auch im Lager der Revolutionäre. Anarchisten verstanden es wohl, zu kämpfen, nicht aber gegen Intrigen. Vor allem aber verstanden sie es kaum, zu organisieren. Zwischen der Idee und deren tatsächlicher Umsetzung klaffte eine riesige Lücke. Die Fragen der alltäglichen Praxis und ihrer konkreten Organisation waren sträflich vernachlässigt. So hatte die freiheitliche Revolution keine Zeit zur Entwicklung ihres eigenen Weges und wurde zur leichten Beute derer, die mit Gewalt und entschlossenem Auftreten die scheinbar einfachste Lösung boten. Der alte Kropotkin hatte das klar erkannt, als er kurz vor seinem Tode Emma Goldman seine Lehre aus diesem Debakel anvertraute: "Wir Anarchisten haben sehr viel von der sozialen Revolution gesprochen. Aber wie wenige von uns haben sich die Mühe genommen, die nötigen Vorbereitungen für die unmittelbare Arbeit, die während und nach der Revolution geleistet werden muß, zu treffen. Die Russische Revolution hat uns die absolute Notwendigkeit solcher Vorbereitungen für praktische konstruktive Arbeit klar vor Augen geführt."

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Bevor diese Lehren verstanden und umgesetzt werden konnten, mußte noch viel geschehen. In Rußland jedoch standen die Zeichen der Zeit nicht auf kritischer Reflexion. Die meisten Anarchisten waren von der Tscheka verhaftet, viele von ihnen hingerichtet worden. Aber noch gab es Menschen im Lande, die die Freiheit nicht verloren gaben und sich gegen die neue Tyrannei genauso wehrten wie gegen die alte.

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Literatur:

/ Volin: Die unbekannte Revolution, (3 Bände) Hamburg 1977, Association, 291, 221 u. 189 S.
/ Emma Goldman: Niedergang der russischen Revolution, Berlin 1987, Karin Kramer, 119 S.
/ Alexander Berkman: Die russische Tragödie, Berlin 1980, Libertad, 44 S.
/ Rudolf Rocker: Der Bankerott des russischen Staatskommunismus, Berlin o.J. (1921), 45 S., in: E. Goldmann, R. Rocker: Der Bolschewismus - Verstaatlichung der Revolution
/ Arthur Müller-Lehning: Anarchismus und Marxismus in der russischen Revolution Berlin o.J. (1971 ?), Verlag für Sozial-Revolutionäre Schriften, 146 S.
/ Maximoff: Die revolutionär-syndikalistische Bewegung in Rußland, ebda.
/ Isaak Steinberg: Gewalt und Terror in der Revolution, Berlin 1981, Karin Krämer, 339 S.
/ Johannes Ch. Traut (Hrsg.): Rußland zwischen Revolution und Konterrevolution (Textsammlung, 2 Bde.) München 1974/75, Willing, 23; u. 241 S.
/ N.N.: Die russische Revolution I (Textsammlung) Berlin 1980, Libertad, 43 S.
/ Victor Serge: Eroberte Stadt Frankfurt/M. 1977, Freie Gesellschaft, 181 S.
/ A. M. Pankratowa: Fabrikräte in Rußland Frankfurt/M. 1976, Fischer, 337 S.
/ Group Solidarity: Räte in Rußland Berlin 1971, Roter Oktober, 95 S.
/ Maurice Brinton: Die Bolschewiki und die Arbeiterkontrolle Hamburg 1976, Association, 136 S.
/ Gottfried Mergner (Hrsg.): Die russische Arbeiteropposition - Die Gewerkschaften in der Revolution (Textsammlung) Reinbek 1972, Rowohlt, 21; S.
/ Rudi Dutschke: Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen, Berlin 1974, Wagenbach, 348 S., ill.

 

   

30   Die Machnotschina:  Bauernguerilla in der Ukraine

 

"Sterben oder siegen – das ist es, was im gegenwärtigen historischen Augenblick den Bauern der Ukraine bevorsteht. Wir können aber nicht sterben – unser sind zu viele, wir sind die Menschheit. Also werden wir siegen. Wir werden aber nicht siegen, um unser Schicksal einer neuen Regierung zu überantworten, sondern, um es in unseren eigenen Händen zu halten. Um unser Leben zu gestalten, wie wir es selbst wollen und wie wir es als wahr empfinden."

"Armee ukrainischer Insurgenten", aus dem ersten Aufruf

 

VOR FAST ACHTZIG JAHREN streiften verwegene Gestalten durch die Weite der ukrainischen Landschaft. Ein Heer von über 10.000 Bauernguerillas kontrollierte dort länger als drei Jahre ein Gebiet von 70.000 Quadratkilometern, in dem über sieben Millionen Menschen lebten. Die Bolschewiki nannten sie Banditen, Konterrevolutionäre und aufständische Kulaken*. Die Bourgeoisie beschimpfte sie als bolschewistische Horden. Die ukrainische Bauernschaft aber wußte es besser: es waren die "Machnowzi", anarchistische Partisanen, die in ihrer Heimat für eine libertäre Revolution kämpften. Es gelang ihnen tatsächlich – zum ersten Mal in der Geschichte – eine ganze Region von staatlicher Autorität zu befreien.

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So martialisch* sie in ihrem waffenstrotzenden Aufzug und den zusammengeklaubten Uniformen auch wirkten – sie waren fast ausschließlich Bauern, die Ärmsten der Armen, die mit Krieg nichts im Sinn hatten. Sie hätten viel lieber die Gewehre weggelegt, um in Ruhe ihre Felder zu bestellen und jenen Traum zu verwirklichen, für den die schwarze Fahne stand, unter der sie ritten: die Anarchie. Dieses Wort bedeutete für sie etwas sehr Handfestes. Zunächst einmal, daß sie überhaupt Land zum bebauen hatten. Weiterhin, daß sie sich zusammen­schlossen, um gemeinsam zu wirtschaften. Das leuchtete unmittelbar ein und war an sich auch nichts Neues. Vor allem aber, daß es keine Herren mehr gab, die kommandierten, dreinredeten und den Ertrag fortnahmen. Das war jene schlichte Art von Anarchie, die aus den Herzen kommt und nicht aus Büchern. Nicht erstaunlich bei einer Bewegung, die zum größten Teil aus landlosen Bauern bestand, die in ihrem Leben weder lesen und schreiben gelernt hatten, noch Politik oder militärische Strategie.

Dennoch waren sie, wenn es drauf an kam, hervorragende Soldaten. Nicht aus Neigung zum Militär, sondern weil sie eine Sache verteidigten, in der sie alles zu verlieren hatten. In der "Armee Ukrainischer Insurgenten", wie sich die Machnowzi offiziell nannten, gab es weder militärischen Drill noch Rangabzeichen; die Anführer der Kampfgruppen wurden von der ganzen Mannschaft aus den fähigsten Leuten gewählt. Blinder Gehorsam war verpönt, aber es herrschte strenge Disziplin.

Diese Freiwilligenarmee brauchte weder Nachschub noch Verwaltung oder Kasernen. Ihre Leute waren bei den Bauern der Region willkommen, konnten sich überall verpflegen, die Pferde wechseln oder untertauchen. Das hatten die Bewohner auf den großen Rayonkongressen selbst so beschlossen, und darauf konnten sich die Machnowzi verlassen. In den wenigen friedlichen Perioden, die der Bewegung vergönnt waren, gingen die Partisanen nach Hause und wurden wieder zu Landwirten. Gute Reiter von Kindesbeinen an, entwickelten diese Menschen eine Taktik des mobiles Krieges, die ihre gut ausgerüsteten Gegner zum Wahnsinn trieb. Sie schlugen überraschend dort zu, wo sie am wenigsten vermutet wurden, zogen sich wieder zurück, blieben unauffindbar, um andernorts wieder anzugreifen. So zermürbten sie die deutschösterreichische Besatzungsarmee, trieben die eroberungslustigen Truppen der zaristischen Konterrevolution zur Flucht und widerstanden lange Zeit der Roten Armee, die sich anschickte, die aufrührerische Ukraine ihrem Sowjetstaat zu unterwerfen. Und so schufen sie auch die Grundlage zur Befreiung eines Landstriches von der Größe Irlands, in dem sie sich, wann immer es ging, an den Aufbau einer libertären Gesellschaft machten.

 

Die rebellische Ukraine

Das, was sich wie das Drehbuch eines revolutionsromantischen Spielfilms ausnimmt, hatte einen sehr realen Hintergrund. Die Ukraine – der Name bedeutet übersetzt "am Rande" – war für Rußland schon immer ein ganz besonderes Territorium: eine Art Halbkolonie vor der eigenen Haustür mit einem Hauch von Exotik. Moskau kümmerte sich wenig um diese ›unzivilisierte‹ Gegend. Solange das fruchtbare Land nur genug Lebensmittel erzeugte, durfte es eine relativ große Freizügigkeit genießen. Es wurde Zufluchtsort von entlaufenen Leibeigenen und lokalen Kosakenhäuptlingen, die in den ausgedehnten Wäldern reichlich Unterschlupf fanden.

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Die Städte am Schwarzen Meer, in denen sich viele Juden niedergelassen hatten, galten als kosmopolitische Schmelztiegel verschiedenster Volksgruppen und Orte südlicher Lebensart. Die Ukraine aber war kein unabhängiger Staat, sondern eine Provinz des Russischen Reiches.

Während der Unruhen Anfang 1917 hatten die ukrainischen Bauern vielerorts die Großgrundbesitzer verjagt, das Land enteignet und sich auf eigene Faust in autonomen Sowjets organisiert. Auch in den Industrien kam es vereinzelt zur Bildung von Fabrikkomitees und Übernahmen durch die Belegschaft. Die Provinzregierung war zu schwach, um sich gegen diese Bestrebungen durchzusetzen. Die Oktoberrevolution fand im Süden Rußlands praktisch nicht statt; erst zum Jahreswechsel versuchte die Sowjetregierung ohne großen Erfolg, in der Ukraine Fuß zu fassen. Die Anhängerschaft der Bolschewiki beschränkte sich hier vorwiegend auf intellektuelle Zirkel in den Städten. Zudem hatte sich inzwischen noch eine bürgerlich-liberale Bewegung unter Ssemjon Petljura gebildet, die im November eine nahezu folgenlose "Ukrainische Republik" ausrief.

Durch den Frieden von Brest-Litowsk fiel das Land 1918 an die Deutschen und Österreicher, die aus ihm herausholten, was nur irgend ging. Es kam zu bewaffnetem Widerstand, Gewalttaten, Vergeltung und Unruhen. Die Besatzer versuchten daraufhin, mit Hilfe des deutschfreundlichen Hetman* Skoropadski ein autoritäres Marionettenregime zu installieren, das sich anschickte, die Landnahme rückgängig zu machen. Dagegen wehrten sich die Bauern nur noch energischer.

Erstmals tauchen nun kleine Freischärlergruppen von 20 bis 100 Bewaffneten auf, die von der Verteidigung zum Angriff übergehen. Sie überfallen die Miliz, plündern Arsenale und verjagen die Gutsbesitzer. Mit zunehmendem Erfolg verteidigen sie die enteigneten Güter gegen die anrückenden Regierungstruppen. Die Bewegung radikalisiert sich zusehends und gewinnt an Einfluß und Selbstbewußtsein. Immer öfter tauchen politische Parolen und Manifeste auf, die eine eindeutig anarchistische Handschrift verraten. Die Regierung wird nervös. Trotz der großen Härte, mit der sie vorgeht, wird sie nicht Herr der Lage. Weite Teile des Landes scheinen praktisch unregierbar zu werden. Das Zentrum des Ungehorsams liegt irgendwo im Gebiet zwischen Berdjansk, Jekaterinoslaw, Alexandrowsk und Mariupol – im Rajon von Gulaj-Pole, einer unbedeutenden Provinzstadt. Was zum Teufel ist dort los?

 

"Väterchen Machno"

Dort agierte ein Mann, dessen Name bald zu dem des Aufstandes werden sollte: Nestor Machno. Er kam frisch aus dem Gefängnis des Zaren und hatte das Zeug dazu, aus dem vereinzelten Widerstand eine soziale Bewegung zu machen. Gerade dreißig Jahre alt, wird er von den Bauern des Rayons wie ein weiser Alter verehrt — sie nennen ihn "Väterchen Machno".

Dieser ehemalige Viehhirt wird während der nächsten vier Jahre das bis dahin größte sozialrevolutionäre Experiment des Anarchismus in Gang setzen und dafür Sorge tragen, daß die Generalstäbe mehrerer Armeen keine Ruhe mehr finden. Im Westen, wo er später das bittere Los der Emigration trägt, wird man den Mann ohne Schulbildung, der ebenso selbstverständlich mit Lenin konferiert wie er sein Maschinengewehr bedient, zum "anarchistischen Robin-Hood" verklären, zu einem Rächer der Unterdrückten. Das liegt bei einer solchen Biographie nahe – Machno war wirklich jemand, der zum Anekdotenlieferant taugte.

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1905 hatte sich der Siebzehnjährige in seiner Heimatstadt Gulaj-Pole einer anarcho-kommunistischen Gruppe angeschlossen. An seinem Arbeitsplatz, einer Gießerei, beginnt er mit der Organisierung seiner Kollegen, nachts widmet er sich militanten Aktionen – die damals übliche Taktik. Dafür wird er 1908 zum Tode verurteilt, angesichts seiner Jugend aber zu lebenslänglich begnadigt. Wie für die meisten Revolutionäre der Epoche wird die Haft für ihn zur ideologischen Volkshochschule. Er schließt seine Bildungslücken und freundet sich mit dem erfahrenen Anarchisten Peter Arschinoff an, der später die Kulturabteilung der Machnotschina aufbauen wird. 1917 befreit die Revolution beide aus dem Moskauer Butirky-Gefängnis, und Machno kehrt voll Tatendrang in seine Heimatstadt zurück. Als einziger befreiter Gefangene des Ortes genießt er eine gewisse Prominenz, die Kollegen bereiten ihm einen herzlichen Empfang.

Als erstes ruft er einen Gewerkschaftsverband der Bauernknechte ins Leben, bald wird er zum Vorsitzenden des Rayon-Bauernbundes und des Gulaj-Polsker Bauern- und Arbeiterrates gewählt. Seine ungewöhnlichen Methoden sprechen sich schnell herum und werden nachgeahmt. Beauftragt mit der Landverteilung an die Tagelöhner, schlägt er stattdessen die Einrichtung von agrarischen Kommunen vor, in denen das Land allen gehört und gemeinsam bewirtschaftet werden soll. Den Bauern gefällt die Idee. Von den Latifundisten* erzwingt er die Herausgabe genauer Inventarlisten und sorgt demonstrativ dafür, daß sie genug für ihr Auskommen behalten, aber auch nicht mehr, als allen anderen zusteht. Das gefällt den Bauern noch besser. Natürlich denkt der Landadel nicht wirklich daran, auf seinen Besitzstand zu verzichten, angesichts der Lage spielt er jedoch zähneknirschend mit. Als die Deutschen ins Land kommen, scheint die Stunde günstig, die Güter mit Hilfe der Regierung zurückzuerobern. Das ist der Augenblick, wo der Rat Machno mit der Aufstellung "revolutionärer Arbeiter- und Bauernbataillone" beauftragt – die Geburtsstunde der Insurgentenarmee.

Machno bewältigt diese Aufgabe in kürzester Zeit und mit erstaunlicher Effektivität. Da es mehr Freiwillige als Waffen gibt, bedient er sich bei den Besatzern: In dreisten Handstreichen fällt den Aufständischen modernstes deutsches Gerät in die Hände. Rasch stehen tausend Reiter unter Waffen, Gulaj-Pole wird befreit. Das 25.000 Einwohner zählende Städtchen mit seiner mittelständischen Industrie verwaltet sich nun selbst.

Aus einzelnen Überfällen entwickelt sich ein regelrechter Zermürbungskrieg, dessen Ziel zunehmend darin besteht, gewisse Orte und Landstriche ganz von staatlicher Autorität frei zu halten, um dort den Aufbau autonomer Kommunen und die Entwicklung von Selbstverwaltungsorganen zu begünstigen. Regelrechte Fronten entstehen. Mit einem an Provokation grenzenden Selbstbewußtsein ignorieren die Menschen alles, was an staatlichen Strukturen übriggeblieben ist. Die verbitterten Kleinbauern haben den Geruch der Freiheit gewittert, und ihr Beispiel wirkt ansteckend. Wie ein Steppenbrand breitet sich die Bewegung aus. Die Staatlichkeit zieht sich in die Städte zurück. Innerhalb weniger Monate hat die Guerilla den Spieß umgedreht: Aus Verfolgern wurden Verfolgte.

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Machnos Reiterei war nicht die einzige aufständische Gruppe in Südrußland. Bewaffnete Erhebungen haben in der Ukraine eine lange Tradition, auch 1905 war der Rayon Schauplatz heftiger Kämpfe gewesen. Kropotkins Lehren, seit Jahren durch kleine, illegale Gruppen propagiert, ließen nun vielerorts aufständische Trupps entstehen, in denen meistens Anarchisten die Initiative ergriffen. Rasch entstanden hieraus die Keimzellen der Partisanenarmee. Die Gruppen operierten teils unter einem gemeinsamen Stab, teils autonom, und ihr Beispiel wirkte inspirierend. Auch außerhalb der Ukraine, bis in den Ural hinein, flackerten bewaffnete Rebellionen auf.

Väterchen Machno schien die Figur zu sein, die all das zusammenhielt. Er war der entschlossene militärische Stratege, den die Guerilla brauchte, und es zeigte sich, daß er ein ausgesprochen taktisches Geschick entwickelte. Zweifellos besaß er großen persönlichen Mut. Sein Hang zu einem gewissen Draufgängertum, seine Trinkfestigkeit und sein bäuerlich-derber Charakter stießen in städtischen Anarchistenkreisen gelegentlich auf Kritik, machten ihn bei der Landbevölkerung hingegen sehr populär. Dabei war er alles andere als der landestypische kriegslüsterne Kosak. Persönliche Macht und Bereicherung waren dem zutiefst idealistischen Revolutionär zuwider; entsprechende Verstöße seiner Leute ließ er mit erschreckender Härte bestrafen. Im Grunde war Machno ein rigider anarchistischer Moralist, dessen einfache Lebensphilosophie den Bauern gerade durch ihre Gradlinigkeit verständlich wurde. Er war ein passabler Redner, verstand zu überzeugen, und seine etwas bildhaften politischen Manifeste trafen in ihrer Einfachheit genau den Geschmack der Adressaten.

Es verwundert nicht, daß dieser Mann schon auf dem ersten Rayonkongreß der Insurgenten zum militärischen Führer des Aufstandes gewählt wurde. Mit jedem Handstreich wird sein Kopfgeld erhöht, sein Name bekannter. Schon bald geben die Menschen der ganzen Bewegung den Namen ihres Organisators: "Machnotschina".

 

Der Krieg

Niemals zuvor hatten spezifisch anarchistische Ideen eine so breite soziale Basis und eine so starke Ausgangssituation gehabt wie diese "Machno-Bewegung". Die erste großangelegte Verwirklichung der libertären Utopie war auf die Tagesordnung gesetzt. Allerdings stand dieses gewaltige Sozialrevolutionäre Experiment von Anfang an unter einem ungünstigen Zeichen: dem des Krieges. Vom ersten bis zum letzten Tag waren die Machnowzi in einen unseligen Kampf verwickelt. Da sie sich als die Garanten der freien Lebensentfaltung im Rayon verstanden, waren sie ständig damit beschäftigt, die wechselnden Invasoren fernzuhalten. Die Perioden relativen Friedens waren zu kurz, um eine wirklich tiefgreifende soziale Umwälzung durchzusetzen.

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Zwar gelang es der Bewegung, die Deutschen und Österreicher zu zermürben und die Marionettenregierung des Hetman zu vertreiben, ebenso wie sie in ihrem Rayon die Regierung Petljura schachmatt setzte. Auch der Anspruch der Bolschewiki auf die Staatshoheit der Sowjetregierung blieb in der Region zunächst ein theoretisches Konstrukt, von dem praktisch nichts zu spüren war. Lenins Schreibtisch und die Rote Armee waren weit weg. Aber die Ukraine war inzwischen zum Spielball ganz anderer Mächte geworden.

Zarentreue Generäle rückten mit loyalen Truppen von Südosten her auf Zentralrußland vor. Auf ihrem Weg mußten sie zunächst die Ukraine erobern. Diese sogenannte "weiße" Konterrevolution wurde von England und exilrussischen Finanziers unterstützt, war gut ausgerüstet und bedrohte nicht nur den freien Rayon, sondern die Russische Revolution insgesamt. So focht die Machnotschina, inzwischen zu einer mobilen Partisanenarmee von bis zu 30.000 Freiwilligen angewachsen, einen erbitterten Kleinkrieg gegen die "weißen Generäle" Denikin und Wrangel.

Die Bolschewiki wiederum hatten in ihrem russischen Herrschaftsbereich machtpolitisch bald alles unter Kontrolle. Die "neuen Zaren" wollten sich nun auch den Rest des alten Reiches einverleiben und stießen von Norden her in die Ukraine vor. An ihrer Spitze stand der Marschall der Roten Armee, Leo Trotzki, der sich schon vorher einen üblen Namen bei der Niederschlagung der Opposition gemacht hatte. Er gebärdete sich wie ein Feldherr in Feindesland und zerschlug im Namen der Sowjetmacht alle freien Sowjets, die in den Bereich seines Militarismus gerieten. Aus dem Anarchosympathisanten war ein wahrer Anarchistenfresser geworden, ein Machtmensch, der eine libertäre Alternative nicht dulden konnte, und dem der Wille des Volkes wenig bedeutete.

Die Machnowisten jedoch sahen in den Bolschewiki zunächst keine Gegner. Für sie waren Marxisten gleichfalls Sozialisten, also Klassenbrüder. Daß sie eine andere Auffassung von Sozialismus vertraten, schien ihnen nicht wichtig. Die libertären Bauern waren weder versierte Theoretiker, noch ahnten sie, was die Tscheka inzwischen in Zentralrußland mit den Anarchisten angestellt hatte. Sie wären nicht im Traum darauf gekommen, daß für die Bolschewiki ein friedliches Nebeneinander zweier unterschiedlicher Modelle gar nicht in Frage kam. Hatte nicht Machno noch im Sommer 1918 ein langes Gespräch mit Lenin geführt, in dem dieser den Ernst und den Mut der ukrainischen Anarchisten lobte und von Zusammenarbeit sprach? An machtpolitisches Kalkül mochte ein aufrechter Machnowist nicht glauben. Die Revolution der Bolschwiki hielten sie für gut, ihre eigene für besser.

So waren die ersten Kontakte zwischen den roten und den schwarzen Truppen freundlich, ja geradezu brüderlich. Man respektierte sich und war sich einig im Bewußtsein, einen gemeinsamen Feind zu haben, der die bolschewistische und die anarchistische Revolution gleichermaßen bedrohte.

Dieser Feind rückte mittlerweile sehr handfest vor: General Denikins Invasionsarmee stand vor der Tür. Unter diesem Druck ging die oberste Führung der Sowjetarmee ein formelles Bündnis mit Machno ein, obwohl Lenin und Trotzki sehr wohl wußten, daß das Beispiel einer freien Ukraine mit blühender Selbstverwaltung eine ernste Bedrohung für ihren Kasernenhofsozialismus hätte werden können. Im Kreise seiner Vertrauten äußerte Trotzki: "Es ist besser, die gesamte Ukraine an Denikin abzutreten, als eine Weiterentwicklung der Machnotschina zu dulden."

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Aber die Kampfmoral der Roten Südarmee war miserabel, ihre Truppen kontrollierten kaum mehr als die Eisenbahnlinien und ein paar befestigte Stützpunkte. Die hochmotivierten Machnowisten hingegen kämpften auf heimischem Boden und verteidigten ihre eigenen Interessen. Sie verfügten inzwischen über Kraftwagen, Eisenbahnen, Artillerie und sogar gepanzerte Fahrzeuge. Militärisch waren sie unverzichtbar. Und tatsächlich konnten sie den Ansturm stoppen. Zwei Jahre dauerte das zähe Ringen — ein verwirrendes und atemloses Auf und Ab mit fließenden Fronten und wechselndem Kriegsglück, dessen aufschlußreicher Detailgeschichte von Taktik, Verrat, Geniestreichen, Opfermut und Hinterlist hier nicht nachgegangen werden kann.

Um es kurz zu machen: Die Bolschewiki spielten ein machiavellistisches Spiel. Genau viermal biederten sie sich bei der Machnobewegung an – immer dann, wenn der militärische Druck zunahm. Jedesmal kam es zu einem Appell an revolutionäre Gemeinsamkeiten, zu einem Bündnis und zum Marsch der Insurgenten an die Front. Dort kämpften die Guerillas unter großen Opfern gegen die überlegenen weißen Truppen, während sich die Rote Armee meist diplomatisch auf ›strategische Positionen‹ zurückzog.

Kaum waren die Partisanen jedoch in ihren Rayon zurückgekehrt, sickerte die Rote Armee wieder ein und hinter ihr die rote Staatsmacht, um das freie Gemeinwesen zu bedrängen. Zunächst kaum merklich, aber mit der Zeit immer dreister und brutaler. Die Machnowisten hatten ihre naive Gutgläubigkeit zwar längst begraben, aber zur Verteidigung ihres Landes sahen sie keine Alternative als den Versuch, die Bolschewiki durch Kooperation ruhigzustellen. Als schließlich der weiße Gegner endgültig geschlagen war, setzte die Anarchistenhatz mit voller Stärke ein. Der Auftakt hierzu begann noch während der gemeinsamen Siegesfeiern der roten und schwarzen Regimenter auf der zurückeroberten Halbinsel Krim: Tscheka-Kommissare zerrten die machnowistischen Kommandeure von der Tafel weg und ließen sie in einem Hinterhof erschießen. Die Partei wollte endlich die aufmüpfige Ukraine unterwerfen.

Hierzu bedurfte es allerdings noch eines vollen Jahres erbitterter Kämpfe. Mit enormem Aufwand rollte man nun den freien Rayon militärisch auf. Die aufständischen Truppen wurden zersprengt, die Kommunen zerschlagen, die Räte aufgelöst. Unter der Bevölkerung, die noch immer zu Machno hielt, übte die Invasionsarmee blutige Rache. Noch im Sommer 1922 rangen einzelne Guerillaverbände mit der Roten Armee, aber sie kämpften auf verlorenem Posten. Das Experiment war militärisch liquidiert.

 

Das konstruktive Werk der Machnotschina

Sobald die Partisanen eine Ortschaft eingenommen hatten, schlugen sie Plakate an, auf denen zu lesen stand: "Die Freiheit der Bauern und Arbeiter gehört ihnen selbst und darf nicht eingeschränkt werden. Die Bauern und Arbeiter handeln selbst, organisieren sich, verständigen sich untereinander über alle Bereiche des Lebens, so wie sie es selbst verstehen und wünschen. Die Machnowisten können ihnen nur helfen, ihnen diesen oder jenen Ratschlag geben, aber sie können und wollen auf keinen Fall regieren." Das war der freie Rahmen, in dem sich die Selbstverwaltung entfalten sollte.

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Überall dort, wo dieser Rahmen garantiert werden konnte, übernahmen Menschen, die nie zuvor Verantwortung getragen hatten, die Initiative. Grundlage des Systems waren freie Räte, die sich übrigens allesamt dafür aussprachen, ihre Arbeit frei von Parteipolitik zu halten. Jeder Mensch sprach nur mit einer Stimme für sich selbst.

Die Räte waren in ein wirtschaftliches Gesamtsystem integriert, das auf der Basis sozialer Gleichheit die Organisation der Arbeit und den Austausch der Waren organisierte. Produktionseinheiten waren in Distrikte, Distrikte in Regionen zusammengefaßt. Die Delegierten hatten dabei das Mandat zu vertreten, mit dem sie von ihren Kollegen oder ihrer Region beauftragt worden waren. Die gewählten Menschen verstanden sich als Ausführende, die ihren Auftrag vom Sowjet bezogen; gleiches galt für die Partisanenarmee. Ämter waren nicht mit wirtschaftlichen Vorteilen verbunden, und nach Ablauf der Amtszeit nahmen die Leute ihre gewöhnliche Arbeit wieder auf. Die Rayonkongresse, auf denen mehrere Tausend Menschen zusammenkamen, um die Fragen von großer Tragweite zu entscheiden, bildeten sozusagen den Gipfel der Selbstverwaltung. Von ihnen wurden insgesamt drei durchgeführt. Den vierten unterbanden die Bolschewiki, die dazu übrigens alle potentiellen Teilnehmer für vogelfrei erklärten.

Die vordringlichste Aufgabe war neben der Verteidigung des Rayons die Organisation der Arbeit. Fabrikbelegschaften, Bauern und Transportarbeiter waren hierbei aufeinander angewiesen. Die größten Fortschritte gab es dabei auf dem Lande. Zwar kam es auch in etlichen größeren Städten, die von den Machnowzi besetzt wurden, zur Gründung von Räten und ansatzweiser Selbstverwaltung in den Industrien, aber dort konnte sich die Guerilla nie für längere Zeit etablieren.

Auf dem Lande hingegen florierte das Netz der Bauernkommunen. Die erste wurde nach der deutschen Sozialistin Rosa Luxemburg benannt und später von den Kommunisten zerstört; alle weiteren erhielten nur noch Nummern. Obgleich sich die Initiatoren der Kommunen als "Anarchokommunisten" bezeichneten, folgte ihr Modell eher der "anarchokollektivistischen" Idee: Alle Männer, Frauen und Kinder mußten ihren Kräften entsprechend arbeiten. Das waren die Menschen nicht anders gewohnt, und es entsprach ihrer Auffassung von Gleichheit und Solidarität. Trotz der Kriegslage blieb die Agrarproduktion beachtlich. Die Machnowzi schickten ganze Güterzüge mit Getreide zu den hungernden Arbeitern nach Petrograd, wobei sie sich bezeichnenderweise weigerten, mit der Regierung in Kontakt zu treten. Sie wollten nur von Sowjet zu Sowjet verhandeln. Der Ukraine blieben die großen Hungersnöte nicht deshalb erspart, weil sie ein Agrarland war – das galt für den größten Teil Zentralrußlands ebenso –, sondern weil die Menschen freiwillig und ohne Zwang arbeiten konnten.

Ein Hauptproblem der Bewegung war ihr Mangel an Intellektuellen. Sie hatte kaum Verbindung nach Rußland oder ins Ausland. Der soziale Charakter der Bewegung war so gut wie unbekannt, in der staatlichen Presse war stets die Rede von "Banditen", und selbst die meisten Anarchisten schenkten dem Glauben. Erst eine Reise Machnos nach Rußland brachte im Sommer 1918 eine gewisse Verbesserung. Außer mit Lenin traf er mit Kropotkin zusammen und besuchte verschiedene anarchistische Gruppen.

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Mit einem Koffer voll verbotener Anarcholiteratur reiste er unerkannt in die Ukraine zurück, und wenig später folgten ihm unter abenteuerlichen Umständen einige risikofreudige städtische Anarchisten nach, die mit dem Aufbau einer eigenen Abteilung für Kultur und Volksbildung begannen. Unter ihnen befanden sich auch Arschinoff und Volin, die in den Städten die Bildung der Nabat angeregt hatten, eines Kartells anarchistischer Gruppen zur Unterstützung der Guerillabewegung.

Die Kulturabteilung gab neben einer Reihe von Zeitschriften und einfachen Broschüren das Hauptorgan der Aufständischen, Putj k Swobode, heraus und sorgte ansonsten für die Pressefreiheit aller linken Gruppen und Parteien. Sie organisierte Schulungen unter den Partisanen, initiierte eine breite Alphabetisierungskampagne und fand sogar Muße, sogenannte "revolutionäre Bauerntheater" zu fördern, die sich bei der Verbreitung libertärer Ideen der Literatur als überlegen erwiesen. Die durchschlagendste Überzeugungskraft aber besaß nach wie vor die konkrete Tat. Das Verteilen von Land, das Verbrennen von Grundbüchern und Schuldlisten, die Vertreibung der Großgrundbesitzer und Popen, die gemeinsame Arbeit in der Kommune, der Austausch von Gütern und das freie Wort als Grundlage zu freier Entscheidung – das war leicht zu verstehen. Wenn das, was die Machnowzi vorlebten, Anarchie sei, nun ja, dann war Anarchie eben etwas Gutes.

Wir kennen leider sehr wenig Details über den innerem Aufbau des freien Rayons. Wie sah der Alltag aus? Wie genau funktionierten die Kommunen? Wie geschah der wirtschaftliche Austausch? Welche Rolle spielten die verschiedenen Währungen? Wie verfuhren die Menschen mit unterschiedlichen Interessen? Welche Wirkung hatte die bewaffnete Präsenz der Partisanen? All das bleiben offene Fragen. Als die letzten versprengten Trupps der anarchistischen Hauptarmee, unter ihnen der schwerverwundete Machno, am 28. August 1921 über den Dnjestr nach Rumänien flohen, hatten sie Besseres zu tun, als die Archive der Bewegung zu retten. Die waren ohnehin dürftig genug, denn die Machnotschina produzierte wenig bedrucktes Papier. Das meiste davon ging unwiederbringlich verloren. So sind wir auf die spärlichen persönlichen Erinnerungen angewiesen, die die überlebenden Kämpfer im Exil veröffentlichten.

 

Lehrstück mit tragischem Ausgang

Ihnen können wir entnehmen, daß die freie Ukraine nicht das perfekte anarchistische Wunschmodell war, eher ein Lehrstück mit tragischem Ausgang. Die wichtigste Lehre lautete, daß es möglich ist, eine libertäre Revolution in Gang zu setzen und auf breitester Basis zu entwickeln. Die Grundzüge einer anarchistischen Gesellschaftsform sind auch in großem Stil nachvollziehbar, lebbar und funktionsfähig; offensichtlich entsprechen sie, unabhängig von politischen Ideologien, menschlichen Bedürfnissen. Die zweite Lehre ist ambivalent: Das Machtvakuum, das in chaotischen Zuständen großer gesellschaftlicher Umbrüche entsteht, kann den Ausbruch einer befreienden Revolte und die Umsetzung einer libertären Gesellschaft begünstigen. Der Preis dafür ist oft die Militarisierung der Bewegung, die den Freiraum erkämpfen und verteidigen muß. Die Chance, den Freiraum bei einer Normalisierung der Lage gegen den Staat mit Waffengewalt zu behaupten, ist

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gering. Als Ausweg aus diesem Dilemma bietet sich die dritte, die indirekte Lehre an: Je mehr eine Bewegung traditionell verankert, strukturell entwickelt und inhaltlich reif ist, desto geringer wird die Bedeutung des militärischen Aspekts. Die Machnotschina war eine Spontangeburt, der diese drei Voraussetzungen fast völlig fehlten. Entsprechend prägend war in ihr die Dynamik des Kampfes und entsprechend spurlos verschwand sie nach der Niederlage der Guerilla. Ein Gemeinwesen ohne solide Tradition, Struktur und Vision kann Zeiten der Okkupation nicht überleben. Die vierte Lehre ist kurz, traurig und bis heute prägend: In der Ukraine machten die Anarchisten die traumatische Erfahrung, daß autoritärer und libertärer Sozialismus keine ungleichen Brüder, sondern Gegner sind.

An der Machnotschina haben sich seither die anarchistischen Geister geschieden. Für die einen war sie ein heroisches Epos voller Heldenmut und Opferwillen, für die anderen war sie gerade deswegen unarnachistisch.

Tatsache ist, daß Krieg Hierarchie fördert. Wieso gab es einen Machno, weshalb trägt die Bewegung seinen Namen? Wäre es ohne ihn genauso gekommen, oder war er der unverzichtbare Führer? Peter Arschinoff, der Chronist des Aufstandes, ist überzeugt davon, daß sich auch ohne Machno eine vergleichbare Bewegung entwickelt hätte. Andererseits war er tatsächlich der Volksheld, der sich voll und ganz für die Sache einsetzte, der er sich verschrieben hatte. Es darf bezweifelt werden, daß die Bewegung ohne ihn solche Ausmaße angenommen hätte. Ohne Frage war er die zentrale Integrationsfigur zwischen bäuerlichem Zorn und anarchistischem Ideal, gepaart mit strategischem Genius. Ob seine Qualitäten über die eines Partisanen-Feldherrn weit hinausreichten, ist umstritten; sicher ist aber, daß er als Mensch integer blieb und jeden Führerkult ablehnte. Dafür spricht auch das unauffällige Leben, das er im französischen Exil führte, wo er 1935 in einem Armenhospital an den Spätfolgen von Kriegsverletzungen und Gefängnistuberkulose starb.

Tatsache ist auch, daß der Aufstand eine ungemein blutige Angelegenheit war. Die Anarchie, die Idee des herrschaftslosen Friedens, kam im Gewande eines riesigen Gemetzels zur Welt. Das war nicht die Schuld der Anarchisten – die verhielten sich inmitten der entfesselten Blutorgie des Bürgerkrieges vergleichsweise zurückhaltend –, aber für das einzelne Opfer wird es kaum ein Trost gewesen sein, zu wissen, warum und woher die Kugel kam, die es tötete. Daß Anarchisten, die Herrschaft abbauen statt aufbauen wollten, ausgerechnet Krieg führen mußten, kam der Herausbildung libertärer Friedfertigkeit nicht entgegen. Es gab für die ukrainischen Anarchisten aber in keinem Augenblick die Wahl zwischen kriegerischem und friedlichem Weg. Trotzdem: Krieg, egal in welcher Form, ist das Autoritärste was sich denken läßt. Er macht die Menschen hart und verroht sie. Kein gutes Klima für Anarchie. Den Frieden, in dem sie andere Formen hätten finden können, haben die ukrainischen Partisanen nie gekannt. Sie waren daher nicht zimperlich, Gewalt war ihr tägliches Geschäft. Disziplin setzten sie in ihrer Armee oft brutal durch, und der Tod war eine Strafe, die die Kämpfer nicht selten über ihre eigenen Kameraden verhängten, wenn diese sich "gegen das Volk" oder die "anarchistischen Prinzipien" vergingen.

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Ebenso unerbittlich wie gegen sich selbst, gingen die Aufständischen auch gegen die Feinde der Freiheit vor. Während man gefangene Soldaten, die ohnehin oft zu den Machnowzi überliefen, entwaffnete und wieder freiließ, fielen Offiziere, Großgrundbesitzer und Popen nicht selten der aufgestauten Wut zum Opfer. Viele von ihnen wurden erschossen, gehängt, oft auch gelyncht von denen, deren Angehörige zuvor erschossen, gehängt und gelyncht worden waren. Dadurch aber wird eine Hinrichtung nicht weniger unanarchistisch, ebensowenig wie durch die Tatsache, daß die Gegenseite ungleich brutaler vorging oder die Partisanen immer wieder einschritten, um schlimmere Exzesse zu verhindern.

Es fällt dennoch schwer, den Philister zu spielen und über ein Volk, das sich mit Gewalt befreit, den Stab zu brechen. Bei aller Kritik darf nicht vergessen werden, daß Gewalt bei den Machnowzi kein Selbstzweck war. Anders als Ravachol oder Henry, die der Gewalt an sich huldigten, war der Krieg für die Aufständischen der Ukraine ein offenbar unvermeidliches Mittel auf dem Weg zu einer freien Gesellschaft.

Ob dieses Ziel auf diese Art jemals erreicht worden wäre, können wir nicht wissen. Die Frage, ob aus dem freien Rayon eine funktionierende anarchistische Gesellschaft hervorgegangen wäre, hätte nur dann eine Antwort gefunden, wenn man das Experiment hätte gewähren lassen. Das ist die Lehre Nummer sechs, und sie gilt für den Anarchismus allgemein.

 

Literatur:

/ Nestor Machno: Das ABC des revolutionären Anarchisten, Osnabrück o.J., Packpapier, 40 S.
/ ders.: My Visit to the Kremlin Edmonton 1979, Black Cat Press, 32 S., ill.
/ Peter Arschinoff: Geschichte der Machno-Bewegung iyiS -1911 Berlin 1969, Institut f. Praxis u. Theorie d. Rätekomniunismus, 31; S.
/ Volin: Ukraine iyi8 - 1921 in: ders.: Die unbekannte Revolution Bd. III (vgl. Kap. 29!)
/ Augustin Souchy: Wie lebt der Arbeiter und Bauer in Rußland und in der Ukraine? in: ders.: Reise nach Rußland 79.20, Berlin 1971, Europäische Ideen/Guhl, 172 S., ill.
/ Horst Stowasser: Die Machnotschina Wetzlar 1982, An-Archia, 122 S., ill.
/ ders.: Machno (16 S.) in: Lehen ohne Chef und Staat Frankfurt/M. 1986, Eichborn, 192 S., ill.
/ N.M.: Die Machno-Bewegung- Texte und Dokumente Berlin 1980, Libertad, 32 S.
/ Michael Palij: The Anarchism of Nestor Makhno Seattle und London 1970, University of Washington Press, 428 S.
/ Michael Malet: Neitor Makhno in the Russian Civil War London 1982, The Macmillan Press, 232 S.
/ Alexandre Skirda: Nestor Makhno - LtCosaque de l'Anarchie Millau 1982, Selbstverlag, 476 S., ill.
/ Dittmar Dahlmann: Land und Freiheit - Madmovscina und Zapatismo als Beispiele agrarrevolutionarer Bewegungen Stuttgart 1986, Franz Steiner, 296 S.

 

  

31    Die Kommune von Kronstadt

 

Das Blut der Unschuldigen wird auf die Häupter
der autoritätstrunkenen kommunistischen Fanatiker fallen.
Kronstädter "Izvestia", 8.3.1921

ALS "STOLZ UND RUHM DER RUSSISCHEN REVOLUTION" hatte Trotzki die Matrosen von Kronstadt bezeichnet. Das war im Jahre 1917. Im Jahre 1921 nannte er sie "gegen-revolutionäre Meuterer" und ließ ihnen eine unmißverständliche Warnung zukommen: "Wir werden Euch abknallen wie die Rebhühner!" Wenige Tage später lagen Tausende von Toten im Schnee der Insel. Was war in diesen vier Jahren geschehen?

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Die Kronstädter Matrosen hatten an ihrer Forderung von 1917, "Alle Macht den Räten!", festgehalten. Leo Trotzki aber war inzwischen ein Staatsmann geworden. Was interessierte ihn sein Geschwätz von gestern? Die Zeiten hatten sich geändert.

 

Kronstadt und seine Matrosen

Kronstadt, auf einer Insel im Finnischen Meerbusen gelegen, ist bis heute Heimathafen der russischen Ostseeflotte und vollständig als Marinestützpunkt ausgebaut. Die Insel ist St. Petersburg knapp dreißig Kilometer vorgelagert und dient mit ihren schweren Batterien dem Schutz der ehemaligen Hauptstadt, die 1921 bereits Petrograd hieß und schon bald Leningrad heißen sollte. In Kronstadt lebten 1921 etwa 30.000 Menschen, überwiegend Marineangehörige und Werftarbeiter.

Unter den Kronstädter Matrosen herrschte seit jeher ein kritischer und revolutionärer Geist. 1905 gaben sie das Signal zum bewaffneten Aufstand, 1906 scheiterte eine Erhebung, 1917 setzen sie ihre Offiziere ab und unterstützten die Revolution, der sie im Oktober unter Einsatz ihrer Schiffe und Kanonen zum Durchbruch verhalfen. Ohne diese Matrosen hätte die Oktober­revolution nicht stattgefunden.

Begünstigt durch die isolierte Situation bildete sich unter den Menschen auf der Insel ein eigenartiges Zusammen­hörigkeits­gefühl heraus, in dem das neue Räteprinzip sehr ernst genommen wurde. Der zentrale Festungsplatz konnte die gesamte Bevölkerung fassen und diente oft als Forum für riesige Versammlungen. In der Marine, einer hochtechnisierten Waffengattung, dienten überdurchschnittlich viele gebildete Menschen aus allen Landesteilen, denen der ziemlich leichte Dienst genügend Zeit ließ, die politischen Ereignisse aufmerksam zu verfolgen. Kronstadt war, noch bevor es zu einer aufständischen Kommune wurde, bereits eine sehr rege Gemeinde mit einer starken Identität: sensibel, kritisch und relativ frei. Aufgrund ihres revolutionären Rufs hatten die Matrosen das Recht erhalten, an den Arbeiter­versammlungen von Petrograd teilzunehmen.

Im Grunde waren die Bewohner Kronstadts die idealtypischen Anhänger der Oktoberrevolution. Sie repräsentierten ihren Geist und versuchten, aufrichtig nach dem zu leben, was die Bolschewisten seinerzeit propagiert hatten. Die meisten waren überzeugte Parteigänger Lenins, und die Bolschewiki zählten auf der Insel viele Mitglieder. Es gab auch organisierte Anarchisten und linke Sozialrevolutionäre, aber Parteiunterschiede spielten kaum eine Rolle. Man lebte ja in einer Rätedemokratie, und das, darin war man sich einig, war das Wichtigste.

 

Unruhe und Empörung

1921 erwarteten die Menschen in Rußland endlich eine Verbesserung ihres schweren Lebens. Die weißen Generäle waren besiegt, der Bürgerkrieg zu Ende, es gab keinen Vorwand mehr für die harte Hand der Diktatur und die Militarisierung des Lebens. Aber die wirtschaftliche Lage blieb katastrophal. Es fehlte an Nahrung, Heizmaterial und allen Dingen des täglichen Bedarfs bis hin zu Streichhölzern.

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Die Partei fuhr fort, den Diktator zu spielen, während sich ihre Funktionäre immer schamloser mit allem bedienten, was sie brauchten. Ende Februar kam es in Petrograd, Moskau und anderen Industriezentren zu Streiks, und auf dem Lande brachen Unruhen aus. Die Forderungen waren einfach: Brot und Freiheit. Die Regierung ließ die Proteste mit Gewalt auflösen. Aber die Arbeiter kamen wieder, und diesmal war ihre Kritik schärfer: Die Partei wurde als autokratisch, machtgierig und unfähig angegriffen, die Forderung nach Wieder­herstellung freier Sowjets wurde laut. Die Antwort; Aussperrungen, Verhaftungen, Schüsse, die ersten Toten. Über Petrograd wurde das Kriegsrecht verhängt.

In Kronstadt hatte man von diesen Ereignissen gehört und eine Delegation zu den Streikenden entsandt. Nach ihrer Rückkehr bestätigen die Matrosen die schlimmsten Befürchtungen. Während zweier Massenversammlungen auf dem Forum solidarisiert sich die Stadt mit den Streikenden und übernimmt deren Forderungen. Noch glaubt niemand an eine Eskalation, obwohl der zufällig anwesende Staatschef Kalinin wutentbrannt abreist, nachdem er öffentlich von 16.000 Menschen überstimmt worden war, die auf dem großen Platz eine Protestnote verabschiedet hatten. Kernstück dieser Resolution war die Forderung nach einer parteilosen Konferenz von Arbeitern, den roten Soldaten und Marineangehörigen von Petrograd, Kronstadt sowie der Provinz, die die Vorfälle untersuchen sollte. Im Grunde hoffen die Matrosen auf die Einsicht der Regierung, da die Arbeiter im Recht seien und eigentlich dasselbe fordern wie die Bolschewiki. Sie bieten sich sogar als Vermittler an und entsenden ein zweites Komitee. Als die dreißig Matrosen mit der Resolution im Gepäck in Petrograd eintreffen, werden sie verhaftet und verschwinden spurlos. Die Kommunistische Partei hatte die Bedrohung erkannt: Es ging letztlich um die Infragestellung ihres Herrschaftsmonopols. Sie reagiert mit Verleumdung und bezeichnet die Kronstädter als Meuterer gegen die Sowjetmacht im Solde weißer Generäle, Pariser Finanziers und exilierter Menschewiken.

In Kronstadt wird die Botschaft so verstanden, wie sie gemeint war: als Kriegserklärung. Aber niemand wollte so recht daran glauben, daß die Regierung der Revolution tatsächlich mit Gewalt gegen Revolutionäre vorgehen würde. Während Trotzki, der ehemalige zaristische Marschall Tuchatschewski und der Petrograder KP-Chef Sinowjew bereits Truppen konzentrieren und den Plan zur militärischen Eroberung ausarbeiten, verlegen sich die Kronstädter auf beschwörende Worte und hoffen auf ein Einlenken. Über ihren Radiosender und die täglich erscheinende Izvestia rufen sie das russische Volk zur Solidarität und appellieren gleichzeitig an die Einsicht jener Partei, der viele von ihnen selbst angehören. Die einzigen Antworten, die sie erhalten, sind ein Ultimatum Trotzkis sowie eindeutige Angebote zweifelhafter "Freunde" aus dem westlichen Exil. Die Arbeiter Petrograds liehen hinter Bajonetten und können nichts unternehmen, im Rest des Landes weiß man nur, was in der Prawda steht.

Kronstadt weist die ausländischen Trittbrettfahrer ab und ruft zum Widerstand gegen die Regierung auf. Diesmal ist der Bruch endgültig: Das Ultimatum wird zurückgewiesen, der Gehorsam verweigert – Kronstadt versteht sich als rebellische Kommune.

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Die Arbeiter und Matrosen nehmen nun kein Blatt mehr vor den Mund, ihre Manifeste lesen sich wie die Statements anarchistischer Parteikritik: Die Partei habe die Macht an sich gerissen, sich von den Massen gelöst, ihre Unfähigkeit hinlänglich bewiesen und das Vertrauen der Arbeiter verloren. Sie sei bürokratisiert und zu einer mächtigen Polizeimaschinerie geworden, die dem Volk ihr Gesetz mit Terrormaßnahmen diktiere. Die Bolschewiki hätten die Räte ihrer Macht beraubt und die Gewerkschaften verstaatlicht. Anstelle des versprochenen Sozialismus herrsche ein kruder Staatskapitalismus, in dem der Arbeiter Lohnempfänger eines Staatskonzerns geworden sei. - Das war deutlich.

Die unmittelbaren Forderungen Kronstadts beziehen sich auf die Wiederherstellung politischer Rechte und freie Wahlen zu allen Organen der Rätedemokratie; hierzu müsse die Parteimacht beschnitten werden: Abschaffung der "Politoffiziere", der "Stoßtrupp­abteilungen" in der Armee und der "kommunistischen Garden" in den Fabriken. Keine Partei sollte Privilegien haben. In der Izvestia erscheinen seitenweise Austrittserklärungen aus der Kommunistischen Partei. Obwohl sich die Rebellen sogar über Lenin und Trotzki lustig machen und keinen Zweifel daran lassen, daß die Macht der Partei gebrochen werden muß, "damit nicht die Arbeiter und Bauern wieder Sklaven werden", zerstören sie doch nicht alle Brücken zwischen sich und dem Regime. Ihr Ziel ist eine "dritte Revolution", die das Werk der Befreiung vollenden würde, und darin sollten, wie ausdrücklich betont wird, die "Kommunisten" durchaus vorkommen, ebenso wie "Anarchisten und Linkssozialisten".

So suchen sie trotz allem eine Verständigung und meinen, den Bolschewiki goldene Brücken zu bauen, indem sie den Boden der sozialen Revolution nicht verlassen. Die aber interessierte die Kommunisten schon lange nicht mehr. Die Matrosen betonen immer wieder, daß sie kein Blutvergießen wollen und achten peinlich darauf, daß den kommunistischen Funktionären auf der Insel kein Haar gekrümmt wird. Zu dem Zeitpunkt hat die Tscheka längst die in Petrograd wohnenden Familienangehörigen der Kronstädter in Geiselhaft genommen.

 

Das Ende

Am Morgen des 7. März begann die Bombardierung der Festung. Schwere Artillerie sollte die Rebellen von mehreren Forts des Festlandes aus sturmreif schießen, aber der erste Angriff über das Eis der gefrorenen Bucht scheiterte. Überhaupt sollte es Trotzki schwer haben, die ›Rebhühner‹ zu erlegen – ganze 11 Tage hielten die Matrosen stand. Militärisch war ihre Lage ohne Hoffnung. Die Befestigungen Kronstadts waren in Richtung See ausgelegt, der Rücken war ungedeckt, die Kriegsschiffe lagen im Eis fest und die Lebensmittel gingen zur Neige. Aber die Appelle der Matrosen zeigten Wirkung. Obwohl zuvor die "unzu­verlässigen Truppen" bereits verlegt worden waren, weigerten sich viele Abteilungen der Roten Armee, gegen ihre "Klassen­brüder" vorzugehen, andere forderten Diskussionen mit den Vorgesetzten. Selbst aus den kommunistischen Elitetruppen der Kursanty liefen die Soldaten zu den Aufständischen über. Um die Disziplin wiederherzustellen, ließ Tuchatschewski in einigen Regimentern jeden dritten Soldaten vortreten und exekutieren.

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Eine besonders geniale Idee lieferte ein junger Kommissar namens Josef Dschugaschwili, der vorschlug, asiatische Verbände einzusetzen, da sie kein Russisch verstünden und somit gegen die Propaganda der Matrosen immun seien. So setzten auf Anraten dieses Mannes, der schon bald unter dem Namen Stalin bekannt werden sollte, schließlich baschkirische und kirgisische Einheiten mit zum Sturm an. Die Sieger richteten in den Straßen der Stadt ein fürchterliches Blutbad an, deren Opfer nie gezählt wurden. Bis zuletzt wurde um einzelne Straßenzüge und Häuser gekämpft. Den Rest erledigte die Tscheka in den folgenden Tagen. Nur wenigen Matrosen gelang die gefährliche Flucht über das Eis bis nach Finnland.

Am 18. März feierte die Kommunistische Partei der Sowjetunion mit großem Pomp den 50. Jahrestag der Kommune von Paris, die im Blut der französischen Arbeiter unterging. Am selben Tag feierte sie auch ihren Sieg über die Kommune von Kronstadt.

 

Anarchisten hatten beim Aufstand von Kronstadt keine entscheidende Rolle gespielt. Es gab zwar etliche erklärte Libertäre auf der Insel, einige waren auch in den Revolutionären Komitees vertreten, und ganz offensichtlich sympathisierten die Matrosen von Kronstadt zunehmend mit dem Anarchismus - aber nur deshalb, weil ihre eigene Kritik sich mit der deckte, die auch die Anarchisten vertraten. Der Aufstand aber war weder geplant noch organisiert noch traten in ihm irgendwelche bekannten Persönlichkeiten auf. Er war im Grunde ein Beweis dafür, wie populär der libertäre Geist von 1905 und 1917 nach vier Jahren Leninismus noch immer war.

Das Regime benutzte den Sieg über die Rebellen zu einer Endabrechnung mit einer Bewegung, die es noch immer fürchtete. Erst wenige Wochen zuvor waren an die hunderttausend Menschen Kropotkins Sarg gefolgt, und auf den schwarzen Fahnen stand zu lesen: "Wo Autorität ist, da gibt es keine Freiheit". In der Ukraine war Machno noch immer nicht geschlagen. Ein Kronstadt konnte sich jeden Tag wiederholen ... In den folgenden Monaten zerschlägt der Staat die letzten anarchistischen Gruppen und verhaftet die wenigen noch verbliebenen Aktivisten. Viele enden wie Fanny Baron und acht ihrer Genossen, die in einem Keller der Moskauer Tscheka erschossen werden.

Kronstadt war das letzte Aufbegehren des Volkes gegen die Diktatur der Kommunistischen Partei und der erste große Auftritt jenes Mannes, der als Lenins Nachfolger diese Diktatur zum Gipfel der Perversion führte: Josef Stalin. Von denjenigen, die Kronstadt niederschlugen und die Machnotschina liquidierten, hat keiner Stalins Terror überlebt. Erst viele Jahrzehnte später sollten in Rußlands Satellitenstaaten erneut die Menschen gegen den Bolschewismus aufbegehren – in Berlin, in Budapest, in Prag. Die Antwort, die die Kommunistische Partei fand, war stets dieselbe wie 1921.

 

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Literatur:

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