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40  Von der Demokratie zur Akratie  

 

Nichts ist widerwärtiger als die Majorität; denn sie besteht aus wenigen kräftigen Vorgängern aus Schelmen —, die sich akkomodieren; aus Schwachen, die sich assimilieren; und der Masse, die nachtrollt ohne nur im mindesten zu wissen, was sie will.  ---Johann Wolfgang von Goethe 

 

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Einen Menschen, der vor 300 Jahren behauptet hätte, daß dereinst ein Volk nicht mehr vom gottgewollten König regiert werden würde, hätte man glatt für verrückt erklärt. Die Vorstellung, alle paar Jahre ein paar hundert Leute auszuwählen, die sich zusammenhockten, diskutierten und statt des Monarchen regierten, wäre absurd erschienen. Weil es gegen die Natur des Menschen verstoße und gegen die bewährte Ordnung der Dinge. Man hätte die Verkünder solcher Ideen als gefährliche Aufwiegler verfolgt oder bestenfalls als Utopisten ausgelacht. — Tatsächlich ist all das ja auch geschehen.

Heute indes leben wir nach genau diesem Muster, nennen es "Demokratie" und finden es völlig normal. Wer heute die Rückkehr zur Monarchie fordert, gilt als Idiot.

   Wandlung ist möglich  

Politische Herrschaft ist nicht Ausdruck des Bösen, sondern eine Form von Verwaltung. Diese Verwaltung kann besser oder schlechter organisiert sein. Was dabei ›gut‹ oder ›schlecht‹ ist, hängt von der Perspektive ab, das heißt, von der Frage: für wen gut oder schlecht. Untersuchen wir die Frage vom Standpunkt derer, die man allgemein ›das Volk‹ nennt, also unserem: Wie stark kommen wir in der Verwaltung vor?

Früher herrschte ein Einzelner im Namen einer Idee, die sich auf einen Einzelnen berief. Der "einzige Herrscher", der Monarch, betrieb als Vasall, Herzog oder König sein Verwaltungsgeschäft im Namen des "einzigen Gottes". Die uneingeschränkte Herrschaft eines Einzelnen nennen wir Autokratie. Sie brachte Fremdverwaltung hervor.

Heute herrschen viele im Namen einer Idee, die sich auf das ganze Volk beruft. Die "vielen Herrscher", Polyarchen, betreiben als Abgeordnete, Minister, Regierungschefs ihr Verwaltungsgeschäft im Namen der Gesamtheit der "mündigen Wahlbürger". Die eingeschränkte Herrschaft vieler im Namen aller nennen wir Demokratie. Sie bringt eine Stellvertreterverwaltung hervor.

Gemäß der anarchistischen Idee, die heute noch im Rang einer Utopie steht, herrscht morgen jeder über sich selbst oder, was dasselbe ist, niemand mehr über andere. Die Gesamtheit nicht-herrschender Menschen, Anarchen, betreiben als autonome Individuen ihre Verwaltungsgeschäfte in dezentralen Strukturen im Namen ihrer selbst. "Herrschaft" wird durch "Selbstorganisation" ersetzt, einen Zustand, den wir Akratie nennen. Sie würde Selbstverwaltung hervorbringen.

Somit wäre ein gesellschaftlicher Zustand der Akratie mit der Organisationsstruktur Selbstverwaltung der für das Interesse aller Menschen am weitesten fortgeschrittene Entwicklungszustand.

Es ist verlockend, in solchen Entwicklungssträngen zu denken. Demzufolge gäbe es eine stetige gesellschaftliche Veränderung, die sich im theoretischen Denkbild von der Autokratie über die Demokratie zur Akratie entwickelte. Das entspräche in den politischen Formen einer Umwandlung von der Monarchie über die Polyarchie zur Anarchie. Die gesellschaftlichen Strukturen wechselten von der Fremdverwaltung über Stellvertreterverwaltung zur Selbstverwaltung. Aber das sind nur Theorien — Modellvorstellungen, die zur Orientierung dienen können. Wir wissen, daß es kaum jemals eine ›reine‹ Monarchie gab, und daß auch unsere ›Demokratie‹ ihrer eigenen Idee von ›Volksherrschaft‹ nicht gerecht wird.

Solche Denkmodelle können die Perspektive erweitern und unser Hirn auflockern. Deshalb sind sie aber noch lange nicht Realität, und sie entwickeln sich auch nicht in irgendeiner Weise ›automatisch‹. Kein okkultes* Weltgesetz — weder ein göttliches, ein aufklärerisches, marxistisches oder ein ökologisches — lenkt die Schritte der Menschheit automatisch einem höheren Endziel zu — und natürlich auch kein anarchistisches. Der Entwicklungsstrang Autokratie-Demokratie-Akratie ist eine Möglichkeit, die sich aufzeigt. 

Damit Möglichkeiten zu Wirklichkeiten werden, braucht es ein Ziel, einen allgemeinen Wunsch, das Ziel zu erreichen und schließlich das Handeln von Menschen, um sich diesem Ziel zu nähern.

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Alles, was wir aus der Tatsache folgern dürfen, daß das Gros der Menschheit sich von der Autokratie zur Demokratie bewegt hat, ist, daß Wandlung möglich ist. Wie ›absurd‹ die Zielvorstellungen solch einer Wandlung von den Zeitgenossen wahrgenommen werden, ist unerheblich, weil sich auch die politischen, moralischen und gesellschaftlichen Ansichten wandeln können. Nichts ist unbeständiger als der Zeitgeist.

Für überzeugte Libertäre bedeutet dies, sofern sie in solchen Prozessen überhaupt noch eine Rolle spielen wollen, zweierlei: Sie dürfen erstens nicht nur auf das Endziel starren, sondern müssen die Krisen der heutigen Herrschaftsform als Strukturprobleme einer verfehlten Verwaltungsphilosophie verstehen. Zweitens dürfen sie nicht auf die automatische Erfüllung solcher Entwicklungsstränge hoffen; sie müssen etwas dafür tun. Das heißt, nach Wegen, Ansätzen und Chancen zu suchen, sich mit besseren Strukturen dort einzubringen, wo die schlechteren Strukturen versagen. Ein Aufspüren von Krisen also, das jedoch nur dann Sinn macht, wenn die Libertären außer Kritik auch Alternativen im Gepäck haben. Mit einem Wort: Die Libertären müßten lernen, strategisch zu denken.

 

    Mehrheit, Minderheit, Freiheit   

Eines der Strukturprobleme hat der alte Goethe in seinem launischen Eingangszitat angesprochen: Den Fetisch der "Mehrheit". In der Organisationsform "Demokratie" führt er zu einer endlosen Kette von Funktionsstörungen, die auf der falschen Verwaltungsphilosophie beruhen, Verwaltung mit Herrschaft gleichzusetzen. Diese Gleichsetzung ergibt sich aus der Vorgabe, daß an einem Ort nur eine Gesellschaft bestehen dürfe, und daß diese Gesellschaft möglichst groß sein sollte. Eine solche Gesellschaft muß dann folgerichtig für Souveränität, Zentralisierung, Entscheidungshierarchie, Autorität und Nivellierung des Großen Ganzen sorgen. Dieses "Große Ganze" nennen wir Staat. Und der Staat kann gar nicht anders sein als er ist. Kleinheit und Vielfalt sind für jeden Staat eine Bedrohung. Am besten funktioniert er in Größe und Einfalt. Da er überall alles für alle gleich bestimmen soll, muß er tendenziell alle Menschen gleichmachen.

Gleichmacherei aber scheint irgendwie nicht der Natur des Menschen zu entsprechen. Jedenfalls hat er sich immer dagegen aufgelehnt. Das hat Veränderungen bewirkt. Diesen Veränderungen trug die Verschiebung der Macht vom König auf das Parlament Rechnung, betraf aber nur die formalen Rahmenbedingungen. Sie war sozusagen eine Lockerung der Strukturen, hinter der nach wie vor dieselbe Idee stand: die Idee großer Einheiten.

Wenn diese Idee Grundlage der sozialen Organisation ist, dann ist es nur konsequent, sich die dazu passenden Strukturen zu geben. Demokratie wäre dazu eher ungeeignet. Eine wohlwollende Monarchie, eine Diktatur oder Tyrannei mit ›guten Absichten wäre ihr dann eigentlich vorzuziehen. Gegen die aber haben sich die Menschen immer wieder aufgelehnt. Offenbar werden Vereinheitlichung, Zentralismus, Kontrolle, Befehl und Unterdrückung als unangenehm empfunden.

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Es stellt sich also die entscheidende Frage, ob die Idee großer Einheiten überhaupt eine dem Menschen angemessene Idee ist. Ist der moderne Nationalstaat nicht ein Anachronismus und die Herausbildung von Supermächten vielleicht seine schwachsinnigste Krönung?

Im Grunde sind moderne Demokratien verkorkste Zwitter. In ihr stimmen Idee und Struktur nicht überein. Entweder ist die große Einheit das dem Menschen gemäße Ideal, dann ist der parlamentarische Pluralismus* nicht mehr die richtige Form, weil er zu frei ist. Oder aber die Vielfalt kleinerer Einheiten entspricht den Bedürfnissen des Menschen, dann ist die heutige Demokratie noch nicht die richtige Form, weil sie zu unfrei ist. Sie steht in ihrer Philosophie zwischen Bevormundung und Autonomie, in ihrer Struktur zwischen Zentralismus und Föderation, in ihrer Verwaltung zwischen Befehl und Selbstorganisation.

Anarchisten gehen anders vor: Sie setzen Verwaltung nicht mit Herrschaft gleich und vermuten, daß eine Selbstverwaltung ohne Fremdbestimmung motivierend wirkt. Dem Problem der Konsensfindung in der Vielfalt begegnen sie mit einer Entflechtung der Gesellschaft. Einen möglichen Effektivitätsverlust bei Wegfall von Hierarchie wollen sie durch eine leistungsfähige horizontale Vernetzung ausgleichen, die auf freiwilliger Autorität beruht. Die meisten sozialen Steuerungsprobleme halten sie für hausgemacht, weil staatliche Gesellschaften angesichts ihrer Größe und ihres Anspruches nicht auf die Mechanismen einer Selbststeuerung von Systemen vertrauen dürfen.

Deshalb ist der gesamte anarchistische Gesellschaftsentwurf darauf ausgerichtet, diese Selbststeuerung möglich zu machen, indem sie Größe und Struktur der Gesellschaft(en) verändert. Wie aber geht die staatliche Gesellschaft mit diesem Dilemma um? Mit der Herrschaft der Mehrheiten — einem denkbar faulen Kompromiß, der haargenau da steht, wo auch die moderne Demokratie steht: zwischen Bevormundung und Autonomie. Ganz ohne Zweifel ist Mehrheitsherrschaft keine saubere Lösung. Sie ist in der Praxis gewiß weniger schlecht und weniger willkürlich als die Despotie eines Einzelnen — aber natürlich wird auch eine falsche Entscheidung nicht dadurch richtiger, daß viele Trottel sie durchgesetzt haben. Selbstverständlich gibt es in riesigen Gesellschaften auch immer riesige Minderheiten, deren Interessen unter den Tisch fallen. Und wie Goethe so treffend beobachtet hat, führt das Regiment der Majorität ja nicht etwa dazu, daß es keine einzelnen Herrscher mehr gäbe. Die gibt es nach wie vor, nur sind sie jetzt gezwungen, ihre persönlichen Interessen mit der Hilfe von Mehrheiten durchsetzen. Daß sie diese Mehrheiten vor allem auch aus der dumpfen, ideenlosen Masse rekrutieren, brauchen wir nicht erst beim deutschen Dichterfürsten nachzulesen, das kennen wir aus eigener Anschauung zur Genüge.

Auf diese Schwächen der Mehrheitsherrschaft gibt es grundsätzlich zwei Antworten. Die elitistische* Antwort verachtet die Mehrheit, pfeift auf die Masse und fordert die Herrschaft der Klugen, Starken, Guten, Erleuchteten oder sittlich Reifen. Die anarchistische Antwort macht Mehrheiten überflüssig, pfeift auf die Herrschaft und fordert die Chance von Klugheit, Stärke, Güte, Erkenntnis und sittlicher Reife für alle. Demokraten haben keine Antwort, sie improvisieren.

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Wie aber kann das Gewicht der Mehrheit überflüssig werden?

Indem die Strukturen abgelöst werden, die Mehrheitsentscheidungen erfordern. Wie das im Detail funktionieren soll, haben wir bereits erfahren. An dieser Stelle sollen uns nur folgende Überlegungen interessieren:

Was eine ›richtige‹ und eine ›falsche‹ Entscheidung ist, darüber gehen die Meinungen der Menschen stets auseinander. Je größer eine Gesellschaft ist, desto mehr Menschen, desto mehr Meinungen, desto schwieriger ein Konsens, desto größer die unterdrückten Minderheiten, desto schwieriger das individuelle Ausweichen vor einer als ›falsch‹ empfundenen Entscheidung. Je vielfältiger eine Gesellschaft ist, je kleiner und autonomer ihre Einheiten, desto einfacher ein Konsens, desto geringer die unterdrückten Minderheiten, desto leichter, sich zu entziehen und sich einer anderen Gesellschaft anzuschließen, deren Entscheidungen als ›richtig‹ empfunden werden. Die allermeisten politischen Konflikte, mit denen sich heute das parlamentarische Krisenmanagement herumschlagen muß, erwachsen überhaupt erst aus dem merkwürdigen Anspruch, daß wenige Menschen für alle Menschen entscheiden müssen. Dies ergibt sich direkt aus dem Absolutheitsanspruch jeder Staatsphilosophie. Die Folge ist Herrschaft, ihre notwendige Konsequenz Konzentration. Entflechtung hingegen baut die Notwendigkeit der Herrschaft ab und löst neunzig Prozent aller Fragen dezentral, auf der jeweils untersten Ebene. Es verbleibt eine Restgröße.

Diese Restprobleme aber, für die überregionale und allgemeinverbindliche Entscheidungen nötig bleiben, sind weniger als man gemeinhin glaubt. Auch zu deren Entscheidung haben wir hierarchieärmere Modelle kennengelernt, die eine befriedigende Lösungsfindung versprechen. Auch in ihnen kann es in letzter Konsequenz durchaus einmal zu einem Mehrheitsentscheid kommen. Der bliebe jedoch die Ausnahme und wäre nicht mehr mit der gleichmacherischen Abstimmungsroutine unserer heutigen Parlamentsmaschinerie zu vergleichen. Deren Mehrheiten sind von Parteitaktik bestimmt, während es sich hier um die direkte Entscheidung der Menschen handelte, die sich zuvor ausführlich mit einem Problem auseinandergesetzt hätten.

Ein Blick auf die Gesetzesvorlagen in National- oder Länderparlamenten zeigt, wie viele Dinge in den Zentren der Macht behandelt und entschieden werden, die eigentlich nicht dort hingehören. Zu dieser Einsicht braucht man gar nicht erst in den Dschungel der Brüsseler Europabürokratie mit ihren kontinentalen Weichkäseverordnungen und Bananenmaßvorschriften vorzudringen: Überall führt der Souveränitätsanspruch politischer Großgebilde dazu, sich dem Aufbau eines endlosen Regelwerks zu widmen, das bei autonomen Kleingebilden gar nicht nötig wäre. In diesem Fall ist es in der Politik wie in der Natur: Jedes zentrale Eingreifen — sei es nun ›Regieren‹ oder ›Umweltmanagement‹ — verhindert auf Dauer die Herausbildung der Mechanismen einer Selbststeuerung, die in allen kleinen, organischen Einheiten angelegt sind.

Wir Europäer sind derzeit Zeugen für den grandiosen Unfug, der in dieser Hinsicht getrieben wird: Dem rückwärtsgewandten Modell der kommenden Supermacht Europa. Nichts wurde offenbar aus dem Kollaps der Supermacht Sowjetunion gelernt. 

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Die Dauerkrise der Supermacht USA wird beharrlich ignoriert. Das regelmäßige Versagen von Steuermechanismen in zentralen Großgebilden ist mittlerweile das beherrschende Thema von Ökonomie, Physik, Philosophie, Ökologie und Gesellschaftswissenschaften. Nur bei den Politikern hat sich das noch nicht herumgesprochen. Die versuchen nach wie vor, die Wohlstandsfestung Europa mit dem Instrumentarium von vorgestern gegen die Herausforderungen von morgen abzuschotten. Die Massen, die man für die entsprechenden Mehrheitsentscheidungen braucht, lassen sich noch allemal leicht mit dem Hinweis darauf ködern, daß nun in Europa endlich die Grenzen fallen... Während allüberall das bürokratische Regelwerk wächst und rundherum ein Festungswall entsteht.

 

    Den Hebel ansetzen  

 

Soviel zum Knirschen im Getriebe der heute üblichen Herrschaftsform. Es kommt also von den Struktur­problemen, die eine falsche Verwaltungsphilosophie mit sich bringt? Na schön. Aber das Getriebe funktioniert trotzdem. Was ist also mit den genannten Krisen? Könnten Menschen, die andere Strukturen wollen, hier irgendwo den Hebel ansetzen?

Da wir schon von Hebeln reden, bietet sich zu dieser Frage das anschauliche Modell des Pendels an: Die sozialen Wünsche, die die Verschiebung der Gesellschaft von der Autokratie zur Demokratie bewirkt haben, sind diffus, aber benennbar: Selbstwertgefühl, Freiheit, Wohlstand, Selbstbestimmung, soziale Gerechtigkeit, Eigenverantwortung, Individualität, Gemeinschaftsgefühl. Diese Kräfte sind offenbar in der Menschheit stets vorhanden. Sie lassen sich politisch, religiös oder weltanschaulich nicht eindeutig zuordnen. Sie sind allesamt aber auch Bestandteile einer libertären Ethik, und nach wie vor sind sie wirksam. Ihnen gegenüber gibt es den Wunsch nach Anpassung, Herrschaft, Privilegien, Hierarchie, Unterordnung, Befehl und Gehorsam. Auch diese Kräfte scheinen ständig präsent zu sein. Sie lassen sich politisch, religiös und weltanschaulich schon eher zuordnen und gehören selbstverständlich nicht zur libertären Philosophie. Ihr Wirken in der Gesellschaft ist viel stärker an eine Interessenlage von Menschengruppen gebunden, die Vorteile aus ihnen ziehen. Zeitweise gelingt es den Herrschenden, die Beherrschten glauben zu machen, solche Zustände wären auch zu ihrem Besten.

In der Menschheit gibt es demnach ein freiheitliches Potential, angetrieben von spezifischen Wunschkräften. Diese liegen im Widerstreit mit autoritären Wunschkräften. Zwischen diesen Kräftepolen bewegt sich die Gesellschaft mitsamt ihren sozialen Strukturen. Dabei sind Pendelbewegungen zu beobachten, aber auch Verschiebungen. In Deutschland war die Entwicklung vom Kaiserreich zur Demokratie eine klare Verschiebung, der Übergang von der Ära Adenauer zur Ära Brandt und zurück zur Ära Kohl waren eher Pendelschwingungen. Soziale Bewegungen versuchen dabei, den Pendelschwung in eine dauerhafte Verschiebung zu verwandeln. Dabei können sie die Kraft des Pendels ausnutzen, um das Feld ihrer Wunschkräfte zu verstärken.

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Solche ›Wunschkräfte‹ sind nicht angeboren und schneien nicht vom Himmel; sie haben überwiegend gesellschaftliche Ursachen. Das bedeutet, sie sind veränderbar beziehungsweise mobilisierbar. Freiheitliche Sozialbewegungen können also grundsätzlich Einfluß auf das freiheitliche Potential nehmen.

Für solch eine Einflußnahme gibt es günstige und weniger günstige Phasen. Sie werden bestimmt vom Grad der allgemeinen Verunsicherung, von der Qualität der Alternative und von der momentanen Schwäche der Gegenkräfte. Mit anderen Worten: Wenn die Menschen unzufrieden sind, die freiheitlichen Gegenmodelle weit entwickelt und der Staat eine Machtkrise zeigt, ist die Situation günstig für eine soziale Verschiebung. Wir kennen das bereits — für den Sommer 1936 hatten wir das "Revolution" genannt.

 

    Ein Szenario  

 

Man darf wohl sagen, daß in der Ersten Welt* und ganz besonders in der Bundesrepublik die allermeisten Menschen gut versorgt sind. Sie sind satt und bekleidet, dürfen sich äußern, frei bewegen, können überall Ablenkung und Unterhaltung kaufen und auf Teufelkommraus konsumieren. Dennoch sind nur wenige Menschen zufrieden. Wohl kaum, weil sie den Drang verspüren, noch mehr zu konsumieren — oft sogar aus dem gegenteiligen Gefühl heraus: dem Überdruß am Überfluß. Es gibt einen Ekel an der Gesellschaft, eine Abscheu vor der inhaltsleeren Einöde des Alltags. Das Leben gleicht einer gigantischen Arbeitsmaschine, alles Wichtige ist bereits entschieden, alles Wesentliche bereits geregelt. Und selbst die Ersatzfreuden werden immer kostspieliger und bieten immer weniger Befriedigung. Enttäuschender Schrott und vorfabrizierte Abenteuer stehen zum Verkauf, alle mit dem schalen Nachgeschmack des Massenhaften, Künstlichen und Falschen.

Ein solcher Hintergrund ist für die Schwankungen des Gesellschaftspendels genauso brisant wie es Hunger und Elend der Arbeiter im neunzehnten Jahrhundert waren.

Im Moment schlägt dieses Pendel in die rechte Ecke aus: neokonservativ bis nationalchauvinistisch. Links ist lächerlich, Utopien sind obsolet, Alternativler, Ökos und Müslis absolut out. Das irritiert viele Libertäre und macht sie mutlos. Viele treibt es gar in zweifelhafte Nachhol-Karrieren, die dem Idealtypus der jetzigen Mainstream-Gesellschaft besser entsprechen: dem erfolgreichen Yuppie. Aber auch der entpuppt sich rasch als ein leerer Modetrend.

So entmutigend dies alles klingen mag: es gibt für die Libertären zur Resignation eigentlich keinen Grund. Gewiß, sie sind tatsächlich im Moment keine Trendsetter, sie sind sozusagen völlig ›unmodern‹. Aber was bedeutet das? Sind sie die belächelten Fossilien von vorgestern oder schon die Vorboten des Trends von übermorgen?

Denken wir zurück an den Pariser Mai und betrachten ihn durch die Brille der ›Pendeltheorie‹: Die vierziger und fünfziger Jahre waren von ähnlichen Idealen geprägt wie die achtziger und die neunziger: Fleißig, karrierebewußt und angepaßt wurde damals der ›Aufbau‹ betrieben. Heraus kamen gesellschaftliche Verödung, städtebauliche Kata-

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strophen, kulturelle Verarmung und ein allgemeines Unbehagen, gegen das auch der gesteigerte Konsum nicht mehr lange half. Am Ende standen relativ wohlhabende Menschen, die an ihrer Gesellschaft zu zweifeln begannen — bis hin zum kulturellen Ekel. Das Pendel schwang um. Die 60er und frühen 70erJahre bescherten uns eine diffuse Suche nach Gruppe, Gemeinschaft, Geborgenheit, Solidarität — kurz: nach Alternativen. Die Hippie- und Studentenbewegung waren Ausdruck dieser gesamtgesellschaftlichen Suche, die Millionen von Menschen erfaßte und nirgendwo eine Antwort fand.

Nur Anhänger einer mechanistischen Geschichtsauffassung werden glauben, daß sich nun alles genauso wiederholen würde. Aber es spricht einiges dafür, daß die Schicht von Menschen, die derzeit noch dem konservativen Zeitgeistideal anhängt, auch nicht auf ewig von ihrer Illusion wird zehren können. Gerade die Yuppie-Generation ist größtenteils hochqualifiziert und durchaus intelligent. Irgendwann werden immer mehr von ihnen feststellen, daß das Leben doch wohl noch mehr zu bieten haben müßte. Daß es keinen Sinn macht, sich jahrelang für ein schnelles Auto zu verschulden, mit dem man dann täglich im Stau steht... Daß das, was man für die Zahlen auf dem Kontoauszug kriegt, immer weniger wert ist... Daß das Dasein im Urlaubssilo sich nur noch durchs Klima vom Dasein im Silo ›daheim‹ unterscheidet... Daß das durchorganisierte und vorstrukturierte Leben keine Abenteuer gleich welcher Art mehr bietet..., und so weiter. Kurz: daß alles doch recht eigentlich total öde und hübsch sinnlos ist. Der Geruch von Karriere, Freiheit und coolness könnte sich am Ende als eine Illusion herausstellen, die die Werbeindustrie erfolgreich und massenhaft zu verkaufen wußte: Krawattennadel, Parfüm und Haargel. Solche Prozesse kollektiver Ernüchterung können generationsbedingt leicht mit der individuellen Midlife-crisis eines jeden Einzelnen zusammenfallen, was die allgemeine Wirkung nur verstärken dürfte und ihr Auftreten in den nächsten zehn, zwanzig Jahren wahrscheinlich macht.

Nun braucht eine solche Sinnkrise nur noch mit massiven Erschütterungen in Weltpolitik und -ökonomie zusammentreffen — und schon würde aus dem persönlichen Weltschmerz urplötzlich ein tiefer Zweifel am gesamten System. Ganze Bevölkerungsschichten dürften dann in bodenlose Wertekrisen hineinpurzeln, ihre nutzlosen Kreditkarten in Händen halten und staunen. Niemand kann solche Ereignisse voraussagen, und wir haben im geschichtlichen Teil gesehen, daß Krisensituationen meistens kommen, ohne sich vorher anzumelden. Aber solche Konstellationen sind passiert, passieren heute und werden wieder passieren. Spekulative Szenarien dieser Art gibt es viele: etwa ein internationaler "Dominoeffekt" unter Banken nach dem von Fachleuten erwarteten Bankrott der US-Sparkassen oder die Verschärfung des Nord-Süd-Konflikts. Vielleicht die Zinsverweigerung eines quasi-bankrotten Drittweltlandes, die forcierte Massenflucht der Armen in die Metropolen der Reichen oder ein Scheitern des kapitalistischen Umbaus der Länder des Ostens.

Gewiß ist das alles Spekulation. Es handelt sich bei diesem Szenario weder um die Geburtsstunde einer Klassentheorie der Yuppies, noch um eine jener zweischneidigen "Katastrophentheorien". Seine Aussage ist viel bescheidener: Unsere Gesellschaft wird nicht so bleiben wie sie ist, sie wird Erschütterungen erleben. Unser ›Wohlstand‹ ist hohl,

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unsere ›Sicherheit‹ in jeder Hinsicht erlogen und unser Sozialsystem auf Schulden gegründet. Das Pendel wird zurückschwingen, und es gibt Dutzende möglicher Konstellationen, die eintreten können, um einen solchen Prozeß auszulösen und zu beschleunigen.

Was aber würde dann passieren?

Es ist bekannt, daß das System flexibel und klug auf Krisen zu reagieren versteht und ungeahnte Integrationskräfte freisetzen kann. Aber je tiefer die Krise, desto schwieriger eine Gegensteuerung, desto größer die Chance, Alternativen durchzusetzen. Viele Libertäre glauben jedoch, daß eine solche Krise quasi automatisch zu emanzipatorischen Modellen führen würde. Das ist nicht anzunehmen. Ebensogut kann sie in Resignation oder einen Krieg münden, zu einer neuen Religion werden, zu esoterischem Tralala, zu einer vermarktbaren Mode oder zu einer zeitgemäßen Spielart des Faschismus. Dafür, daß sie im libertären Sinne befreiend würde, müßte vorher eine Menge passieren. Automatisch geschieht das nicht.

In dem Moment, wo sich eine "schweigende Mehrheit" verunsichert nach Alternativen umschaut, müßten auch welche da sein. Nicht in Köpfen oder Büchern, sondern im realen Leben. Alternativen, die nicht erst in diesem Moment aus dem Hut gezaubert werden, sondern schon lange existieren und sich bewährt haben. Sie müßten den Menschen geläufig sein und ein gewisses Vertrauen erwecken. Nur dann bestünde die Chance, daß sich Millionen von Menschen — und nicht nur die Minderheiten in den Nischen — plötzlich solchen Alternativen zuwenden und sich ihnen anschließen. Und sei es auch ohne glühende Überzeugung, als Mitläufer oder aus purer Verzweiflung.

Das wäre die große Stunde von Strukturen, wie wir sie im modernen Projektanarchismus kennengelernt haben — der Augenblick, wo sich seine Wurzelwerke zu bewähren hätten und sich auch aktiv handelnd als revolutionierende Kraft einbringen könnten.

Es könnte also sein, daß die Libertären nicht die Fossilien von vorgestern sind, sondern Vorreiter des Trends von übermorgen. Aber Halt, das war ein Szenario, keine Realität! Stünden die Libertären in ihrem heutigen Zustand einer solchen Gesellschaftskrise gegenüber, wären sie vermutlich genauso hilflos wie 1989 beim Bankrott der DDR. Der war eine jener unvorhergesehenen, plötzlichen und großen Möglichkeiten, zu deren Nutzung aber weder ein Konzept noch Strukturen noch irgendwelche nennenswerten Alternativen zur Hand waren. Alles, was die Libertären damals bieten konnten, waren ein paar launische Kommentare in ihrer Presse, die außer ihnen kaum jemand liest.

Wie gesagt: Es gibt Gelegenheiten, den Hebel anzusetzen. Man müßte nur einen Hebel haben!

Im Grunde steht der Anarchismus heute wieder da, wo er zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts schon einmal stand. Während sich das Gros der Bewegung in perspektivlose Abwehrkämpfe verheddert, entwickelt sich zaghaft eine konstruktiv-subversive Alternative, die aber noch keineswegs akzeptiert, vermutlich noch nicht einmal gänzlich verstanden wurde. Ohne solche Alternativmodelle jedoch ist ein Übergang von der Demokratie zur Akratie kaum vorstellbar.

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