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§ 2 

Glaubt denen, die die Wahrheit suchen, zweifelt an denen, die sie finden.

André Gide   wikipedia  Andre Gide   

Wir befinden uns also in einer unentwirrbaren Situation. Die marxistische Kritik des Kapitalismus behält ihre Gültigkeit, und es liegt auf der Hand, daß der Antisowjetismus heute all das an Brutalität, Hochmut, Wahnwitz und Angst versammelt, was seinen Ausdruck bereits im Faschismus gefunden hatte. Andererseits ist die Revolution auf einer Rückzugsstellung erstarrt: während sie den diktatorischen Apparat beibehält und verstärkt, verzichtet sie in ihren Sowjets und in ihrer Partei auf die revolutionäre Freiheit des Proletariats und auf die Aneignung des Staates durch den Menschen. Man kann nicht Antikommunist sein, man kann nicht Kommunist sein."(6)    wikipedia  Maurice_Merleau-Ponty 1908-1961 (53)

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Diese Sätze, die Maurice Merleau-Ponty im Jahre 1947 schrieb, waren lange Zeit charakteristisch für jene kritischen Intellektuellen im Westen, die sich in der Konfrontation der Blöcke ihre geistige Unabhängigkeit zu wahren wußten. Daß dies heute nicht mehr ohne weiteres gilt, hängt nicht nur damit zusammen, daß das Sowjetsystem zerfällt und das historische Experiment des Marxismus-Leninismus an sein Ende kommt.

Neben dem hysterischen, kreuzzüglerischen und in seiner Intoleranz seinem Feindbild in vielem ähnlichen Antikommunismus gab es und gibt es in zunehmender Breite einen intellektuell wohlbegründeten, um Genauigkeit und Gerechtigkeit des Urteils bemühten Antikommunismus, der sich nicht damit begnügt, der elenden Praxis des Kommunismus die Reinheit und Unschuld seiner Theorie entgegenzustellen, sondern in der Theorie selbst dunkle Flecken ausmacht.

Zu diesen dunklen Flecken gehört die Marxsche Kritik der >bürgerlichen< Demokratie und seine pauschale Denunziation der liberalen Ideen als die »feierliche Ergänzung« von Unterdrückung und Gewalt, als »ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund«.(7) Erschien Merleau-Ponty dies noch als »starke Antwort« auf den politischen Liberalismus, geeignet, die Anwendung revolutionärer Gewalt im Namen des Proletariats auch in der Demokratie zu rechtfertigen, so haben wir heute gute Gründe, die Marxsche Position in dieser Frage kritischer zu betrachten.

Zwar ist es historisch richtig, daß der bürgerliche Parlamentarismus wesentlich auch »zur Sicherung des Eigentums« eingeführt wurde und damit »in Wirklichkeit zur Verteidigung der Reichen gegen die Armen«, wie ein so unverdächtiger Zeuge wie Adam Smith nüchtern feststellt.(8)

Aber das bedeutet nicht, daß der politische Liberalismus sich in dieser klassenpolitischen Funktion erschöpft. Inzwischen ist unübersehbar deutlich geworden, daß die Prinzipien der <bürgerlichen> Demokratie keineswegs nur klassengebunden sind, daß sie im Gegenteil eine universelle Bedeutung haben, so sehr, daß in der Tat, wie der französische Historiker Francois Furet es einmal ausgedrückt hat, sich die Französische Revolution heute als die Zukunft der Russischen Revolution erweist. Außerdem haben wir in diesem Jahrhundert immer wieder erfahren, daß revolutionäre Gewalt, die sich nicht auf die Geltendmachung der Prinzipien der Demokratie beschränkt, sondern die soziale und kulturelle Befreiung gewissermaßen im Handstreich vollziehen will, nicht zu mehr Freiheit, sondern zur Verewigung von Gewalt und Unterdrückung führt.

6  Maurice Merleau-Ponty, Humanismus und Terror. Frankfurt/M. 1976, S. 15  
     dnb  Maurice+Merleau-Ponty+Humanismus+und+Terror     F.Furet bei detopia bei <Schwarzbuch des Kommunismus>

7  Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. In: Die Frühschriften, ed. S. Landshut. Stuttgart 1964, S. 208
8  Adam Smith, Eine Untersuchung über Wesen und Ursachen des Volkswohlstands. Jena 1923, S. 404fr. 

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Was heute unter Intellektuellen weithin Zustimmung findet, ist seit eh und je die Überzeugung der oft als reformistisch belächelten und beschimpften Sozial­demokraten.

»Die Demokratie«, hieß es schon bei Eduard Bernstein, »ist Mittel und Zweck zugleich. Sie ist das Mittel zur Erkämpfung des Sozialismus, und sie ist die Form der Verwirklichung des Sozialismus.«9 Dasselbe drückt das Godesberger Programm der SPD knapp und prägnant so aus: »Sozialismus wird nur durch die Demokratie verwirklicht, die Demokratie durch den Sozialismus erfüllt.«

Freilich tat sich der pragmatische Reformismus immer schwer, bei linken Intellektuellen Anerkennung zu finden. Das hing sicherlich auch damit zusammen, daß die Sozialdemokraten nicht immer und überall zu ihren eigenen Prinzipien standen und die Möglichkeiten des reformerischen Weges mutig ausschöpften. Wichtiger aber ist wohl etwas anderes, daß nämlich dem pragmatischen Reformgeschäft die Faszination des Demiurgischen, jene Aura des Heroismus und der unerbittlichen Konsequenz fehlt, die Generationen von Intellektuellen in ihren Bann gezogen hat.

Dies dürfte der Hauptgrund dafür sein, daß die spätestens seit Ende der 70er Jahre öffentlich eingestandene <Krise des Marxismus>10 und die schon lange vorher einsetzende Abkehr linker Intellektueller von den Leninschen und Stalinschen Dogmen sich nicht ohne weiteres zugunsten des prosaischen demokratisch-sozialistischen Projekts auswirken.

Nicht der Antikommunismus ist, wie es in einem von Kommunisten immer wieder gern, aber unvollständig zitierten Wort Thomas Manns heißt, »die Grundtorheit unserer Epoche«, sondern die Unfähigkeit vieler Linker, die Spannung zwischen Utopie und Wirklichkeit auszuhalten, sich den Bedingungen der Verwirklichung ihrer sozialen und politischen Visionen zu stellen und dabei auch jene glanzlose Kleinarbeit in Kauf zu nehmen, die mit jedem wirklichen Fortschritt notwendig verbunden ist.

9  Eduard Bernstein, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie. Berlin/Bonn 1973, S. 178

10 Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang das Referat, das L. Althusser auf dem von der italienischen Gruppe >Il Manifesto< veranstalteten Kongreß <Macht und Opposition in den nachrevolutionären Gesellschaften> im November 1977 in Venedig hielt. Der Text ist nachzulesen in: Alternative Nr. 119, April 1978.

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Die seit langem schwelende tiefe Krise des <wissenschaftlichen Sozialismus>, der sich dem mühsamen Geschäft des Erkenntnisgewinns mittels <trial and error> durch den Sprung in die spekulative Glaubensgewißheit entzog, hat jedenfalls kaum die praktischen Folgen gehabt, die man erwarten sollte, wenn es unter Linken vernünftig zuginge. Statt dessen schreiben auch viele Marxisten, nun da das vorgeblich wissenschaftliche Dogmensystem des Marxismus-Leninismus und das darauf gegründete Herrschaftsgebäude zusammengebrochen sind, feierliche Nachrufe auf den Sozialismus, schwören allem ab, was sie einst für richtig und wichtig hielten und laufen zum <Sieger der Geschichte> über oder flüchten sich in die Pose eines heroischen, vom Lauf der Welt zutiefst enttäuschten Agnostizismus.

Dabei ist die Zeit sozialistischer Heilsgewißheit, genau besehen, schon lange vorbei, der Pakt, den die emphatische Linke mit dem Weltgeist glaubte geschlossen zu haben, längst als ein wertloses Stück Papier enttarnt. Zu bedrückend waren die Ergebnisse der <großen Oktoberrevolution> zu offensichtlich wurde die große Freiheitsverheißung durch die Realität des Sowjetsystems in ihr Gegenteil verkehrt, als daß der Glaube unversehrt bleiben konnte. Das »An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen!« ist ja für eine Theorie, die sich selbst immer als Anleitung zur Praxis verstand, kein unangemessenes Kriterium, und der Blick auf die Praxis war es denn auch, der den ideologischen Bankrott des Marxismus-Leninismus und Stalinismus gründlicher und schneller herbeiführte als alle theoretischen Einwände.

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Der Prozeß der ideologischen Erosion durch die Konfrontation der Theorie mit ihren praktischen Ergebnissen begann bereits mit Rosa Luxemburgs im Jahre 1918 im Gefängnis verfaßter und 1922 erstmals veröffentlichter Schrift <Die russische Revolution>, in der sie, die sich selbst vom Mythos der Revolution und der Massenaktion nie zu lösen vermochte, gegen Lenin den Wert demokratischer Institutionen und die »Freiheit des anders Denkenden« einklagt. Mit sicherem Gespür bezeichnet sie den zentralen Punkt des Leninschen Diktaturkonzepts: die Überzeugung der leninistischen Partei, ein für allemal im Besitz der historischen Wahrheit zu sein.

»Die stillschweigende Voraussetzung der Diktaturtheorie im Lenin-Trotzkischen Sinn«, schreibt sie, »ist, daß die sozialistische Umwälzung eine Sache sei, für die ein fertiges Rezept in der Tasche der Revolutionspartei liege, dies dann nur mit Energie verwirklicht zu werden brauche. Dem ist leider — oder je nachdem: zum Glück — nicht so.«11

Romain Rolland, der mit seinem 1920 erschienenen Roman <Clerambault> ein ergreifenes Plädoyer für Pazifismus und Toleranz hielt, sah ebenfalls Anlaß, sich mit den eifernden revolutionären Wahrheitsbesitzern kritisch auseinanderzusetzen. »Eure Revolution«, läßt er seinen Helden sagen, »hat keinen Raum für den Zweifel. Für euch heiße und harte Herzen, für euch geometrische Gehirne heißt es: alles oder nichts. Nur keinen Übergang! Aber was wäre das Leben ohne Übergänge? Sind sie denn nicht seine Schönheit und seine Güte?«

Auf denselben Punkt zielt die Kritik des Sowjetsystems, die Bertrand Russell im Anschluß an eine Reise in die Sowjetunion im Jahre 1920 veröffentlichte. In seinem Essay <Theory and Practice of Bolshevism> schreibt der britische Philosoph:

»Ich ging nach Rußland als Sozialist, aber die Berührung mit denjenigen, die keine Zweifel hegen, hat meine eigenen Zweifel verstärkt, nicht am Sozialismus selbst, sondern an der Weisheit, einem Glauben derart fest anzuhängen, daß Menschen um seinetwillen bereit sind, vielen anderen Elend zuzufügen.«

11  Rosa Luxemburg, Die russische Revolution. In: Politische Schriften, ed. Ossip K. Flechtheim. Frankfurt/M. — Wien 1968, S. 134
*  (d-2014:)  Die russische Revolution bei detopia       B.Russell bei detopia     wikipedia  Romain_Rolland  1866-1944

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Russell glaubte nicht, wie viele Moskau-Reisende nach ihm, daß es sich bei Diktatur und Terror nur um <Übergangserscheinungen> handele. Er erkannte klar, daß sie die notwendige Folge jener »ungeduldigen Weltanschauung« waren, »die zum Ziel hat, eine neue Welt zu schaffen, ohne die Meinungen und Gefühle der gewöhnlichen Männer und Frauen darauf vorzubereiten.«12

Wer wollte, konnte also sehen, konnte von Anfang an erkennen, daß die Leninsche Praxis und die Leninsche Theorie all den Werten Hohn sprach, für deren Verwirklichung die Sozialisten angetreten waren. Mit dem Mangel an zuverlässigen Informationen allein ist es ganz offenbar nicht zu erklären, daß viele gebildete und intelligente Menschen im Westen auch dann noch an die Humanität und an die welthistorische Mission des bolschewistischen Regimes glaubten, als die Greuel der Kollektivierung der Landwirtschaft bekannt wurden und die ersten Berichte über die Stalinschen Säuberungen vorlagen. Es gab offenbar nicht wenige unter den linken Intellektuellen, die glauben wollten, die ihre Zweifel mit Gewalt erstickten und so intellektuellen Selbstmord begingen.

Gewiß, die Bedrohung der Welt durch den Faschismus konnte die Sowjetunion und die an ihr orientierten Kommunisten als das letzte Bollwerk gegen die Barbarei erscheinen lassen, obwohl der Hitler-Stalin-Pakt zeigte, daß dies keineswegs notwendig so sein mußte, und gewiß haben die unvorstellbaren Verbrechen der Nazis selbst die Bluttaten Stalins eine Zeitlang überschatten können. Dennoch bleibt es ein intellektueller Skandal und ein beunruhigendes moralisches Problem, daß so viele linke Intellektuelle so lange Apologeten eines Regimes sein konnten, das den von ihnen selbst propagierten Wertvorstellungen so brutal zuwiderhandelte.

12  Bertrand Russell, <Theory and Practice of Bolshevism>. 1920. Dt.: Die Praxis und Theorie des Bolschewismus. Darmstadt 1987

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Ich wüßte nicht, was diejenigen zu ihrer Entlastung oder gar Rechtfertigung vorbringen könnten, die bis zuletzt jede Kritik am sogenannten <realen Sozialismus> als Sakrileg ansahen, die weder durch das, was Arthur Koestler, Manes Sperber, Gustav Regler, Czestaw Mifosz, Albert Camus, Milovan Djilas, Bela Szasz, Alexander Solschenizyn und viele andere geschrieben haben, noch durch den Anschauungsunterricht, der durch den Arbeiteraufstand 1953 in der DDR, durch den Ungarnaufstand 1956, durch Prag 1968 und die Solidarnosc-Bewegung in Polen erteilt wurde, in ihrem Glauben zu erschüttern waren. Hoffen wir, daß sie nun wenigstens eine kurze Schamfrist einhalten, sich eine kurze Zeit nachdenklichen Schweigens gönnen, ehe sie im Übereifer der Spätbekehrten uns ihre brandneuen Einsichten verkünden.

Der Zusammenbruch des sowjetischen Herrschaftssystems stellt nicht die große intellektuelle Herausforderung für Sozialisten dar, als die er jetzt manchmal hingestellt wird, denn die Ideologie, die dieses System trug, war für kritische und selbständig denkende Sozialisten seit langem tot. Gleichwohl bieten die dramatischen Veränderungen der jüngsten Zeit Anlaß, Bilanz zu ziehen, das Ideengut des Sozialismus zu sichten und die abgestorbenen Teile von dem zu trennen, was nach wie vor vital und zukunftsträchtig ist. Ohne diese geistige Aufräumarbeit kann die eigentliche Aufgabe, die Skizzierung eines demokratischsozialistischen Projekts, das den Provokationen der nächsten Jahrzehnte standhält, nicht angepackt werden.

* (d-2014:) Bei detopia:  A.Koestler   M.Sperber   A.Camus   A.Solschenizyn

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Versuchen wir also — ohne Anspruch auf Vollständigkeit und systematische Stringenz — zunächst eine knappe Bilanz zu ziehen:

1.
Seit langem schon ist der optimistische Geschichtsdeterminismus, demzufolge am Ende des großen <experimentum mundi> der unausweichliche Sieg des Sozialismus stehe, leere Rhetorik ohne jede Überzeugungskraft. Wem diese Art der Geschichtsmetaphysik nicht von vornherein suspekt erschien, der mußte spätestens seit dem 6. August 1945, dem Tag, an dem die erste Atombombe gezündet wurde, erkennen, daß die Menschheitsgeschichte auch mit der Auslöschung allen Lebens auf der Erde enden kann.

2.
Entsprechendes gilt für die anderen spekulativen Momente der Marxschen Theorie wie die Behauptung einer historischen Mission< des Proletariats, die sehr wenig mit den tatsächlichen Vorstellungen, Gefühlen und Ambitionen der Arbeiter zu tun hat, dafür um so mehr mit der christlichen Symbolik von Kreuzestod und Auferstehung, was man auch daran erkennen kann, daß in der frühen Arbeiterbewegung der Tag der Revolution gern als das >Ostern des Proletariats< bezeichnet wurde.

3.
Ein typisches Produkt des naiv wissenschaftsgläubigen 19. Jahrhunderts ist die Konzeption eines <wissenschaftlichen Sozialismus>, der die Spannung zwischen Werten und Realität leugnet und vorgibt, seine Handlungsanweisungen direkt aus der Analyse der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu gewinnen. Da die behauptete Wissenschaftlichkeit der eigenen Politik aber allzu offensichtlich nicht ausreichte, um Zweifler zu überzeugen, wurde sie durch das Prinzip der Parteilichkeit ergänzt, womit allerdings die entscheidende Voraussetzung für Wissenschaftlichkeit, nämlich der Anspruch auf universelle Geltung, zugleich aufgehoben wurde.

4.
So verfehlt wie die Konzeption eines <wissenschaftlichen Sozialismus> ist auch die darauf fußende Leninsche Parteitheorie und seine theokratische Vorstellung, den Besitz der historischen Wahrheit und nicht die mehrheitliche freie Zustimmung zum Legitimationsgrund von Herrschaft zu erheben.

5.
Endgültig Abschied nehmen sollten Sozialisten von der Vermessenheit, einen <neuen Menschen> politisch-pädagogisch erzeugen zu wollen. Auch die Hoffnung, daß im revolutionären Prozeß sich dieser <neue Mensch> von selbst herausbilde, ist anthropologisch naiv und lerntheoretisch unbegründet.

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6.
Die scheinwissenschaftliche Verelendungstheorie, nach der immer mehr Arbeitende im Kapitalismus immer tiefer in Not und Elend versinken, bis ihnen schließlich gar nichts anderes mehr übrig bleibt, als die Revolution zu vollziehen, sollte mitsamt ihren Umdeutungen und Stützhypothesen endlich einer nüchternen und soziologisch kompetenten Sicht der gesellschaftlichen Wirklichkeit weichen. Eben weil die Arbeiter im Kapitalismus heute in der Regel sehr viel mehr als nur ihre Ketten zu verlieren haben, genügt es nicht, auf den Druck unerträglicher Verhältnisse zu setzen, wenn man die Gesellschaft verändern will; man muß attraktive Alternativen anbieten.

7.
Daß die Veränderung der Produktionsverhältnisse, insbesondere die Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln der alles entscheidende Schlüssel zur Verbesserung der Welt sei, kann heute mit guten Gründen wohl niemand mehr vertreten, selbst wenn man anerkennt, daß die Verfügung einer Partei oder einer Parteielite über die Produktionsmittel eben gerade nicht jene Vergesellschaftung der Produktionsmittel darstellt, von der bei Marx die Rede ist. Geradezu absurd ist es aber, die Entfremdung der Arbeitenden von ihren Produkten dadurch aufheben zu wollen, daß man die Konzentrations- und Zentralisationstendenz des Kapitalismus durch die Verstaatlichung der Produktionsmittel noch übertrumpft.

8.
Nicht weniger absurd ist der von Marxisten-Leninisten immer wieder erhobene Anspruch einer rationalen Planung und Lenkung des gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsprozesses. Hier wird offenbar die Gesellschaft mit einem mechanischen Apparat verwechselt und damit der Lebenszusammenhang von Menschen genau um das verkürzt, was daran das spezifisch Menschliche ist.

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9.
Dieser Planungs- und Lenkungsanspruch scheitert auch dann, wenn er nicht auf die Gesellschaft insgesamt, sondern nur auf ein gesellschaftliches Subsystem wie die Ökonomie gerichtet wird. Der Versuch, die unsichtbare Hand des Marktes durch die sichtbare Hand der Bürokratie zu ersetzen, hat nirgends auch nur einigermaßen befriedigende Ergebnisse erzielt. Offenbar ist der Marktmechanismus sehr viel mehr, als was Marx in ihm sah: ein Entfremdungs­zusammenhang.

10.
Es ist kein Zufall, daß in der politischen Methodik der Marxisten-Leninisten das militärische Vokabular eine so auffällig dominante Rolle spielt. Die Leninisten haben die Marxsche Auffassung, daß »die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft..., die Geschichte von Klassenkämpfen« sei,
13 noch verengt zu der ebenso brutalen wie primitiven Vorstellung, daß jede politische Auseinandersetzung schließlich darauf hinauslaufe, wer wem seinen Willen mit Waffengewalt aufzwinge. Diese quasi-militärische Sicht der Politik ließ Kompromisse nur im taktischen Bereich zu; strategische Kompromisse wie der von den weitgehend sozialdemokratisierten italienischen Kommunisten in den 70er Jahren vorgeschlagene <compromesso storico>, erst recht aber die zum Alltag der parlamentarischen Demokratie gehörende prinzipielle Kompromißbereitschaft demokratischer Parteien können aus diesem Blickwinkel nur als Verrat verstanden werden.

Diese Haltung der kompromißlosen Härte in der politischen Auseinandersetzung verfehlte ihren Eindruck nicht, wenn sie mit der prinzipienlosen Taktiererei mancher bürgerlicher Politiker verglichen wurde. Dennoch handelt es sich hier im Kern um einen barbarischen Rückfall hinter eine der wichtigsten Errungenschaften der Moderne, nämlich die Institutionalisierung einer Kultur des Streits durch die Normen des Rechtsstaats und der Demokratie, einer politischen Rahmensetzung also, die die Destruktivität sozialer und politischer Auseinandersetzungen hemmt, ohne damit zugleich die schöpferische Funktion des Streits zu tilgen.

13  Manifest der Kommunistischen Partei, a.a.O. S. 42

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Viel wäre gewonnen, wenn die Linke insgesamt den hier angeführten alten ideologischen Ballast endgültig abwürfe und sich — wie das die Sozialdemokraten seit langem tun — ohne Wenn und Aber auf die politischen Handlungsmöglichkeiten konzentrierte, die sich in einer modernen Demokratie bieten. Genau an diesem Punkte gibt es aber für viele Linke nicht unerhebliche Sperren und Hemmungen, die vor allem daher rühren, daß sie Idealvorstellungen von den Beziehungen der Menschen in der Gesellschaft hegen, verglichen mit denen jede reale Demokratie zwangsläufig wenig attraktiv erscheinen muß.

Hierher gehört an erster Stelle die keineswegs auf die Linke beschränkte vordemokratische Sehnsucht nach einer vollkommen harmonischen und widerspruchsfreien Welt, nach restloser Aufhebung von Entfremdung, nach einem gesellschaftlichen Zustand völliger Herrschaftslosigkeit. Wo dieser paradiesische Zustand der Maßstab ist, an dem alle Realität menschlicher Beziehungen gemessen wird, kann es leicht dazu kommen, daß der Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur verblaßt, daß der Fortschritt von einer bewaffneten Auseinandersetzung im Krieg zu einem waffenstarrenden Frieden als gänzlich unerheblich betrachtet wird, weil der Abstand zum erträumten Ideal der Versöhnung in jedem Falle unendlich groß erscheint.

Aber nicht der Einwand, daß die Sehnsucht nach vollkommener Harmonie unter Menschen ewig unerfüllbar bleiben muß, ist entscheidend. Entscheidend ist vielmehr, daß ein solcher Zustand, genau besehen, gar nicht erstrebenswert ist, weil er mit den Spannungen und dem Streit auch zentrale Erfahrungen der menschlichen Existenz, die Lust am Kräftemessen, den geistigen Wettbewerb, die Dynamik und Innovationsfähigkeit der Gesellschaft eliminieren würde.

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Es hat nichts mit Resignation zu tun, wenn man anerkennt, daß Demokratie heute notwendig pluralistisch ist, daß sie Streit der Meinungen und Interessen bedeutet, daß sie Herrschaft nicht beseitigen, sondern nur limitieren, daß Entfremdung gemildert, aber nicht aufgehoben werden kann. Umgekehrt könnte das übertriebene Harmoniebedürfnis, das auch bei Teilen der Linken anzutreffen ist, wohl als ein Zeichen von Schwäche, von gestörter Vitalität, mangelnder Lebenslust und Lebensbejahung interpretiert werden.

Freilich, auch was die Demokratie angeht, gibt es für die Linke keinen Grund, sich mit dem Gegebenen abzufinden und alle darüber hinausgehenden Ambitionen aufzugeben. Die Frage ist nur, ob es sich um eine Weiterentwicklung der bestehenden repräsentativen Demokratie, ihre Vertiefung und Erweiterung, ihre Ergänzung durch direktdemokratische Elemente handelt oder um die Durchsetzung einer alternativen Form der Demokratie, von der erwartet wird, daß sie alle Probleme der Verselbständigung von Macht, der Kontrolle und der Bindung an den Willen der Basis, die mit Delegation und vermittelnden Institutionen verbunden sind, auf einen Schlag löst. Auch hier, denke ich, kann das Beharren auf der radikalen Alternative nur zu ohnmächtiger Rechthaberei führen, weil es allzu offensichtlich ist, daß komplexe Gesellschaften nicht in ausschließlich direkter Demokratie organisiert werden können und daß die damit verbundenen Vorstellungen einer Fundamental- und Dauerpolitisierung allein schon aus Gründen der Zeitökonomie, aber auch wegen der >unpolitischen< Bedürfnisse der Menschen und der nichtpolitisierbaren Seiten der Existenz impraktikabel sind.14

Bleibt zu fragen, was nach all der revisionistischem Kritik vom Sozialismus bleibt? Ich denke, daß die Antwort nur lauten kann: das Recht und die Aktualität seiner Grundmotivationen.

14  Vgl. hierzu vor allem Robert A. Dahl, <Und nach der Revolution? Herrschaft in einer Gesellschaft freier Menschen>. 1970

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Daß Freiheit und Menschenrechte für alle gelten sollen und nicht das Privileg der Starken und Leistungsfähigen sein dürfen, daß alle Menschen das Recht haben, ihr Leben nach eigenen Vorstellungen selbständig zu gestalten, und daß dazu die Voraussetzungen zu schaffen sind: also eine gerechte Verteilung von Einkommen, freier Zeit, Bildungschancen, Informationen, Chancen der sozialen, der politischen und kulturellen Teilhabe, daß Demokratie auf Dauer nur Bestand haben kann, wenn sie sozial fundiert wird, wenn sich nicht in wichtigen Bereichen, wie dem der Wirtschaft, Machtballungen herausbilden, die sich der demokratischen Kontrolle entziehen, daß wir Menschen für unsere Mitmenschen verantwortlich sind, daß überall auf der Welt und in allen gesellschaft­lichen Bereichen die Menschen in ihrer Würde zu achten sind — dies sind sozialistische Grundüberzeugungen, die auch heute noch Hoffnung begründen und Orientierung bieten.

 

Es kann gar keine Rede davon sein, daß ein liberalistisches Laissez-faire, das vielbeschworene <freie Spiel der Kräfte>, ausreiche, um das menschliche Zusammenleben auf der Erde zum Wohle aller am besten zu ordnen. Nichts ist offensichtlicher, als daß wir bewußte, verantwortliche, an gemeinsamen Wertvorstellungen orientierte Kooperation brauchen, um den Frieden zu erhalten und die Lebensgrundlagen zu sichern.

Das große sozialistische Thema der Solidarität ist heute aktueller denn je, weil verheerende Fehlentwicklungen, drohende Katastrophen nur noch gemeinsam abgewendet werden können. Wir brauchen praktische Solidarität im Alltag der Menschen und in der Politik, wenn wir den Marsch in die Zwei-Drittel-Gesellschaft stoppen wollen, wenn unsere ärmeren europäischen Verwandten im Osten und im Westen, und erst recht, wenn die Menschen in der sogenannten <Dritten Welt> eine faire Lebenschance bekommen sollen, wenn wir auch künftigen Generationen das Recht zubilligen wollen, in Freiheit und Würde zu leben.

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Daß jeder für sich, die einzelnen, die Völker, sich retten könnten, daß im konkurrierenden Gegeneinander nach den Gesetzen des Marktes oder den Regeln des Faustrechts sich alles doch noch zum Guten wenden ließe, das kann man nur denjenigen weismachen, die die Probleme nicht sehen wollen. Die großen Probleme unserer Zeit verlangen kollektive Lösungen, Lösungen also, die ihrer Natur nach eher sozialistisch denn liberalistisch sind. Das ist beim Umwelt­schutz nicht anders als bei der Bewältigung von Arbeitslosigkeit und sozialer Not.

Dies gilt, ceteris paribus, auch für die über- und internationalen Problemverflechtungen. Der Kampf der Völker und Staaten ums Überleben hat nicht mehr als Kampf, sondern nur noch in der Form der Kooperation eine Chance auf Erfolg. Das Konzept der Sicherheitspartnerschaft beruht zum Beispiel auf dieser Einsicht, daß nämlich Sicherheit sich nicht mehr gegeneinander errüsten, sondern nur noch miteinander organisieren läßt. Ein Stück notwendiger, weil die Not der Zeit wendender konkreter Utopie, das schon heute allen Widerwärtigkeiten zum Trotz seine praktische Wirkung zu entfalten beginnt.

Allerdings:

Alle diese kollektiven Regelungen müssen von der Art sein, daß sie das Recht des einzelnen, seine Würde, seine Individualität respektieren, daß sie die Vielfalt nicht einebnen, sondern den individuellen und gruppenspezifischen Unterschieden Entfaltungsraum lassen. In den hochindustrialisierten Gesellschaften ist heute die Notwendigkeit großgesellschaftlicher und staatlicher Regelungen bei vielen Menschen nicht mehr unmittelbar plausibel.

Das hat viele Gründe: die Bürokratisierung von Staat, Parteien und Gewerkschaften und die weit über das organisationssoziologisch unvermeidbare Maß hinausgehende Beschränkung von Selbst- und Mitbestimmung in den großen Kollektiven; die den Bedürfnissen der Menschen, ihren Ängsten und Hoffnungen zuwiderlaufenden Planungen, die von Habermas so genannte »Kolonialisierung der Lebenswelt«, aber auch die Gegenbewegung der auffälligen Differenzierung der Lebensstile und der fortschreitenden Individualisierung beziehungsweise kleingemeinschaftlichen Separierung. In einer solchen Lage sind die notwendigen kollektiven Lösungen nur durchsetzbar, wenn sie aus umständlichen und zeitraubenden partizipatorisch organisierten Bewußtseins- und Willens­bildungs­prozessen erwachsen und in hohem Maße den unterschiedlichen Bedürfnissen, Erfahrungen, Bewußtseinslagen der Menschen Rechnung tragen.

Jürgen Habermas trifft das Problem, wenn er sagt:

»Der Glaube an Subjekte im Großformat und an die Lenkung großer Systeme ist zerfallen. Sogar soziale Bewegungen sind heute ein Motor für Vervielfältigung und Individualisierung. Aber das Lob der Vielheit, die Apologie des Zufälligen und Privaten, die Feier von Bruch, Differenz und Augenblick, der Aufstand der Randgebiete gegen die Zentren, das Aufgebot des Außerordentlichen gegen die Trivialität — das alles darf nicht zur Ausflucht werden vor Problemen, die, wenn überhaupt, nur bei Tageslicht, nur kooperativ, nur mit den letzten Tropfen einer beinahe ausgebluteten Solidarität gelöst werden können15

Kein Zweifel, die Idee des Sozialismus hat heute einen großen Teil ihrer alten Faszination eingebüßt. Die emphatischen Hoffnungen, die einst daran geknüpft wurden, sind an der elenden Wirklichkeit, die in ihrem Namen aufgerichtet wurde, weitgehend zerbrochen. Als Reservoir dogmatischer Gewißheiten und daraus abgeleiteter Heilsversprechen ist der Sozialismus passe. Aber als »eine Geisteshaltung..., die den Menschen als ein Gemeinschaftswesen versteht, als ein Wesen, das die in seiner Natur liegenden Möglichkeiten nur in Gemeinschaft verwirklichen kann«,16 ist er wichtiger denn je.

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Fußnoten

15  Jürgen Habermas, Die neue Intimität zwischen Politik und Kultur. In: Rüsen/Lämmert/Glotz (Hg.), Die Zukunft der Aufklärung. 1988, S. 66

16  Hans Sachsse, Was ist Sozialismus? München 1979, S. 9

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