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34  Der kurze Sommer der Anarchie: Revolution in Spanien

 

Durch seine Psychologie, sein Temperament und seine Reaktionen war der 
Anarchismus der spanischste Teil von ganz Spanien.  - Jose Peirats -

 

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Eine alte, vornehme und sehr katholische Dame aus Barcelona erzählte mir vor Jahren folgendes aus ihrer Erinnerung: "Ja, ja, die Anarchisten. An die kann ich mich noch gut erinnern. Das waren ja wilde Gestalten. Aber eines muß man ihnen lassen: Die U-Bahn fuhr nie so pünktlich wie zu ihrer Zeit!"

Die Zeit der Anarchisten liegt lange zurück. Aber sie hat Spuren hinterlassen, Erinnerungen und mehr als das. Die Erfahrung der alten Dame ist nicht ohne Symbolik. Anarchisten als Organisatoren? Pünktlichkeit als anarchistische Tugend? Das klingt dem Bürger paradox. In Spanien aber sind solche Assoziationen bis heute keine Seltenheit. Noch immer ist das iberische Land in gewisser Weise ein anarchistisches Reservat, in dem selbst vierzig Jahre Franco-Diktatur den libertären Ideen nicht den Garaus machen konnten. Dabei ist es natürlich nicht abwegig, Anarchie mit Organisation und Ordnung in Verbindung zu bringen — Konstruktivität ist Ziel und Quintessenz jeder libertären Utopie. Das, und nicht etwa Zerstörung, ist das Wesen des Anarchismus. Wie wir gesehen haben, hatten die Anarchisten in ihrer Geschichte wenig Gelegenheiten zu zeigen, daß sie hierzu fähig seien.

In Spanien bot sich diese Gelegenheit im sonnigen Sommer des Jahres 1936. Er führte zu dem bisher umfassendsten und erfolg­reichsten Experiment, in dem eine ganze Gesellschaft anarchisch organisiert war — und funktionierte. Das Experiment war grandios und tragisch zugleich. Es scheiterte nicht an seinen beträchtlichen inneren Widersprüchen, sondern ganz banal durch militärische Niederlage: Im Kampf gegen eine libertäre Gesellschaft waren sich Faschisten und Stalinisten völlig einig.

Die Spanische Revolution hat die radikale Utopie von der großen Freiheit frech auf die Tagesordnung gesetzt. Sie hat funktioniert und ist gescheitert. Hans Magnus Enzensberger hat dieses tragische Experiment auf einen treffenden Begriff reduziert: "Der kurze Sommer der Anarchie".

 

   Eine Revolution mit Vorgeschichte  

 

In jenem Sommer 1936 putschten in Spanien faschistisch orientierte Generäle gegen die legale Regierung der jungen Spanischen Republik. Aber der Schuß ging nach hinten los.

Erst im Februar war eine Volksfront, die Frente Popular, durch Wahlen an die Macht gekommen. Sie hatte eine bürgerliche Koalitionsregierung abgelöst, die durch Korruption, Mißwirtschaft und eine verfehlte Sozialpolitik gründlich abgewirtschaftet hatte. Die stärkste soziale Kraft Spaniens, die Anarchosyndikalisten, waren an der Volksfront schon aus Prinzip nicht beteiligt, hatten ihre Wahl aber indirekt unterstützt.


Ihre mächtige Gewerkschaft, die Confederación Nacional del Trabajo, hielt nichts von Parlamentarismus und bürgerlicher Demokratie. Ihr Ziel war der socialismo libertario, und der sei nicht über die Wahlurnen, sondern nur durch soziale Umwälzung zu erreichen. In diesem Sinne wirkte die CNT seit dreißig Jahren auf der iberischen Halbinsel. Die Ideen des modernen Anarchosyndikalismus mit ihrer ausge­klügelten Balance zwischen kleinen Schritten und großem Ziel war wohl in keinem anderen Land so konsequent und erfolgreich umgesetzt worden wie in Spanien. Dadurch wurde die Confederación nicht nur zur wichtigsten Gewerkschaft, sondern gleichzeitig zu einem wirkungsvollen Verstärker der seit langem vorhandenen libertären Traditionen des Landes. Libertäre Utopien einer anderen Gesellschaft waren Bauern ebenso geläufig wie Intellektuellen, Technikern, Angestellten und vor allem den Arbeitern. Dem kommunistischen Gesellschafts­entwurf der Sowjetunion stand das spanische Proletariat ablehnend gegenüber - man wollte Sozialismus und Freiheit. Die Kommunistische Partei Spaniens zählte 1936 etwa 30.000 Mitglieder, die CNT an die zwei Millionen.

 

   Der spanische Anarchismus  

 

Der moderne spanische Anarchismus war das Produkt einer doppelten Entwicklung, die mit jener folgenreichen Reise begann, die Fanelli 1868 im Auftrage Bakunins nach Barcelona und Madrid führte: Im rückständigen ländlichen Spanien war der agrarische Kollektivismus seit jeher eine eigenständige Größe gewesen — die Antwort der Landarbeiter auf die Allmacht der Latifundistas. In den hochentwickelten Industriezentren des Nordens hingegen war ein modernes Proletariat entstanden: selbstbewußt, kämpferisch und offen für neue Ideen. An beiden Orten fällt die Botschaft auf fruchtbaren Boden, und bald decken die Syndikate der CNT den Agrarbereich ebenso ab wie Industrie und Handwerk. Bei den Bauern in Andalusien, der Levante, Aragon und Zaragoza rennt die CNT beinahe offene Türen ein. Hier ist die Tradition von gemeindeeigenem Boden und kollektiver Wirtschaftsweise noch in Resten vorhanden, hier ist die Auflehnung gegen Landbarone, Kirche und Obrigkeit ein Stück eigene Identität. Die kleinen volkstümlichen Broschüren eines Jose Sanchez Posa, die von Dorf zu Dorf ziehenden anarch­istischen ›Wanderprediger‹, die vermehrten Streiks der Tagelöhner – all das führte nach Jahrzehnten zu einer fast messianischen Heilserwartung. Für viele Bauern lag dieses Heil im comunismo libertario.

Das Ziel der Industriearbeiter trägt zwar denselben Namen, dahinter verbergen sich allerdings etwas andere Vorstellungen. Der Syndikalismus in den großen Städten ist nicht nur weniger romantisch, er wird auch zunehmend praktischer. Die frühen apolo­getischen* Autoren kommen aus der Mode und machen einer neuen Generation von Theoretikern und Aktivisten Platz, die mit beiden Beinen im zwanzigsten Jahrhundert stehen. Während auf dem Lande das Ideal einer selbstgenügsamen dörflichen Kommune à la Kropotkin das Leitbild bleibt, erfährt die syndikalistische Theorie in den Industrieregionen eine Modernisierung, die sich der Wirklichkeit einer Massengesellschaft des zwanzigsten Jahrhunderts stellt.

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Barcelona oder Madrid lassen sich nicht wie eine Landkommune verwalten, und die Wirtschaft eines Landes ist weit komplexer als der Austausch von Weizen und Wein zwischen zwei Dörfern. Eine solche Erneuerung bedeutet eine Abkehr von idyllischen aber unverbindlichen Visionen und eine Hinwendung zum Praktischen und mündet schließlich in handfesten Plänen, Strukturen und Programmen.

Diese Modernisierung führte im libertären Lager zu Spannungen — nicht nur zwischen Stadt und Land, sondern auch in den Industrie­syndikaten selbst. Die Ursachen lagen in dem delikaten Balanceakt zwischen populärer Massenbewegung und revolutionärem Anspruch, die dem Anarchosyndikalismus eigen ist; man könnte auch sagen: zwischen Pragmatik und Utopie. Als mögliche Lösung hierfür bot sich die 1927 gegründete Federacion Anarquista Iberica an, die ihre Aufgabe darin sah, "die Integrität der anarchistischen Lehre zu vertreten und zu verteidigen". 

Die Rolle dieser FAI war von Anfang an Gegenstand heftiger Kontroversen. Von den reformistischen Kräften wurde sie als politische Avantgarde verspottet, vom revolutionären Flügel als notwendige Ergänzung zur reinen Gewerkschaftsarbeit enthusiastisch begrüßt. In Wirklichkeit war sie weder von ihrer Struktur noch von ihrem Selbstverständnis her mit einer Leninschen Avantgardepartei vergleichbar. Sie war zwar eng mit der CNT verbunden, respektierte aber deren Autonomie und befaßte sich mit Aufgaben, die jenseits des gewerkschaftlichen Bereiches und oft auch außerhalb der Legalität lagen. Im Grunde handelte es sich um einen späten Aufguß der Bakuninschen Idee, daß innerhalb einer sozialen Bewegung politisch entschlossene Menschen eine Art Katalysatorfunktion übernehmen müßten, wenn diese nicht im platten Reformismus versanden sollte. Entsprechend Bakunins Forderung genossen die Aktivisten der FAI weder mehr Rechte oder Privilegien, noch bildeten sie eine Elite oder Bürokratie.

Es ist kaum von der Hand zu weisen, daß die Rolle der Anarchistischen Föderation in diesem Sinne förderlich war. Ohne ihre Existenz hätte die CNT kaum die Periode der gewaltsamen Verfolgung durch die pistoleros des Unternehmerverbandes in den zwanziger Jahren überlebt, und 1936 sollte die FAI bei der Organisierung des Widerstandes gegen den faschistischen Putsch eine entscheidende Rolle spielen. Man kann ihr auch schwerlich vorwerfen, daß sie die Ideen einer abgehobenen Minderheit vertrat - im Gegenteil. Die Mehrheit der CNT stand hinter dem anarchistischen Ziel und verstand die FAI als eine Art verlängerten Arm der Gewerkschaft. Der 1931 abgespaltene reformistische Flügel unter Angel Pestana, der eine "Syndikalistische Partei" gründete, blieb ohne Bedeutung. Und kein Anarchist der Geschichte dürfte je so populär gewesen sein wie der Schlosser Buenaventura Durruti, der zu den Gründern und bekanntesten Aktivisten der FAI gehörte. Als er 1936 zu Grabe getragen wurde, säumte eine halbe Million Trauernder die Straßen Barcelonas.

Jenseits aller inneren Konflikte bewies die CNT fast ständig, daß sie sich - auch ohne FAI - als revolutionäre Gewerkschaft verstand, insbesondere in den bewegten dreißiger Jahren. Nachdem die Monarchie abgewirtschaftet hatte und die Diktatur des Mussolini-Bewunderers Primo de Rivera mangels Masse bankrott ging, drängte die Basis der Arbeiterschaft immer ungeduldiger auf einen sozialen Umsturz. 

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Die wirtschaftliche Lage auf dem Lande war trostlos wie immer, und auch die Industriearbeiter spülten die Verelendung, die sie nach den Jahren des Booms befiel, den Spanien als neutrales Land im Ersten Weltkrieg erlebt hatte. Der revolutionäre Generalstreik, die schärfste Waffe im syndikalistischen Arsenal, wurde nun auffallend oft eingesetzt und führte wiederholt an den Rand eines allgemeinen Umsturzes. Die Erhebung von Casas Viejas 1933 und der Aufstand der Minenarbeiter in Asturien 1934 zeigten, wie wichtig es war, für die Revolution gut vorbereitet zu sein.

Was die Theorie anging, so hatte die CNT auf ihrem Kongreß von Zaragoza 1931 die nötige Vorarbeit geleistet und ein praktikables Programm verabschiedet. Namhafte Theoretiker und engagierte Praktiker hatten im Verein mit unzähligen Delegierten der verschiedenen Industriezweige schon im Vorfeld dazu beigetragen, daß sich dieser Kongreß nicht in der bloßen Bestätigung libertärer Ansichten erschöpfte, sondern Vorschläge zu ihrer konkreten Umsetzung erarbeitete. So verabschiedeten die 649 Delegierten einen ziemlich klaren Abriß über wirtschaftliche Kooperation und die Strukturen einer direkten Demokratie. Mit einer bis dahin ungewohnten Genauigkeit wird das Funktionieren der generalisierten Selbstverwaltung definiert, von der dörflichen Gemeinschaft über Stadtteilkomitees bis hin zu landesweiten Entscheidungen. Aufbauend auf dem vorhandenen Netz der Syndikate und deren praktischer Erfahrung, sollte der Wille der Bevölkerung ebenso respektiert werden wie die Autonomie einer jeden Gemeinde. So wird zwar ein Verrechnungs- und Tauschsystem zwischen Produzenten und Konsumenten entwickelt, aber die Teilnahme daran bleibt freiwillig; ebenso wird den Kommunen die Möglichkeit eingeräumt, ganz auf das Prinzip des Tauschs zu verzichten. Vor allem aber werden exakte Pläne aufgestellt, wie die Schlüsselindustrien übernommen und in den Händen der Arbeiter funktionieren könnten.

Die Anarchisten hatten ihre Hausaufgaben gemacht, jetzt brauchten sie nur noch auf einen günstigen Moment zu warten.

 

    Der 19. Juli 1936  

 

Dieser Moment kündigte sich im Sommer 1936 an. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Volksfrontregierung das Vertrauen der unteren Schichten schon weitgehend verspielt. Man machte sich über die parlamentarischen Spielregeln lustig und begann ungefragt mit längst überfälligen sozialen Neuerungen. Die Zeichen der Zeit standen schon vor dem Staatsstreich der Generäle auf Soziale Revolution; er lieferte nur noch den Anlaß, das Machtvakuum auszunutzen und die Initiative an sich zu reißen.

Am 19. Juli bricht im ganzen Land ein generalstabsmäßig geplanter Putsch los, angezettelt von einer ultrarechten Koalition, in der sich konservative Militärs, reaktionäre Klerikale, verunsicherte Grundbesitzer, Königstreue und vor allem Vertreter der Falange wiederfinden, der spanischen Variante des Faschismus. Planung und Ausführung liegt bei hochrangigen Armeekommandeuren, die über große Teile des Heeres und schwere Waffen verfügen. Als ihr Führer setzt sich schon bald der in Spanisch-Marokko stationierte Oberst Francisco Franco Bahamonde durch.

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Angesichts des Militärputsches verharrt die Regierung in Ratlosigkeit und Untätigkeit. Sie zaudert und hält die loyalen Truppen in den Kasernen. Innerhalb weniger Stunden aber stellt sich die organisierte Arbeiterschaft den Putschisten entgegen und ruft landesweit den Generalstreik aus. Als einzige ihrer Organisationen verfügt die CNT über Waffen, Erfahrungen und einen Aktionsplan; Arbeiter aller politischen Richtungen orientieren sich an ihrem Beispiel. Wichtige Gebäude werden besetzt, Barrikaden errichtet, der Sturm auf die; Kasernen beginnt. Die Kämpfe scheinen aussichtslos. Mit Flinten, Revolvern und alten Karabinern gehen anarchistische Stoßtrupps gegen die Festungen der Putschisten vor. Ihre selbstgebastelten Handgranaten sind von so schlechter Qualität, daß sie von den Leuten imparciales genannt werden - die "Unparteiischen", weil sie angeblich genausooft diesseits wie jenseits der Barrikade explodieren. Dennoch: Die Generäle wanken, ziehen sich zurück, igeln sich ein. Die Arbeiter setzen zum Sturm an, erbeuten erste schwere Waffen, Soldaten laufen über. In diesen Stunden des Aufstandes stirbt die Blüte der jungen libertären Aktivisten im Feuer der Maschinengewehre. Besonders hoch ist der Blutzoll bei der FAI.

Am folgenden Tag ist der Staatsstreich in den wichtigsten Regionen gestoppt und bricht auch in den meisten großen Städten innerhalb von zwei, drei Tagen zusammen. Staat und Regierung aber haben ihr Prestige verspielt und sind nur noch eine Karikatur ihrer selbst. In Katalonien liegt die Macht de facto in den Händen des Volkes, und die Menschen wußten, was sie damit anzufangen hatten. Niemand hört mehr auf die Generalität de Catalunya*, die politische Initiative liegt in den Händen des "Komitees der antifaschistischen Milizen".

 

Dies ist der Beginn einer parallelen Entwicklung: einerseits des Spanischen Bürgerkrieges, der drei Jahre dauern sollte und dank der Hilfe Hitlers und Mussolinis letztlich doch mit dem Sieg des Putschgenerals Franco über die Spanische Republik endete. Er war der verzweifelte Versuch, den aufkommenden Faschismus noch vor Beginn des Zweiten Weltkrieges zu schlagen.

Andererseits ist der 19. Juli 1936 die Geburtsstunde des bisher größten und erfolgreichsten Experiments allgemeiner Selbst­verwaltung. Denn während der Krieg tobte, wurde im Hinterland eine soziale Revolution verwirklicht, die sich anschickte, libertäre Utopien für Millionen von Menschen in eine alltägliche Realität umzusetzen. Obgleich sie erstaunliche Erfolge und wertvolle Erfahrungen lieferte, blieb dieses konstruktive Werk des "panischen Anarchismus bis heute weitgehend unbekannt. Es stand im Schatten des Krieges, der das Interesse der Weltöffentlichkeit mehr zu fesseln vermochte als Selbstverwaltung in Industrie oder Landwirtschaft.

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  Die Revolution  

Nun zahlte sich die systematische Vorbereitung, die die CNT jahrzehntelang betrieben hatte, aus. Überall dort, wo die Anarcho­syndikalisten den Ton angaben — in Aragon, der Levante, Teilen Kastiliens, Andalusiens, Asturiens und der Estremadura, vor allem aber im hochindustrialisierten Katalonien — entstand binnen kürzester Frist eine funktionierende Selbstverwaltungswirtschaft, die die Grundlage für freiheitliche Strukturen auch in Verwaltung, Kultur und sozialem Zusammenleben bildete. Von der Kriegsführung bis zur Milchwirtschaft funktionierte plötzlich ein halbes Land nach an-archischen Organisationsmodellen. Zum Erstaunen zahlloser Ökonomen und Theoretiker brach nicht das Chaos aus - im Gegenteil: Die Selbstverwaltung erwies sich als funktionstüchtig und leistungsfähig. Mit Phantasie und Improvisationstalent wurden die massenhaft auftretenden Probleme angepackt, Mängel ausgeglichen, Rückschläge überwunden. Trotz der ungünstigen Konstellation, ›nebenbei‹ auch noch einen Krieg führen zu müssen, konnten durchweg die sozialen Bedingungen der Arbeit verbessert und gleichzeitig die Produktion erhöht werden.

Es fehlt hier der Platz, eine genaue Analyse dieses großen Experiments zu leisten. Wir können lediglich einige wichtige Charakteristika hervorheben. Im Gegensatz zum Modell der kommunistischen Staaten war die Spanische Revolution nicht zentralistisch, weder befohlen noch erzwungen, sondern basisdemokratisch. In Betriebs- oder Ortsversammlungen, den mitínes und asambleas, bestimmten die Betroffenen selbst die Richtlinien ihres Lebens. Gewählte Delegierte waren verpflichtet, diesen Volkswillen umzusetzen und wurden von der Basis kontrolliert; Mandatsträger unterlagen in der Regel einer Rotation. Regelmäßig fanden Kongresse der Bauern- oder Industriesyndikate statt, auf denen die allgemeine Richtung festgelegt wurde. Sie schufen auch brauchbare Strukturen zur praktischen Durchführung der Vorhaben und sorgten für die nötige Koordinierung. Pro Industriezweig wurde ein "Generalrat" eingesetzt; die Feinabstimmung erfolgte auf der Ebene von Orts-, Kantonais- und Regionalräten. Auf der untersten Ebene gab es den consejo des Dorfes oder des Stadtteils. Auf diese Weise wurde die Herausbildung einer Bürokratie vermieden und eine hohe Motivation und Effektivität erreicht. 

Selbst große Industriebetriebe wurden von einem Komitee geleitet, dem kaum mehr als 10-15 Personen angehörten. Die Struktur dieser ›horizontalen Gesellschaft funktionierte somit nach dem Prinzip einer Vernetzung, die sich auf die bestehenden Einrichtungen der Gewerkschaften stützen konnte. Sie geschah parallel nach wirtschaftlichen und geografischen Kriterien, wobei Verwaltung und Koordination lediglich dort eingerichtet wurden, wo sie nötig waren - z.B. im Verkehrswesen, im Export, bei Rohstoffen oder dem Solidarausgleich zwischen reichen und armen Kollektiven. In aller Regel war die Teilnahme an diesen Experimenten freiwillig. Wer zum Beispiel auf dem Lande dem Kollektiv nicht beitreten wollte, konnte auch als "individualista" weiterwirtschaften, durfte aber nicht mehr Land besitzen, als er bestellen konnte. Ausbeutung sollte vermieden werden. Allerdings kam er auch nicht in den Genuß der weitreichenden Errungenschaften der Revolution. So waren Lebensmittel, Miete, Elektrizität, medizinische Versorgung, Rentenanspruch und Schulbildung kostenlos.

Vor allem aber war diese Revolution vielfältig. Verschiedenste Modelle existierten einträchtig nebeneinander: In einigen Gegenden wurde das Geld abgeschafft, und jeder konnte nach seinen Bedürfnissen von dem, was es gab, nehmen; in anderen Gegenden wurde es beibehalten, teilweise wurden auch Tausch- und Arbeitsbons eingeführt. In der Industrie existierten ebenfalls verschiedene Typen der Selbstverwaltung: Kollektivierung, Sozialisierung und Arbeiterkontrolle, in den unterschiedlichsten Spielarten.

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Nur wenige Tage nach der Niederschlagung des Putsches begann die Sozialisierung der Industrie. In Katalonien erfaßte sie siebzig Prozent aller Unternehmen. Wo die Firmenleitung sich kooperationsbereit zeigte, wurden "Komitees der Arbeiter­kontrolle" eingesetzt, ansonsten übernahm die Belegschaft den Betrieb. In manchen Industriezweigen war die Sozialisierung flächendeckend, so daß sie von der Gewerkschaft völlig umstrukturiert und geordnet werden konnte.

Noch während die Barrikadenkämpfe tobten, kollektivierten am 21. Juli 1936 die katalanischen Eisenbahner die Bahnen, am 25. Juli folgten die städtischen Verkehrsbetriebe. Schließlich wurde das gesamte Kommunikationswesen — Schiene, Straßentransport, öffentlicher Verkehr, Taxis, Telefon, Radio sowie Teile des Schiffs- und Luftverkehrs — in Selbstverwaltung betrieben. Die größten Anstrengungen galten hierbei der Verteilung von Lebensmitteln und Konsumgütern sowie dem Transport von Industrie- und Kriegsmaterial. Auch von den zahlreichen kleinen Dienstleistungsbetrieben und Kleingewerbetreibenden führten die meisten spontan und mit fast kindlichem Elan auf eigene Faust die Kollektivierung ein. Vom Cafe bis zum Friseursalon betrieben die ehemaligen Angestellten ihren Betrieb nun in eigener Regie, wie beseelt vom Gefühl sozialer Verantwortung. Aus feinen Restaurants wurden öffentliche Volksküchen, kostenlose Kindergärten entstanden, Kellner und Taxifahrer wiesen Trinkgelder als Beleidigung ihrer Würde zurück. Das mondäne Hotel Ritz bot ein ungewohntes Bild. Milizionärinnen, Arbeiter in blauen Overalls, diskutierende Gewerkschafter nahmen hier inmitten einer Schar tollender Kinder ihr Abendessen ein.

Handwerksbetriebe, Manufakturen und Unternehmen unter hundert Beschäftigten wurden - sofern sie nicht während der Revolution bereits beschlagnahmt worden waren - auf Antrag von drei Vierteln der Belegschaft sozialisiert. Dies geschah meist in Form von Genossenschaften oder angegliedert an die Industriesyndikate. Nach dem Selbstverwaltungskongreß von Valencia im Dezember 1936 schufen die Gewerkschaften eine zentrale Ausgleichskasse zum Abbau von sozialem Gefälle und unnötiger Konkurrenz sowie für die immer dringender werdende Kriegsproduktion.

An die Einrichtung einer Kriegsindustrie war zuvor nicht gedacht worden. Als die Niederwerfung des Putsches ins Stocken kam, bildeten sich Fronten und ein langwieriger Krieg begann. Wichtige Rüstungsbetriebe lagen auf dem Gebiet der "Nationalen", die zudem ausländische Waffenhilfe erhielten. Die "Republikaner" hingegen waren auf sich gestellt und mußten improvisieren. Viele Metallbetriebe widmeten sich notgedrungen der Kriegsindustrie, und die Milizen an der Front meldeten ständig steigenden Bedarf: von der Gewehrpatrone bis zu gepanzerten Fahrzeugen. Die sozialisierte Industrie mußte so in einem Rüstungswettlauf mithalten, den sie kaum gewinnen konnte.

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Auf dem Lande wurde die ersehnte revolución libertaria meist positiv aufgenommen, bisweilen mit überschwänglicher Begeisterung und hohen Erwartungen. Die meisten Hacienderos waren, ebenso wie viele Fabrikanten, rechtzeitig geflohen. In den befreiten Teilen des Landes schlössen sich neunzig Prozent der Tagelöhner und Kleinbauern auf ehemaligen Latifundien in mehr als tausend freiwilligen Kollektiven zusammen. Die Agrarproduktion steigerte sich je nach Region um dreißig bis fünfzig Prozent. Vielerorts trat man mit der kollektivierten Industrie in ein direktes Tauschverhältnis und konnte auf Zahlungsmittel, Tauschbons oder Arbeitskarten ganz verzichten. In Dörfern, wo jeder jeden kannte, war ein Mißbrauch dieser neuen Freiheit nicht zu befürchten. So manche Bäuerin bekam zum ersten Mal in ihrem Leben ein paar richtige Schuhe.

Zu den großen Leistungen der libertären Selbstverwaltung in Spanien gehörte die ausreichende Versorgung der Bevölkerung unter Kriegsbedingungen. Wie die gesamte Selbstverwaltungsökonomie, so hatte auch die Versorgungswirtschaft mit Engpässen und Problemen zu kämpfen. Einige davon waren auf typische Umstellungsprobleme zurückzuführen, die meisten allerdings waren kriegsbedingt. Sie trafen alle Regionen Spaniens auf beiden Seiten der Front und können daher nicht der Selbst­verwaltungs­wirtschaft angelastet werden. Trotz Rohstoffknappheit und fehlender traditioneller Absatzmärkte zeitigte sie unterm Strich gute Ergebnisse. Die berüchtigten Hungerjahre trafen Spanien erst nach Francos Sieg 1939 und dauerten bis 1944 an.

In vielen Dörfern bildeten sich während der Revolution sogenannte "Libertäre Gemeinden", in denen Handwerk, Dienstleistung, Landwirtschaft und lokale Industrie zusammengefaßt waren. Komitees der Landarbeiter und des Transportsyndikats arbeiteten bei der Produktion und Verteilung der Nahrungsmittel Hand in Hand. In sogenannten "Kollektivläden" wurden die Güter des täglichen Bedarfs in der Regel kostenlos abgegeben - ein erster Schritt in Richtung solidarischer Bedarfswirtschaft. Auf dem Lande wurden die Läden und Lager häufig in der Kirche untergebracht, dem einzigen soliden Gebäude in vielen Dörfern.

Trotz Krieg und radikaler Umwälzung der Wirtschaft erlebte das republikanische Spanien einen unerhörten Aufschwung der Kultur. Literatur, Presse, Ausstellungen, Film und Theater drangen bis in die entlegensten Dörfer vor. Mit fortschreitender Alphabetisierung auch der Erwachsenen wurden zahllose "Volksbibliotheken" eingerichtet und Kurse angeboten, die regen Zulauf erzielten. Sogar die meisten Schauspieler waren gewerkschaftlich organisiert; viele Theater und fast die gesamte Filmindustrie funktionierten in freier Selbstverwaltung. In Barcelona schuf der "Rat der Escuela Nueva Unificada" in den ersten fünf Monaten der Revolution über einhundert neue Schulen, in denen 20.000 Kinder mehr unterrichtet wurden als zuvor. Auch die Land­bevölkerung kam nun zum ersten Mal in den Genuß eines flächendeckenden Unterrichtssystems. Der strengkatholische ›Schulmeister‹ und die bigotten Nonnen verschwanden aus dem Schulwesen. Francisco Feuers libertäres Erziehungsmodell erlebte hier praktisch seinen ersten großen Feldversuch. In den Erinnerungen der Kinder jener Generation bekommen die escuelas libres übrigens durchweg hervorragende Noten ausgestellt.

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Typisch für die Spanische Revolution war, daß sich - im Gegensatz etwa zu Rußland - die Angehörigen der sogenannten ›gehobenen Berufe‹ wie Techniker, Ingenieure und Arzte in großer Zahl der Bewegung anschlössen und sie unterstützten, obwohl sie durchaus wirtschaftliche Einbußen hinnehmen mußten. So konnte innerhalb kürzester Zeit das gesamte Gesundheitswesen neu gestaltet werden. Medizinische Betreuung war nicht länger ein Privileg der Reichen.

 

Das Straßenbild der Millionenstadt Barcelona war völlig verwandelt, die Metropole schien wie in einem Taumel zu leben. Das katalanische Sinfonieorchester gab auf Freiluftkonzerten die etwas pathetischen Anarchohymnen zum Besten, und Zigtausende hörten zu. Frauen konnten sich plötzlich in der Öffentlichkeit frei bewegen und lebten ihre neue Freiheit, selbstbewußt aus. Sie organisierten sich, etwa in den Mujeres Libres, und begannen im öffentlichen Leben eine zunehmend prägende Rolle zu spielen. Sogar in den Milizen waren sie vertreten.

Die modebewußten Katalanen kürten den blauen Overall, die Kleidung der Milizionäre und Malocher, zum Hit der Saison, den sie mit derselben Eleganz zu tragen verstanden wie Zweireiher und Kostüm. Natürlich war auch Anpassung im Spiel, bisweilen Tarnung und ein Gutteil Mitläufertum. Es ist albern zu glauben, Millionen Menschen wären über Nacht zu Anarchisten geworden. Aber mehr als je zuvor begannen, sich für den anarquismo zu interessieren und ihn zu begreifen. Bei den meisten war es ein heiteres Mitlaufen, nicht diese dumpfe Angst wie in Stalins Rußland. Anarchie war zum ›Zeitgeist‹ geworden.

Die Spanische Revolution war keine Zwangsbeglückung, keine Diktatur, sondern ein buntes, widersprüchliches, lebendiges Experimentierfeld. Wie jedes System hatte es Schwächen, Reibungsverluste, Konflikte und Unzulänglichkeiten. Es entwickelte aber erstaunliche Kraft, sich zu perfektionieren und Fehler auszugleichen. Es gibt keinen Grund daran zu zweifeln, daß die generalisierte Selbstverwaltung in Spanien sich zu einem funktionierenden wirtschaftlich-sozialen System eingespielt hätte, einer ›gelebten Anarchie‹, wenn man ihr die Möglichkeit einer ungestörten Entwicklung gegeben hätte. Diese Chance war ihr nicht vergönnt.

 

Krieg, Gewalt, Leidenschaft  

Man hat den Spanischen Bürgerkrieg als den Friedhof der Ideale bezeichnet. Das locker-libertäre Leben auf Barcelonas Ramblas, die ausgelassene fiesta, die der Niederschlagung des Putsches folgte, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß aus dem Volksfest ein Schlachtfest wurde. Die Generäle waren eben nicht überall besiegt. Sie rüsteten zur "Rückeroberung des Vater­landes", und sie machten einen Kreuzzug daraus — Franco hat das wörtlich so genannt.

Es wurde ein Kreuzzug gegen das eigene Volk, und er wurde den Nationalisten sehr sauer. Was sie als einen triumphalen Spaziergang nach Madrid geplant hatten, zog sich drei Jahre lang als moderner Vernichtungskrieg hin. Hermann Göring hatte reichlich Gelegenheit, seine neue Luftwaffe für den kommenden Weltkrieg zu testen.

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Die Junkers 52 und Heinkel 111 von Hitlers "Legion Condor" bombardierten die Metropolen und legten das baskische Provinzstädtchen Guernica in Schutt und Asche: das erste Flächen­bombardement der Geschichte, und die westlichen Großmächte schauten diskret weg.

Zunächst waren die Milizen an die Orte geeilt, wo die Faschisten gesiegt hatten. Einige konnten sie entsetzen, an anderen bissen sie sich fest. Die republikanische Armee wurde reorganisiert, loyale Polizeitruppen kamen hinzu und immer mehr Freiwillige meldeten sich zu den Waffen. Die aber waren knapp und wurden zunehmend zum Erpressungsinstrument im Kampf um politischen Einfluß. Auf der anderen Seite kämpften neben wehrpflichtigen Spaniern die für ihre Grausamkeit bekannten Moros, Francos marokkanische Söldnertruppen, unter spanischen Offizieren fürs christliche Abendland. Weit entscheidender aber sollte die Hilfe werden, die Hitler und Mussolini schickten: zwei hochmoderne Invasionsarmeen mit Marine, Luftwaffe, Infanterie und Panzern. Die rechtmäßige republikanische Regierung des Landes hingegen konnte im westlichen Ausland nicht einmal Waffen kaufen. England, Frankreich und Amerika wollten ›neutral‹ bleiben und vertraten eine Politik der ›Nichteinmischung‹. Offizielle Linie war, Hitler nicht zu reizen, um ihn friedlich zu halten. So glaubte man, den Zweiten Weltkrieg zu verhindern, der mit der Einverleibung Österreichs, dem Einmarsch in die Tschechoslowakei und der Intervention in Spanien doch schon längst begonnen hatte. Waffenhilfe erhielt die Republik nur aus Mexiko, die naturgemäß eher symbolischen Wert hatte, und - sehr spät - aus Rußland. Stalin ließ sich seine "proletarische Solidarität" übrigens mit den Goldreserven der Spanischen Nationalbank bar bezahlen.

Das wechselnde Kriegsglück kann hier nicht nachgezeichnet werden. Militärgeschichte ist nicht unser Thema. Verschiedene Regierungen versuchten verschiedene Strategien, Internationale Brigaden von Freiwilligen kamen ins Land, diverse Militär­reformen führten zu zweifelhaften Ergebnissen, aber nichts von alledem führte zum militärischen Durchbruch. Die Antifaschistischen Milizen waren per Dekret militärischem Kommando unterstellt worden, mußten nun Dienstgrade, Hierarchie und Kommißton akzeptieren und wurden Teil der regulären Armee. Das nahm den Arbeitern viel von ihrer Motivation und Kampf­begeisterung und diente in keiner Weise der militärischen Effizienz. Das republikanische Territorium schmolz trotz einiger erfolgreicher Offensiven stetig dahin. Daran konnte auch die dramatische Rettung der im November 1936 von seiner Regierung bereits verlassenen Hauptstadt nichts mehr ändern - Milizen und Internationale Brigaden brachten hier ein im Endeffekt vergebliches Blutopfer.

Im März 1939 hielt Franco, inzwischen zum "Generalissimus" avanciert, einen pompösen Einzug in Madrid. Kurz zuvor war Barcelona gefallen. Hunderttausende flüchteten über die verschneiten Pässe der Pyrenäen oder versuchten, sich über das Meer zu retten. Francos Rache wurde fürchterlich. Todesurteile in fünfstelliger Höhe, ungezählte Konzentrationslager und auf Jahrzehnte überfüllte Zuchthäuser sollten der spanischen Arbeiterbewegung für alle Zeiten ein Ende machen.

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Gestorben aber wurde nicht nur an der Front und unter den Bomben der Flugzeuge. Der Bürgerkrieg entfesselte mit fanatischer Leidenschaft die tiefsitzenden sozialen Konflikte des Landes; ideologische Differenzen wurden mit einer Inbrunst ausgetragen, die in ihren provozierenden Details an Religionskriege erinnert. Anarchomilizionäre veranstalteten ihre Schießübungen auf die monumentalen Christusstandbilder, und aus den Krypten der Klöster holte man die mumifizierten Gebeine heiliger Männer und Frauen, um sie aus Gründen der Volksaufklärung öffentlich zur Schau zu stellen. Es blieb aber nicht bei Bilderstürmerei und provokanter Symbolik - die sozialen Spannungen schlugen in Haß um. In Spanien schoß buchstäblich der Bruder auf den Bruder. Das galt hinter der Front zwischen Stalinisten und Anarchisten ebenso wie für den Kampf zwischen "Faschisten" und "Roten", wie beide Seiten sich gegenseitig nannten.

In Zaragoza, wo die Putschgeneräle nach tagelangen Kämpfen schließlich die Oberhand gewannen, mußten die Miliztruppen auf den gegenüberliegenden Bergen schon im Sommer 1936 hilflos mit ansehen, wie mehrere tausend Arbeiter füsiliert wurden. Wo immer die Nationalen in der Folgezeit einmarschierten, wurde blutig "gesäubert". Prominente "rojos" wurden ebenso erschossen wie Mitläufer, aktive Gewerkschafter und gefangene Milizionäre, sogar reguläre republikanische Soldaten und Offiziere stellte man oftmals nach dem Verhör an die Wand.

Auch wenn die Geschichtsschreibung Eskalation, Exzesse und Übergewicht der Greuel eindeutig auf Seiten der Nationalen festgestellt hat, so ist doch die Unschuld der Republik ein propagandistisches Märchen. Das gilt auch für die Anarchisten. Es ist eine Tatsache, daß e" auch auf Seiten der Revolution Ausschreitungen gab. So mancher tatsächliche oder angebliche "Faschist" wurde von selbsternannten Rächern erschossen, und an etlichen Orten wurde ohne viel Aufhebens der Pfarrer gelyncht. Die Kirche stand in der Tat eindeutig auf Seiten des "Klerikalfaschisten" Franco, und in manchen Gotteshäusern fanden sich geheime Waffenlager der Falange. Daran aber gibt es nichts zu beschönigen: Das Töten gefangener Gegner widersprach eindeutig dem libertären Ideal, das spanische Anarchisten seit Generationen gepredigt hatten.

So widerwärtig ein Aufrechnen und Abwägen von Morden auch ist, darf doch ein wesentlicher Unterschied nicht verkannt werden: Auf der faschistischen Seite war Terror durch Töten ein System und gehörte zur Strategie. Er wurde angeordnet und gezielt betrieben. Nicht ohne Grund lautete der irrsinnige Wahlspruch der Falangisten viva la muerte!*. Auf Seiten der Revolution hingegen kam es zu Übergriffen, und als solche wurden sie auch betrachtet. Die Milizen, die Gewerkschaften, die Komitees taten alles, um solche Exzesse zu unterbinden. Sie sparten dabei nicht mit Drohungen, Anordnungen, selbstkritischen Reflexionen und Appellen an die "revolutionäre Ehre". Der Dorfpfarrer Moisés Arnal bestätigt dies als glaubhafter Zeuge. In seinen Memoiren berichtet er, wie Durruti ihn davor bewahrte, von aufgebrachten Bauern erschossen zu werden. Während einer folgenden Tätigkeit als Sekretär im Stab der Milizen hatte er reichlich Gelegenheit zu beobachten, daß der berüchtigte "Anarchistenhäuptling" alles andere als ein blutrünstiger Rächer war.

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Disciplina! war damals eine der meistgebrauchten Losungen bei den Anarchisten. Der deutsche Zeitzeuge Augustin Souchy, ein vor den Konzentrations­lagern rechtzeitig geflohener Anarchosyndikalist, erzählt von seinem Besuch in einem von den Anarchisten betriebenen Internierungslager für gefangene Faschisten. Zu seinem Erstaunen bekamen Bewacher und Bewachte gleiche Kleidung, gleiche Kost und gleiche Unterbringung. Nach der Arbeit hatten die Gefangenen Anrecht auf den Besuch ihrer Frauen und Freundinnen, die über Nacht bei den Männern bleiben durften. Die offizielle Linie der spanischen Libertären jedenfalls folgte — trotz aller spontanen Übergriffe in den Tagen unmittelbar nach dem Putsch — der Überzeugung Bakunins und Kropotkins, daß weder der Kriminelle noch der politische Gegner ein zu bestrafender Feind sei.

 

 Politik  

Die Spanische Revolution scheiterte mit dem Sieg des Faschismus über die Spanische Republik. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte ist ebenso tragisch wie lehrreich.

Anarchisten haben ein gebrochenes Verhältnis zur Macht; sie sind bis zur Naivität unfähig zur politischen Intrige. Das macht sie zwar sehr sympathisch, aber auch zur leichten Beute der Politik. In ihren spanischen Hochburgen gingen sie davon aus, daß sie mit der Eroberung der wirtschaftlichen Macht und des kulturellen Alltags auf den Staat pfeifen könnten. Sie versäumten es — bedingt auch durch die Tatsache, daß sie in manchen Gegenden in der Minderheit waren —, konsequent die staatlichen Strukturen abzuschaffen. Im Glauben an die Loyalität der Volksfront im Kampf gegen den gemeinsamen faschistischen Feind suchten sie das breite Bündnis, unterschätzten die Kraft der verbliebenen Regierungen und ließen deren Apparat weitgehend unangetastet. Das war, im nachhinein betrachtet, ein Fehler, dessen Konsequenzen sie auf Dauer nicht gewachsen waren. Sie begaben sich damit nämlich schrittweise in ein Intrigenspiel, in dem sie am Ende kaltgestellt wurden.

Besonders verhängnisvoll erwies sich hierbei die Erpressungspolitik Rußlands, das durch die Waffen­lieferungen über ein starkes Druckmittel verfügte. Die russischen Interessen spielten eine ständig wachsende Rolle, der sich am Ende auch die republik­anische Regierung unterordnete. Stalins Botschafter trat hinter den Kulissen wie ein Regierungschef auf, und im Hinterland begann die russische Geheimpolizei zu agieren wie bei sich daheim. Die Erpressungspolitik zwang die Libertären am Ende sogar, in die Regierung einzutreten. Die republikanische Administration erhoffte sich dadurch eine bessere Kontrolle der Anarchisten, während die CNT sich davon die Zuteilung von Waffen für die libertären Milizen versprach. Das Bild "anarch­istischer Minister" führte zu heftigem Protest an der Gewerkschaftsbasis, die darin nicht nur ein peinliches Paradox, sondern einen Verrat an der Revolution erblickte. Trotz dieses Zugeständnisses gingen die Waffen schließlich an linientreue kommunistische Regimenter.

So begann im republikanischen Lager ein Bruderkampf, ein Bürgerkrieg im Bürgerkrieg, der die anarchistische Position zunehmend isolierte und der Kommunistischen Partei großen Zulauf aus der Mittelschicht und dem Kleinbürgertum einbrachte.

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Die Parole der KP und damit der Regierung war bewußt auf diese Zielgruppe zugeschnitten. Sie lautete: Keine Revolution! Erst den Krieg gewinnen, dann die parlamentarische Demokratie festigen! Während Zehntausende libertäre Milizionäre unzureichend bewaffnet an der Front kämpften und starben, begann im Hinterland bereits die stalinistische "Säuberung gegen Trotzkisten und Anarchisten". Es kam wiederholt zu Erhebungen, Barrikaden und Straßenkämpfen in Barcelona und Madrid — Arbeiter schossen auf Arbeiter. Dieser Strategie fielen auch – noch während des Bürgerkrieges – die meisten Errungenschaften der Selbstverwaltung "um Opfer. Stalin hatte natürlich zuallerletzt Interesse an einer libertären Revolution.

Zunächst hatte die Regierung angesichts der Tatsachen die Kollektivierung anerkannt und per Dekret juristisch abgesichert. Selbstverwaltung war mithin staatlich sanktioniert. Mit der Verschiebung der Kräfte wurden die selbstverwalteten Betriebe und Kollektive aber schon bald systematisch schikaniert, an den Rand gedrängt und teilweise sogar ›verboten‹. Überall dort, wo das wirtschaftliche Netz dünn war, gelang das recht einfach durch den Entzug von Krediten. Die Revolutionäre des 19. Juli hatten weder eine eigene Genossenschaftsbank einleuchtet noch die Staatsbank entmachtet. In gutem Glauben waren ihre bewaffneten Kräfte an die Front gezogen und nun nicht mehr in der Lage, ihre Errungenschaften zu verteidigen.

In einem schleichenden Prozeß hatte das Volk die Macht, die es erobert hatte, wieder an du zähe und anpassungsfähige Prinzip der Staatlichkeit verloren.

 

   Nekrolog  

Das, was in jenen paar Jahren in Spanien geschah, ist keine Nostalgie für den Misthaufen der Geschichte. Die vielschichtigen Erfahrungen der Spanischen Revolution eignen sich nicht fürs Museale, denn ihre Lehren sind zeitlos. Seither hat es kein soziales Experiment von solcher Radikalität und Brisanz mehr gegeben; alles, was uns in den letzten Jahrzehnten politisch in Atem hielt, ist im Hinblick auf eine Befreiung der Menschheit von weit geringerer Relevanz und schon längst verblaßte Tagespolitik. 

Mit Sicherheit wäre die Menschheit einen anderen Weg gegangen, wenn eine ganze Gesellschaft den lebendigen Beweis geliefert hätte, daß ein Gemeinwesen ohne Staat auch auf Dauer lebensfähig ist. Aber diesen Beweis hat es nicht geben dürfen. 

Auch die Politik des zwanzigsten Jahrhunderts wäre ohne Frage eine andere gewesen, wenn der internationale Faschismus in Spanien schon 1936 besiegt worden wäre. Aber diesen Sieg haben die westlichen Demokratien nicht zugelassen. Der kurze Sommer der Anarchie wurde so zu einer Randnotiz der Geschichte.

 

 

Literatur:  Gerald Brenan: Die Geschichte Spaniens Berlin 1978, Karin Kramer, 396 S., ill. / Pierre Broué, Èmile Témime: Revolution und Krieg in Spanien (2 Bde.) Frankfurt/M. 1972, Suhrkamp, 721 S. / Gaston Leval: Das libertäre Spanien Hamburg 1976, Association, 352 S. / Augustin Souchy: Nacht über Spanien 1936-1939 Berlin 1974, Karin Kramer 236 S. / Walther L. Bernecker: Kollektivismus und Freiheit. Quellen zur Geschichte der soz. Rev. i. Spanien 1936-1939 München 1980, dtv, 502 S. / Camillo Berneri: Klassenkrieg in Spanien Hamburg 1974, MaD, 58 S. / Abel Paz: Durruti - Leben und Tode des spanischen Anarchisten Hamburg 1984, Nautilus, 816 S., ill. / Hans Magnus Enzensberger: Der kurze Sommer der Anarchie Frankfurt/M. 1972, Suhrkamp, 300 S. / George Orwell: Mein Katalonien Zürich 1975, Diogenes, 287 S. / Carlos Semprún-Maura: Revolution und Konterrevolution in Katalonien Hamburg 1983, Nautilus, 284 S., ill. / Thomas Kleinspehn, Gottfried Mergner (Hrsg.): Mythen des Spanischen Bürgerkrieges Grafenau 1989, Trotzdem, 169 S.

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