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37. Mai '68

Rolf Uesseler 68er

 

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Unter dem Pflaster liegt der Strand!
(Straßenparole, anonym)

Im Spätsommer 1968 roch es im Quatier Latin stark nach Teer. Die Stadtverwaltung ließ in vielen Straßen des alten Studentenviertels das Kopfsteinpflaster mit Asphalt überziehen. Diese Maßnahme diente nicht der Verkehrsberuhigung, sondern der Vermeidung künftigen Aufruhrs.

Erst wenige Wochen zuvor, am 10. Mai, waren die Pflastersteine zu Barrikaden emporgewachsen oder in die Reihen der vorrückenden Bereitschafts­polizei geschleudert worden. Drei Tage später, am 13. Mai, ziehen eine Million Menschen – Studenten, Arbeiter, Schüler – demonstrierend durch Paris. Der Generalstreik wird ausgerufen. Ab dem folgenden Tag beginnt eine Serie von Fabrikbesetzungen. Die Arbeiter handeln jetzt auf eigene Faust, sie fordern die autogestion: Selbstverwaltung ...

Ganz Frankreich befindet sich im Aufruhr, und die Hauptstadt durchlebt einen Taumel revolutionärer Begeisterung. Während die Studenten auf den Straßen Schlachten schlagen und Feste feiern, steht die Regierung am Rande des Abgrunds. Ratlos muß sie feststellen, daß die Studenten keine Universitätsreform und die Arbeiter keine Lohnerhöhung fordern, sondern la revolution. Was soll man dazu sagen? Seit 1871 ruhten die Pflastersteine fest im Boden. Nun hat die junge Generation sie erneut herausgerissen und festgestellt, daß unter dem Pflaster der Strand liegt. Ein symbolischer Satz, der zum geflügelten Wort jener Tage wurde und um die ganze Welt ging.

 

    Die Revolte der Studenten  

 

Berkeley, Berlin, Paris, Tokio, Madrid, Warschau, Rom, Prag, Buenos Aires, London, Chicago und kein Ende... Die Medien können gar nicht so schnell nachkommen, wie die Revolte der Studenten um sich greift. Sie erfaßt die gesamte westliche Welt und schwappt über deren Rand hinaus. Sie verläßt den Campus der Universitäten und ergreift Lehrlinge und Schüler, Arbeiter und Intellektuelle. Frauen treten selbstbewußt aus ihrem sozialen Schattendasein heraus, und sogar Kinder benehmen sich frech und frei. Wie konnte das in einer selbstzufriedenen Wohlstandswelt passieren?

Es war nicht allzuweit her mit Wohlstand und Zufriedenheit. Unter der ruhigen Oberfläche brodelte es seit geraumer Zeit. Besonders die Jugend fühlte sich nicht wohl im belanglosen Zeitgeist der Wirtschafts­wunder­jahre und hatte seit langem ihre eigenen Protestformen entwickelt: Rockmusik, Motorradgangs, Haartracht, Kleidung und provozierendes Benehmen prägte die unangepaßte proletarische Jugend der Industriestädte. Aus den USA kam die sanftere Variante der "Hippies" hinzu: Mit Blumen, Liebe, weichen Drogen und wallendem Haar gaben sie ihrer Suche nach kommunitärer Geborgenheit und menschlicher Wärme Ausdruck. 

An den Universitäten verband sich "existentialistische Philosophie" mit "antikolonialer Solidarität" zu einem brisanten Tatendrang, der aus der

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traditionell eher konservativen Studentenschaft die Speerspitze einer Bewegung machte, die bereit war, auf Anpassung und Karriere zu pfeifen. Stattdessen gingen nun junge Akademiker auf die Straße, um für die Befreiung der Lohnarbeiter oder gegen den Krieg in Vietnam zu demonstrieren, wobei sie fast lustvoll in Kauf nahmen, dafür fürchterlich verprügelt zu werden.

All das war die logische Konsequenz jener geist- und prinzipienlosen Nachkriegsära und insofern natürlich auch ein Protest der Jugend gegen die angepaßte Generation der Eltern. Das gesellschaftliche Pendel schwang in die andere Richtung zurück, eine Richtung in der die entgegengesetzten Werte vermutet wurden: Gemeinschaft statt Isolation, Solidarität statt Egoismus, Gerechtigkeit statt Zynismus. Eine kollektive Sinnsuche hatte eingesetzt, und ihre Protagonisten waren zum Erstaunen aller Soziologen nicht die verelendeten Proletarier, sondern die privilegierten Studenten.

Die Eskalation* lief stets nach dem gleichen Muster ab. Relativ kleine Proteste aus oft nichtigem Anlaß werden von der Obrigkeit mit einer Mischung aus ungeschickter Hektik und brutaler Gewalt beantwortet. Die Demonstranten erleben das direkte Zusammenspiel staatlicher, wirtschaftlicher, medienpolitischer und ideologischer Macht und erfahren auf diese Weise hautnah politische Realitäten, die sie bisher nur aus Lehrbüchern kannten. Sie solidarisieren, politisieren und radikalisieren sich. In Frankreich geben sie sich den Namen enragés - die Wütenden.

Diese Wut steckte das ganze Land an und zeigte, wie zerbrechlich das soziale und politische Gleichgewicht war. Aber auch die Unzufriedenheit der Arbeiter war größer als es das Gerede von Wohlstand und Sozialpartnerschaft vermuten ließ. Als sich das alles für kurze Zeit verband, glaubten viele, die Revolution in einer der mächtigsten und modernsten Industrienationen sei zum Greifen nahe.

In der Tat wankte die Regierung des General de Gaulle. Der Präsident verließ den Elysée-Palast, um sich in Deutschland mit hohen französischen Offizieren zu beraten, aber am Ende schaffte er es, daß alles bei einer Staatskrise blieb. Die linken Parteien und Gewerkschaften zaudern, verhandeln, schlagen ein paar Verbesserungen heraus und stellen sich hinter die Staatsmacht. Sie rufen ihre Mitglieder zur Ordnung, verurteilen die Fabrikbesetzungen und dulden, daß die Polizei in die Betriebe einrückt, um die Ordnung wiederherzustellen. Die verkalkten Altlinken hatten diese Erhebung nicht verstanden und sie - mit gutem Grund -intuitiv gefürchtet. Die enrages paßten nicht in ihre Schubladen; sie waren weder zu zähmen noch zu beherrschen. Also waren sie eine Bedrohung. Im Grunde dachten die linken Funktionäre genau wie de Gaulle, der gesagt hatte: "Reformen ja, Mummenschanz nein". Dieser "Mummenschanz" zielte in der Tat mit naiver Frische und anarchischer Direktheit auf das gesamte System. Er war spontan, radikal, antiautoritär und schöpferisch.

 

   Anarchistische Renaissance  

 

Es war kein Zufall, daß in dieser Revolte die schwarze Fahne, das alte Symbol anarchistischen Protests, wieder auftauchte, denn es war ein libertärer Geist, der da durch die Köpfe pfiff und nun die Straßen und Plätze erfüllte.

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Die Bewegung war im übrigen nicht ganz so vom Himmel gefallen, wie es den Anschein hatte. Eine ihrer Wurzeln führte nach Straßburg, wo die anarchophile Studentengruppe Internationale Situationiste im Jahr zuvor mit radikalen Thesen und direkten Aktionen für einigen Wirbel gesorgt hatte, der noch lange durch die Universitäten echote. In jüngster Zeit hatten auch im anarchistischen Milieu Frankreichs endlich Debatten begonnen, die auf einem hohen Niveau nach Wegen der Erneuerung suchten. Zeitungen wie Noir et Rouge, Socialisme ou Barbarie und Recherches Libertaires waren zu Wegbereitern des Mai '68 geworden. Aus dieser Ecke stammten auch die Brüder Gabriel und Daniel Cohn-Bendit, die zu einer Art Sprecher- und Propagandistenteam der Mairevolte wurden. Besonders der "rote Dany", wie die Zeitungen den jüngeren der beiden nannten, wurde von den Medien zu einem Star der enrages aufgebaut. Sein plötzlich entdecktes Talent für Improvisation und Mobilisation und seine verblüffend neue Art, so einfach zu reden, daß ihn mindestens die halbe Nation sympathisch fand, machte ihn zu einem gefährlichen Mann. De Gaulle schob den deutschstämmigen Halbjuden deshalb bei erster Gelegenheit als "unerwünschten Ausländer" nach Deutschland ab. In Frankfurt nahmen ihn die, aus denen bald die "Spontis" werden sollten, als willkommene Verstärkung mit offenen Armen auf. Die Zeitung, deren Herausgeber er später wurde, trug den beziehungsreichen Namen Pflasterstrand.

Auch nachdem an der Seine der Asphalt getrocknet und der gefährliche Agitator außer Landes war, kehrte noch keine Ruhe ein. Die Regierung wurde nicht gestürzt, und noch viel weniger war ›die Revolution ausgebrochen‹. Aber eine neue Zeit hatte begonnen. Die Menschen stellten jetzt vieles in Frage, und man war nicht mehr angepaßt. Autoritär war out, Veränderung war in. Gewiß war bei alldem auch Mode im Spiel, aber seit der Vorkriegszeit hatten es noch nie so viele Menschen so ernst gemeint, wenn sie das Wort "Revolution" in den Mund nahmen. Und das taten jetzt immer mehr. Der Mai 68 war eine antiautoritäre Revolte, die Millionen Menschen erreichte, und er war ein Medienereignis. Das konnte nicht ohne Auswirkungen auf den Anarchismus bleiben.

Im Gefolge des Pariser Mai kam es zu einer regelrechten anarchistischen Renaissance. Es schien, als wäre er von einer wilden Fee mal eben wachgeküßt worden. Schwarze Fahnen und anarchische Plakate gehören nun zum Straßenbild, libertäre Slogans und Symbole werden populär, anarchistische Zeitungen, Bücher, Gruppen sprießen allenthalben. Auch die klassischen anarchistischen Organisationen, die die Studentenrevolte eher mißtrauisch beäugt hatten, spüren den Aufwind. Die bärtigen Klassiker Proudhon, Kropotkin und Bakunin, in den kleinen anarchistischen Buchläden längst zu Ladenhütern geworden, finden plötzlich eine interessierte Lesergemeinde und erleben in den großen Verlagen als Taschenbücher hohe Auflagen. Berühmte Leitartikler schreiben in gewählten Worten weise Kolumnen über den schöpferischen Geist der Anarchie. Nicht nur Frankreich erlebt diesen Boom, er erfaßt auch Länder, in denen der Anarchismus schon im Dämmerzustand darniederlag. Mal sofort, mal langsam diffundierend, geht diese Wiedergeburt in den folgenden Jahren einmal rund um den Globus.

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Ab 1968 gibt es wieder eine wachsende libertäre Bewegung. Sie ist aber auch eine neue Bewegung, in vielem kaum noch mit der alten zu vergleichen. In manchem mußte sie völlig von vorne beginnen. Das war schwer, aber darin lag auch eine große Chance.

 

  APO und Establishment  

 

In Deutschland war die Wiederentdeckung anarchistischer Traditionen zunächst kein Thema. Viele von denen, die 1968 in Osnabrück oder Lüdenscheid mit einer schwarzen Fahne auf eine Studentendemo gingen, hatten das den Illustrierten abgeguckt und dachten, sie trügen eine Trauerfahne. Bei deutschen Demonstranten war zunächst noch Rot angesagt, Disziplin und die korrekte soziologische Analyse. Der kritische deutsche Student hatte seinen SDS, und der war ordentlich sozialistisch.

Dieses Bild sollte sich aber bald ändern. Der akkurate Kurzhaarstudent des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes mit Kassenbrille und Nyltesthemd macht binnen Monaten eine Wandlung durch, die die Medien entzückt. Er paart sich - bildlich gesprochen - mit der deutschen Variante des Großstadthippies, dem sogenannten "Gammler". Und er sucht die Nähe zum Proletariat.

Ein im Kastendenken der Adenauer-Ära unerhörter Kontakt findet statt: Der kritische Jungarbeiter und der progressive Akademiker begegnen einander mit bewunderndem Staunen. Heraus kommt ein philosophierender Alltagsaktivist, der leben will und die Welt verändern. Er verschwistert und verbrüdert sich mit Schülern und Lehrlingen beiderlei Geschlechts zu kleinen, virulenten Zellen: "Rote Zelle Germanistik" etwa oder "Schulungsgruppe materialistische Geschichtsphilosophie", aber auch "Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen" oder schlicht "Kommune I", gefolgt von Nummer 2 und 5.

Man liest, diskutiert und missioniert. Man agiert, agitiert, experimentiert munter drauflos. Alles ist hier und sofort zu verändern. Wer irgend kann, lebt jetzt in einer "Kommune". In der Phantasie der Bild-Zeitung sind dies die Tatorte von wildem "Gruppensex" und "Haschorgien". In Wahrheit würden wir sie heute eher als schlichte Wohngemeinschaften einstufen. Nur ganz wenige widmen sich dem Extremexperiment einer radikalen Vergesellschaftung der Gegenstände, Gefühle und Aktionen und werden so berühmt wie die Berliner "K 1". Die meisten hingegen bleiben bescheidene Inseln kreativer Selbstverwirklichung, in die sich langhaarige Jugendliche vor dem allgemeinen Mief retten. In den moralinsauren und prüden Sechzigern aber war schon das Teilen von Wohnung, Brot und Auto für die öffentliche Meinung ein ungeheurer Akt der Subversion; für die Beteiligten jedoch oft ein realer Akt alltäglicher Befreiung. Genauso wie das nächtelange Diskutieren bei Lambrusco aus dem "Konsum", die Tramptour nach Griechenland und immer wieder die Demonstrationen... Gegen den Vietnamkrieg und für freie Liebe in den Schulen, gegen die Notstandsgesetze und für den Prager Frühling, gegen den Schah von Persien und für Ché Guevara.

All das nannte sich nicht zufällig die Außerparlamentarische Opposition. Das Kürzel "APO" wurde zum Markenzeichen, und es war kein schlechtes: Man war gegen diese Gesellschaft, man wollte eine andere, und man mißtraute der bürgerlichen Politik.

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Die APO kreierte nicht nur einen neuen Lebensstil, sondern auch neue Aktionsformen und eigene Strukturen, was wiederum einen neuen Jargon hervorbrachte. In einem Mischprozeß entstanden aus Soziologenchinesisch, Proletarierdeutsch, Scene-Slang und vielen Anglizismen* für neue Phänomene neue Wörter, die damals jeder kennen mußte, insbesondere die Zeitungs- und Fernsehkommentatoren. Besetzungen wurden zu go-ins, Sitzblockaden zu sit-ins, Propagandaveranstaltungen zu teach-ins. Als schlimmstes Schimpfwort galt "autoritär", denn die APO versuchte, mit Hirn und Herz "antiautoritär" zu sein. Daß die system­immanenten Widersprüche des Spätkapitalismus nur in emanzipatorisch-negativer Dialektik entlarvt werden konnten, war 1969 jedem Studenten, der es mit der K(ritik) d(er) b(ürgerlichen) W(issenschaft) ernst nahm, nicht nur geläufig - es kam ihm auch ohne Holpern über die Lippen. Solche Dinge wie die KdbW wurden dann meist auf der VV ausdiskutiert - worunter eine Vollversammlung zu verstehen war. Beliebter aber waren die happenings - phantasievolle Aktionen von meist symbolischem Wert mit einem kräftigen Schuß direkter Aktion. Die anarchischen Provokationsspäße der K1-Mitglieder Rainer Langhans und Fritz Teufel, die mit Mut, Witz und entlarvender Groteske die staatliche Autorität bloßstellten, zogen seinerzeit in Deutschland Millionen von Lachern vom Millowitsch-Theater zur Tagesschau ab. Beides, Millowitsch und Tagesschau, gehörte übrigens eindeutig zum Establishment, der damaligen Lieblingsvokabel, für die es in der Tat kein passendes deutsches Wort gibt. Gemeint war die verkrustete, selbstzufriedene etablierte Gesellschaft mit all ihren Institutionen direkter und indirekter Herrschaft.

Genau das war der Gegner der APO. Die antiautoritäre Revolte zielte nicht mehr gegen einzelne Mißstände, sondern gegen das ganze "verlogene System".

 

Breitenwirkung 

Was aus dem zeitlichem Abstand heraus so sehr zur leicht ironischen Schilderung verlockt, war in Wirklichkeit eine tiefgreifende soziale Umorientierung. Für die Protagonisten, die "Generation der Achtundsechziger", handelte es sich um eine ernste Angelegenheit, die tief in ihr Leben einschnitt. Und diese Generation, Hunderttausende, wirkte auf den Rest der Deutschen, die angepaßten Millionen. Die wilden Jahre verloren mit der Zeit natürlich an Wildheit. Was damals entstand, wandelte sich, wurde zu Trends, Bewegungen, Experimenten; vieles schlief auch wieder ein. Aber die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland trat in einen Wandlungsprozeß, aus dem nach einigen Jahren ein anderes Land hervorging.

Diese Breitenwirkung ist vermutlich das, was an der APO am meisten verkannt wird. Legionen von Sozialwissenschaftlern haben sich der Spurenverfolgung sozialer Bewegungen und politischer Theorien verschrieben, aber die augenfälligste Bresche, die die Achtundsechziger hinterlassen haben, wird kaum wahrgenommen. Dabei kann sich ein deutscher Mensch, der nach 1970 geboren wurde, kaum vorstellen, wie das Leben in der Bundesrepublik vor 1968 aussah. Strammstehen vor dem Lehrer, tiefe Diener und braver Knicks waren normales "gutes Benehmen". An Gymnasien waren "Nietenhosen"* und

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Parkas* per Erlaß verboten, und in einer sauberen Gegend gingen Buben und Mädel selbstverständlich in getrennte "Oberschulen". Über Sexualität zu sprechen, war unanständig, Küssen unter freiem Himmel ein Skandal. Frauen, die in der Öffentlichkeit rauchten oder alleine eine Gaststätte aufsuchten, wurden als Huren betrachtet. Anständige Frauen gehörten in die Wohnung, bekamen vom Mann das abgezählte Haushaltsgeld und zogen ihm abends die Pantoffeln an. Ein geschirrspülender Mann gab sich der Lächerlichkeit preis, und wenn eine Frau irgendwo hinging, ohne in Begleitung ihres Ehemannes zu sein, dann "stimmte mit der Ehe irgendwas nicht". Im Betrieb war der Meister ein Vorgesetzter und der Chef eine gottähnliche Respekts­person. In einer Zeit, als der Verzehr einer Pizza ein exotischer Genuß und die Fahrt im VW-Käfer an den Gardasee ein prickelndes Fernabenteuer war, galt ein Einwohner Mailands den meisten Deutschen noch als "dreckiger Makkaronifresser". Kinder in der Schule oder auf der Straße zu verprügeln, wurde als gute Erziehung angesehen, und Amtspersonen hatten mit "Oberamtmann" angesprochen zu werden, auch wenn es sich um eine Frau handeln sollte, was aber wiederum sehr selten der Fall war. Selbst die Bundespolitiker, die nicht mehr Respekt verdienten als die heutigen, rangierten im Bewußtsein der meisten Deutschen als unnahbare Respektspersonen, göttergleich und klug.

Gewiß, all das kommt in anderer Form auch heute noch vor. Kindesmißhandlung, Sexismus und Fremdenfeindlichkeit sind ja beileibe nicht ausgestorben. Bis 1968 aber bestimmte all das den Normalzustand der Mainstream-Gesellschaft. Es wurde weder hinterfragt noch kritisiert noch geändert. Nach 1968 aber hatte sich der Blickwinkel verschoben. Auch bei den Millionen Menschen, die von der APO nichts hielten und sie belächelten oder beschimpften. Autorität war plötzlich etwas Negatives geworden, zumindest etwas Suspektes. Kritik war nicht nur erlaubt, sie wurde zur Normalität. Die folgenden Jahrzehnte erleben den Zweifel am Wirtschaftswunder, an Amerika, am Krieg, an der Überlegenheit des Mannes, der Unfehlbarkeit der Politiker, der Genialität der Atomkraft und der Unendlichkeit des Wachstums. Fortschrittsglaube, Arbeiterklasse und kalter Krieg stehen zur Disposition, Prügelpädagogik, Ehesklaverei und Gottesfurcht kommen aus der Mode. Menschen trauen sich nicht nur, Autoritäten zu widersprechen, sondern auch, gegen sie zu handeln. Dritte Welt, Ökologie, Frieden und Selbstverwirklichung werden zu Themen, die die breite Masse zu interessieren beginnen.

All das ist nicht etwa das Produkt sozialliberaler Reformen unter der Kanzlerschaft Willy Brandts, es sind die Spätfolgen jener Breitenwirkung, die die vielbelächelten Achtundsechziger erzielten. Das Kabinett Brandt konnte auf diesen neuen Zeitgeist nur reagieren.

 

Politik, Aktion und Leben 

Das zu erreichen, war natürlich nicht Ziel der APO. Die machte ›Politik‹, wollte ›die Revolution und hätte all das wahrscheinlich als ›reaktionär‹ verworfen. Fraglos waren diese Änderungen weder einschneidend noch führten sie zu einer libertären Umwälzung der Gesellschaft. Sie läuteten eher eine Trendwende ein, die zwanzig Jahre lang vorhielt. Erst

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in den Neunzigern begann das gesellschaftliche Pendel wieder spürbar nach ›rechts‹ zurückzuschwingen. Kohls Konservativismus, geklont mit der Yuppie-Attitüde der Haargelgeneration kennzeichnen dieses neue Ellenbogenzeitalter, passend ergänzt von den durch nazistischen Urschlamm trampelnden Springerstiefelträgern.

Eine solche Vorausschau aber war den Akteuren der APO, die 1968 auf die Straße gingen, nicht vergönnt.

Die antiautoritäre Revolte war auch in Deutschland in erster Linie eine Studentenbewegung. Entsprechend kurzlebig war auch das konkrete Phänomen APO, denn Student ist man nur für kurze Zeit. Sie hat im Ganzen kaum drei Jahre existiert, der SDS büßte seine Motorfunktion schon viel früher ein. Der Ausstieg aus der Aktion, den man schon bald fand, entsprach dann auch den Bedürfnissen angehender Führungskräfte: "Der lange Marsch durch die Institutionen" wurde proklamiert, was nichts anders bedeutete, als daß möglichst viele Linke sich in Führungspositionen schmuggeln sollten, um dort revolutionär zu wirken. Er geriet - trotz klug formuliertem "theoretischen Überbau" - den meisten eher zu einem raschen Galopp in Anpassung und Karriere.

Zunächst aber war die APO im klassischen Sinne politisch. Universitätsreform und Protest gegen den Imperialismus waren ihre Themen, Besetzungen und Demonstrationen ihre Formen. Schon bald aber sprengt die Bewegung diesen Rahmen. Veranstaltungen wie der "Vietnam-Kongreß" geraten zu Massenhearings, auf denen auch der Umsturz in Deutschland zum Thema wird, ständig begleitet von den Haßtiraden der Zeitungen aus dem Hause Springer. Die Erschießung des Demonstranten Benno Ohnesorg durch die Polizei zeigt, daß das "Establishment" ernst macht und der Staat ein gewaltbereiter Gegner ist. Das Attentat auf Rudi Dutschke, Wortführer des SDS und Lieblingsfeind der Bildzeitung, führt zur der Erkenntnis, daß das System komplex ist und viele Gesichter hat: Der Protest wird zur direkten Aktion, der Springer-Verlag zum verhaßten Ziel. Die ersten westdeutschen Linken radikalisieren und bewaffnen sich. Es kommt zu Debatten, Richtungskämpfen, Fraktionierungen und immer neuen Theorien. Studenten gründen Parteien, Sekten und Zirkel, die sich in den siebziger Jahren zu einer kräftigen linken Scheinblüte entfalten, um sich dann in Nichts aufzulösen. Es war gewiß nicht dieser Heißluftballon, der das sozio-kulturelle Leben unseres Landes in der geschilderten Weise veränderte.

Parallel zu Politik und Aktion war nämlich ein dritter Sektor entstanden, zwar eng mit beidem verknüpft und nicht genau zu trennen, aber doch mit einem klar anderen Ansatz. Während die ›ernsthaften Revolutionäre‹ zuerst auf die Revolution warten wollten, die, je nach Fraktionszugehörigkeit, von der Reife der Arbeiterklasse oder der Anzahl der Gewehre abhängen sollte, fingen andere einfach an, das Leben zu verändern. Menschen, die von den paradiesischen Aussichten, die die Theoretiker versprachen, schon jetzt etwas haben wollten, die wohl auch jenen Theoretikern, die nicht einmal ihr eigenes Leben zu verändern begannen, mißtrauten: Empörte Frauen schubsen die Chefgockel des SDS vom Rednerpult und organisieren sich in "Weiberräten" und Frauengruppen. In sogenannten "Kinderläden" versuchen sich die APO-Eltern in der antiautoritären Aufzucht ihres Nachwuchses. In

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Bürgerinitiativen, bei Streiks oder in den Ghettos der Gastarbeiter kommt es zu spannenden Begegnungen mit der Alltagswelt der "Normales", was in vielfältige praktische Projekte mündet. Die ersten Leute gründen "Kollektivbetriebe": Unternehmen ohne Chef, häufig auch ohne Geld und Fachwissen, aber mit umso mehr Elan. Kneipen und Buchläden zumeist, aber auch schon Handwerk und vereinzelt Landwirtschaft. Jugendzentren, Wohngemeinschaften und Freizeitgruppen runden das Panorama ab.

So entstehen schon in den Sechzigern erste Aktionen und Projekte, aus denen sich in den Siebzigern die neuen sozialen Bewegungen und die sogenannte "Alternativszene" entwickeln werden. Diese bunte Alltagskultur wurde für die Wiedergeburt des Anarchismus in Deutschland zu einer Quelle, die wohl genauso wichtig war wie die Wiederentdeckung anarchistischer Theorien, die im Gefolge des antiautoritären Phänomens der APO praktisch unvermeidlich war.

 

Neuer Anfang 

 

Die wenigen alten Anarchisten, die 1968 in Deutschland noch das schwarze Banner hochhielten, bestaunten das Phänomen der Studentenrevolte mit einer Mischung aus Freude und Mißtrauen. Vielen waren die Ideen nicht eindeutig genug anarchistisch und Studenten sowieso suspekt; andere sahen voller Begeisterung riesenhafte Chancen. Der alte Anarchoprolet Willy Huppertz, der dreißig Jahre lang in Mühlheim an der Ruhr als einsamer Rufer das Agitationsblatt Befreiung herausgegeben hatte, blieb skeptisch, der frankophile Physiker Rudolf Krell jedoch öffnete sein Herz für die jungen Langhaarigen und war geneigt, in Daniel Cohn-Bendit den Bakunin des 20. Jahrhunderts zu erblicken. Auf dem internationalen Anarchistenkongreß in Cararra mußte er 1968 aber erleben, wie die spanische Anarchoveteranin Federica Montseny nur mit Mühe davon abgehalten werden konnte, dem roten Dany wegen flegelhaften Benehmens eine Ohrfeige zu verpassen.

Die jungen deutschen Antiautoritären hatten inzwischen mit Erstaunen die Entdeckung gemacht, daß es eine Philosophie und Bewegung mit dem Namen "Anarchismus" gab - entsprechend begeistert stürzten sie sich auf die "Altgenossen". Wenn auch die gegenseitige Euphorie hier und da bald erkaltete und sich Generationskonflikte auftaten, so kam es doch auch zu ergiebiger Zusammenarbeit. Die "Befreiung" etwa avancierte in den Händen junger Kölner Anarchos bald zum führenden Blatt der Szene, und in Frankfurt wurden die siechen Reste des Verlags der "Freien Gesellschaft" mit frischen Kräften reanimiert. Die jungen deutschen Anarchos aber fühlten sich, als hätten sie eine neue Welt entdeckt. Und diese Anarchowelt lag voll im Trend der APO. So etwas wie ein "Kronstadt-Kongreß" würde heute vielleicht ein knappes Dutzend Historiker auf ein Symposium locken - 1971 konnte das Audimax der Freien Universität Berlin die Zuhörer kaum fassen. Selbst die tonangebenden APO-Linken paßten ins Bild: Der aufrechte Marxist Dutschke etwa hatte die Lektüre anarchistischer Klassiker empfohlen, und von den großen Theoretikern der APO - Adorno, Horkheimer, Habermas und Krahl - gehörte keiner zur Sorte der tumben Marxologen. Eher schon standen sie, wie insbesondere Herbert Marcuse, einer

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Synthese aus marxistischer Ökonomie und libertärer Ethik nahe. Eine staunende Neugier war geweckt.

Die ersten Jahre des neuen Anarchismus standen — wann immer die pausenlosen Aktionen der APO Zeit übrig ließen — unter der Überschrift "Nachholbedarf". Überall rotierten die Walzen der billigen Kleinoffsetmaschinen und spuckten schlecht lesbare Anarchozeitungen aus. Raubdrucke anarchistischer Klassiker gingen weg wie warme Semmeln, bis Rowohlt, Suhrkamp und Ullstein diesen lukrativen Markt besetzten.

Mit dem Pariser Mai, der eine ganz eigene Ästhetik von Graffitis, Plakaten und Spontangrafik hervorgebracht hatte, setzten sich auch zwei neue, aus den USA eingesickerte Agit-Medien durch, die nun das Erscheinungsbild der Straßen, Jacken und Autos eroberten: Aufkleber und Buttons*. Auf ihnen tauchte nun immer häufiger ein aus Italien stammendes Symbol auf, das bald zum meistgedruckten und -gesprayten Politsymbol der Welt werden sollte: das A im Kreis.

 

 

Literatur

J. Sauvageot, A. Geismar, D. Cohn-Bendit: Aufstand in Paris Reinbek 1968, Rowohlt, 108 S. / N.M.: La Chienlit - Dokumente zur französischen Mai-Revolte Darmstadt 1969, Melzer, 470 S. / Henri Levfebvre: Aufstand in Frankreich Berlin 1969, Ed. Voltaire, 144 S. / Situationistische Internationale: Über das Elend im Studentenmilieu Hamburg 1977, Nautilus, 66 S. / Gabriel und Daniel Cohn-Bendit: Linksradikalismus - Gewaltkur gegen die Alterskrankheit des Kommunismus Reinbek 1968, Rowohlt, 278 S. / Daniel Cohn-Bendit: Der große Basar München 1975, Trikont, 174 S. / 

Rudi Dutschke: Bibliographie des revolutionären Sozialismus Hannover 1969, Druck- u. Verlagskooperative, 49 S. / Rolf R. Bigler: Enteignet Deutschland! Wien, München Zürich 1968, Molden, 227 S. / Günther Bansch: Anarchismus m Deutschland, Bd. II  i96;-if7j 423 S., vgl. Kap. 36! / Wolfgang Dreßen: Antiautoritäres Lager und Anarchismus Berlin 1971, Wagenbach, 153 S. / 

Gert Holzapfel: Vom schönen Traum der Anarchie - Zur Wiederaneignung und Neuformulierung des Anarchismus in der Neuen Linken Berlin 1984, Argument, 389 S. / Heinrich Böll, Rudi Dutschke, Erich Fried u.a.: Die Ermordung des Georg von Rauch Berlin 1976, Wagenbach, 152 S. / Rainer Langhans, Fritz tmtd: Klau mich München o.J., Trikont, 212 S., ill. / ›Bommi‹ Baumann: Wie alles anfing München 1975, Trikont, 141 S.

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