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§ 4

 

Sich gegen Diebe, die Kisten aufbrechen, Taschen durchsuchen, Kästen aufreißen, dadurch zu versichern, daß man Stricke und Seile darum schlingt, Riegel und Schlösser befestigt, das ist's, was die Welt Klugheit nennt. Wenn nun aber ein großer Dieb kommt, so nimmt er den Kasten auf den Rücken, die Kiste unter den Arm, die Tasche über die Schulter und läuft davon, nur besorgt darum, daß auch die Stricke und Schlösser sicher festhalten. So tut also einer, den die Welt einen klugen Mann nennt, nichts weiter, als daß er seine Sachen für die großen Diebe beisammenhält. (Dschuang-Dsi, ca. 300 v. Chr.)

 

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Zu den frappierendsten Phänomenen, die durch den Zusammenbruch der poststalinistischen Systeme in Mittel- und Osteuropa ans Tageslicht kamen, gehört der Sicherheitswahn, in dem die herrschenden Eliten lebten, die ungeheuren Anstrengungen, die unternommen wurden, die Gesellschaft bis in die letzten Winkel hinein auszuspähen und zu kontrollieren, die fanatische Akribie, mit der Herrschaftswissen gesammelt, mit der Kritiker drangsaliert oder korrumpiert, potentielle Staatsfeinde nach Möglichkeit vorbeugend unschädlich gemacht wurden.

Nichts hätte deutlicher machen können, daß diese Eliten sich der mangelnden Legitimation ihrer Herrschaft und der wachsenden Kluft zwischen ihnen und dem Volk aller anderslautenden offiziellen Rhetorik zum Trotz sehr wohl bewußt waren. Nichts hat jene Gesellschaften, ihre Menschen, ihre Kultur so nachhaltig traumatisiert wie die Allgegenwart jenes wahnhaften Spitzelsystems, mit dem die Eliten glaubten, sich gegen alle demo­kratischen Risiken absichern zu können.

Wie tief die Zerstörungen reichen, die ein solches Sicherheitssystem in der Gesellschaft verursacht, ist in den Diskussionen um die Verstrickung von Politikern der ehemaligen DDR-Opposition in die Machenschaften der Staatssicherheit besonders deutlich geworden. Allerdings neigen wir dazu, anzunehmen, daß die Destruktivität solcher Sicherheitssysteme allein daher rühre, daß sie gegen die Menschen und nicht zu ihten Gunsten eingesetzt wurden, daß sie nicht das Volk vor Gefahren, sondern die Regierung vor dem Volk beschützen sollten.

Aber das ist eine Täuschung. Zwar sind die hier angewandten Instrumente und Methoden in den Händen einer diktatorischen Clique um vieles schlimmer als in den Händen einer demokratisch kontrollierten Regierung; aber harmlos sind sie auch im letzteren Fall nicht. Ja, es scheint so zu sein, daß der moderne Perfektionismus der Staatssicherheit letztlich mit Demokratie und Bürgerfreiheit unvereinbar ist.

Uns interessiert aber nicht speziell die Frage der Staatssicherheit, sondern das allgemeinere Problem, das sich dahinter verbirgt, die Frage nämlich, ob dem modernen Sicherheitsstreben nicht generell ein destruktiver Zug anhaftet, ob nicht auch der in bester humanistischer Absicht betriebene Sicherheits­perfektionismus letztlich lebens- und freiheitsfeindlich ist, sich als <destruktives Ideal> erweist.28

Natürlich ist dies keine Frage, die sich ausschließlich an Sozialisten richtet; allzu offensichtlich ist das grassierende Sicherheitsbedürfnis der Konservativen, ihre neurotische Angst vor Veränderungen, ihr eingefleischtes Mißtrauen gegenüber den spontanen Regungen des Volkes, ihre Vergötterung von Ruhe und Ordnung. Vielmehr stoßen wir hier auf eine der vielen Aporien der rationalistisch-aufklärerischen Kultur, die über Wissenschaft, Technik und Ökonomie tief in unser Alltagsleben eingedrungen ist und mit der alle gegenwärtigen politischen Strömungen in unterschiedlichen Graden verwachsen sind.

Für den Sozialismus wird die Frage nach der Destruktivität des modernen Sicherheitsideals bedeutsam, wo er das moderne Pathos der Selbstbestimmung aufgreift und es zugleich im Sinne einer bewußten, den Zufall möglichst ausschaltenden Lebensplanung und -gestaltung, der Überwindung des <Schicksals> durch Vorwissen und Vorsorge uminterpretiert.

In den ersten Jahren der Russischen Revolution gab es emphatische Anhänger der Bolschewiki, die die <Überwindung des Todes> zum Programm erhoben.

28  Dieses Kapitel ist in weiten Teilen eine Wiederaufnahme von Gedanken, die in meinem Essay <Sicherheit als destruktives Ideal> enthalten sind.
In: <Der Traum der Vernunft; Vom Elend der Aufklärung>. Darmstadt 1986.

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Zwar findet sich heute wohl kaum noch jemand, der der modernen Wissenschaft einen solchen <Triumph> zutraute, aber unleugbar ist, daß der Tod auch heute für das Projekt einer streng rationalen Planung und Gestaltung des Lebens einen Skandal erster Ordnung darstellt und daß er es bleiben muß, solange der Drang nach perfekter Absicherung des Lebens gegen alle denkbaren Risiken in unserer Kultur eine derart dominante Rolle spielt, wie dies seit einigen Jahrhunderten, offenbar mit steigender Tendenz, der Fall ist. 

detopia-2019: Die Bio-Gen-Technik schuf neue Ansätze  =>  wikipedia  Aubrey_de_Grey  => Ich bin natürlich als 'echter Utopist' - natürlich - dagegen. 

Sicher ist, daß die Menschen nie in ihrer Geschichte gewaltigere Anstrengungen unternommen haben, um sich gegen Krankheit, Not, Unfälle, Diebstahl, Gewalt, Subversion und kriegerische Aggression zu sichern. In den meisten westeuropäischen Ländern verspricht ein dichtes Netz sozialer Sicherungen nahezu allen Einzelpersonen und Gruppen Schutz gegen nahezu alle Risiken. Polizei und Verfassungsschutz, die Organe der Inlands- und Auslands­aufklärung sind mit modernstem Gerät ausgestattet, verfugen über subtile Observations- und Fahndungstechniken. Spezialtrupps zur Terroristen­bekämpfung stehen Tag und Nacht in Bereitschaft.

Objekt- und Personenschutz rund um die Uhr sind zur Routine geworden. Ständig steigende Ausgaben für die militärische Verteidigung sollen uns vor Angriffen von außen schützen. Die detaillierten Bestimmungen unseres Rechtssystems lassen kaum etwas ungeregelt.

Eine blühende und ständig expandierende Sicherheitsindustrie ergänzt das staatliche Angebot. Offenbar lassen sich mit dem Verkauf von Sicherheit glänzende Geschäfte machen. Die Hersteller von Safes, Alarmanlagen, von Gaspistolen und anderen Waffen melden Rekordumsätze. Wer sich zu den Spitzen in Staat und Gesellschaft zählt, fährt im gepanzerten Spezialauto. Jedes größere Unternehmen hat einen Werkschutz. Sicherheits­berater, Privatdetektive und Body Guards bieten ihre Dienste an.

Kurse in Selbstverteidigung haben regen Zulauf, und wer ganz sicher gehen will, baut sich einen atombombensicheren Bunker im Garten hinter seinem Bungalow.

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Ganze Bibliotheken ließen sich füllen mit Kompendien über Sicherheitstechnik, Sicherheitsrecht, über Risikoberechnung und Risikovermeidung, über Brand-, Diebstahl-, Katastrophenschutz und über das Versicherungswesen. Heere von Beamten und Angestellten plagen sich und andere mit Vorschriften über die Sicherung von Baustellen, Gleisanlagen, Mülldeponien, über Arbeits-, Jugend- und Seuchenschutz, über den Schutz der Gewässer vor dem Menschen und der Menschen vor verseuchtem Wasser.

Wer würde es wohl wagen, all diese imponierenden Sicherheitsleistungen einfach für überflüssig zu erklären oder, was mehr wöge, auf ihre Inanspruchnahme zu verzichten? In der Regel genügt der Hinweis auf die vielfältigen Gefahren in unserer modernen Welt, um sie allesamt gerechtfertigt erscheinen zu lassen: die Gefahren der Technik, des Straßenverkehrs, die sozialen Probleme, Kriminalität, Terrorismus, die militärische Bedrohung. Angesichts wachsender Gefährdungen sind verstärkte Anstrengungen für unsere Sicherheit schlicht plausibel.

Wer bei der Suche nach den Gründen für die Explosion der Sicherheitsleistungen nicht tiefer dringt, landet unausweichlich bei der Forderung nach noch mehr und noch perfekteren Sicherheitsvorkehrungen. Gestritten wird dann allenfalls darüber, wo zunächst und vordringlich investiert werden soll: in die Rüstung, in die Polizei, in den Zivilschutz oder eher in die soziale Sicherung, den Unfall- und Umweltschutz. Das erstere gilt gemeinhin als <rechte>, das letztere als <linke> Position.

 

Dabei gilt auch in puncto Sicherheit, daß Optimierung und Maximierung keineswegs dasselbe sind. Zwar können Menschen sich ohne ein gewisses Maß an Sicherheit nicht frei entfalten; insofern kann die organisierte Entlastung von Risiken tatsächlich ein Gewinn an Freiheit sein. Aber hieraus folgt keineswegs, daß die ständige Perfektionierung der Sicherheitssysteme immer günstigere Bedingungen für die Entfaltung eines freien gesellschaftlichen Lebens schüfe.

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Der dem Pathos der Moderne so sehr widerstrebende Gedanke des rechten Maßes, auch wenn dies im Einzelfall schwer zu bestimmen ist, könnte hier wie anderswo hilfreich sein. Wenn freilich in unserer Gesellschaft gegen übertriebenes Sicherheitsdenken polemisiert und größere Risikobereitschaft gefordert wird, handelt es sich zumeist um taktische Manöver im Interessenkampf. Unternehmerverbände tarnen mit solch grundsätzlicher Argumentation ihre Versuche, eine Kürzung der Sozialhaushalte und eine Steigerung der Investitionshilfen durchzusetzen.

Wirtschaftsminister machen gelegentlich auf diese Weise deutlich, daß sie von den Unternehmen mehr Investitionen erwarten, oder Finanzminister, daß sie zu weiteren Subventionen nicht bereit sind. Neoliberale und Monetaristen versuchen mit solchen Tönen, ihrem Eintreten für mehr Markt und für die Privatisierung öffentlicher Leistungen eine philosophisch-kulturelle Weihe zu geben. Kaum je ist unter den Lobrednern auf Risikobereitschaft und Lust am Abenteuer einer, der sein Schäfchen nicht schon im trockenen hätte. Das macht es zusätzlich schwer, über diese Dinge einigermaßen unvoreingenommen zu diskutieren.

Dabei sind die Widerhaken am modernen Sicherheitskonzept gar nicht so schwer zu erkennen. Ein Staat, der alles daran setzt, jede mögliche Gefährdung der <freiheitlichen Ordnung> schon im Keim zu ersticken und zu diesem Zweck ein möglichst perfektes System des Verfassungsschutzes aufbaut, vernichtet — auch wenn er dies alles in bester demokratischer Absicht tut — als erstes die Freiheit selbst. 

Die ständige Perfektionierung der militärischen Sicherheit wird auf die Dauer, wie die moderne Waffenentwicklung zeigt, selbst zu einer tödlichen Gefahr.

Die Tendenz unseres Rechtssystems, möglichst jeden denkbaren Tatbestand eindeutig zu regeln, damit Zweifel und Unsicherheit beseitigt werden, führt dazu, daß die Bürger ohne die Anleitung durch Experten in immer mehr Situationen rettungslos verloren sind, daß also Abhängigkeit und Unsicherheit wachsen.

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Je mehr wir uns zur risikofreien Bewältigung des Alltags große private und öffentliche Leistungssysteme verfügbar machen, desto mehr liefern wir uns den Apparaten aus und sind, wenn die komplizierten und störanfälligen Systeme einmal versagen, unfähig, uns selbst zu helfen.

Jeder Mangel im System ist für die Fachleute allerdings nur ein Grund, noch perfektere Systeme zu ersinnen, die jedes Versagen ausschließen sollen. Die Fachleute glauben an die Systeme und mißtrauen den Menschen. Ihr Rat lautet immer gleich: Delegiert eure Entscheidungsfreiheit an die Apparate; die entscheiden objektiv, unbestechlich, fehlerlos; dadurch allein gewinnt ihr optimale Sicherheit. In der Tat entlastet uns die Verlagerung der Verantwortung von den Menschen auf die Apparate von quälender Unsicherheit, von der Qual der Wahl, von täglicher Sorge und Vorsorge. Aber gleichzeitig liefert sie uns immer gründlicher fremden, anonymen Mächten aus. Erst wenn etwas schiefgeht und Schwächen und Lücken im System sichtbar werden, erkennen wir unser Ausgeliefertsein. Dann erfaßt uns Panik, die fast zwangsläufig in den Ruf nach der Perfektionierung des Systems mündet. Aber die Perfektionierung des Systems erhöht zugleich unsere Abhängigkeit von ihm. So wird Sicherheit zum destruktiven Ideal.

Neu ist nicht das Problem, sondern seine Radikalität. Denn zweifellos haben die Menschen schon immer um der Selbsterhaltung willen Sicherheitsvorkehrungen getroffen, und bereits in den frühesten Stadien der Menschheitsgeschichte beruhten diese auf kollektiven Anstrengungen, die den einzelnen den Zwängen der <Organisation> unterwarfen. Ebenso unbezweifelbar ist es, daß vom ersten Aufdämmern des Ich-Bewußtseins an der Mensch sich seiner Freiheit und Sterblichkeit bewußt wurde und danach trachtete, sein Handeln und Sein in die Ordnung eines <Gesetzes> einzufügen, den Tod in einen sinnhaften kosmischen Zusammenhang zu stellen und so <Sicherheit> zu gewinnen.

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Magische Rituale, die Götter gnädig stimmende Opfer, der Sprung in die Glaubensgewißheit, die Errichtung philosophischer Systeme und Dogmengebäude, die Flucht aus dem Getriebe der Welt in die rigide Ordnung des Klosters, ja, selbst die Unterwerfung unter den Befehl eines absoluten Herrschers — all dies sind unter anderem Techniken der Bewältigung von Angst und der Gewinnung von Sicherheit. Kein Zweifel also, daß das Streben nach Sicherheit in der Natur des Menschen angelegt ist.

Aber um die Radikalisierung des Sicherheitsproblems in der Moderne zu verstehen, genügt es nicht, allein diese anthropologische Seite des Problems zu betrachten. Vielmehr muß den historischen Ursachen für die Verschärfung des Problems nachgegangen werden. Und dabei stoßen wir auf seine enge Verknüpfung mit dem in Humanismus und Aufklärung wurzelnden Fortschrittsprozeß, dem auch die Linke ihre zentralen Impulse verdankt. Jean Delumeau hat in seiner umfassenden Studie über die Geschichte kollektiver Ängste in Europa29 gezeigt, daß entgegen der landläufigen Meinung nicht das Mittelalter, sondern das Zeitalter der Renaissance und des Humanismus von geradezu wahnhaften Bedrohungsängsten und einem hysterischen Sicherheitsbedürfnis der Eliten gekennzeichnet war, was ganz wesentlich zur Herausbildung des Absolutismus beigetragen haben dürfte. Nach vorübergehender Beruhigung nimmt die <Angst im Abendland> offenbar im Aufklärungszeitalter wieder zu, was unter anderem an dem Phänomen der <Grande Peur> zu Beginn der Französischen Revolution deutlich wird. Für Adorno und Horkheimer ist die Aufklärung selbst nichts anderes als »die radikal gewordene mythische Angst«.30

 

29  Vgl. Jean Delumeau, Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhundert. Reinbek 1985

30  Adorno + Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. 1969, S. 22

* (d-2014:)  T.Adorno bei detopia 

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Diese Angst äußert sich den Autoren zufolge in dem überhandnehmenden Streben nach theoretischer Gewißheit und praktischer Absicherung der Existenz. Das Dunkel, den mythischen Bereich des Ungewissen, gilt es restlos auszuleuchten, Zwielicht darf nicht geduldet, Ambivalenzen müssen in lauter Eindeutigkeiten aufgelöst werden. Eh nicht der letzte Zweifel, die letzte Unsicherheit beseitigt ist, kann der neuzeitliche Geist keine Ruhe finden, ist er stets auf der Flucht nach vorn, auf der Flucht vor den Mächten der Finsternis ins Licht der wissenschaftlichen Weltbewältigung.

Auch wenn diese Anmerkungen von Adorno und Horkheimer nicht für die ganze Breite der Aufklärung, insbesondere nicht für die skeptische Gelassenheit und weise Selbstbescheidung der frühen Aufklärer von Montaigne bis Voltaire gelten und die von den beiden Autoren vorgenommene Zuordnung des hypertrophen Sicherheitsbedürfnisses zur bürgerlichen Klassenlage eher fragwürdig ist, so haben sie doch einen wichtigen Grundzug der Moderne herausgearbeitet.

Überall, wo die moderne Lebensweise Fuß faßt, wird theoretische Gewißheit zum Mittel der praktischen Unterwerfung der Natur. Die Welt in all ihren Erscheinungen soll verfügbar, kontrollierbar, beherrschbar sein. Die Radikalisierung des wissenschaftlich-technischen Zugriffs auf die Natur macht von Anfang an auch vor dem Menschen nicht halt. Auch seine bedrohlich chaotische Natur gilt es zu zivilisieren, zu kontrollieren, zu disziplinieren, zu manipulieren. Von der pädagogischen Besessenheit älterer und neuerer Aufklärer über die modernen Erziehungsdiktatoren und Sozialhygieniker bis hin zu den phantastischen Plänen einer genetischen Veränderung des Menschen führt eine Linie theoretischer und praktischer Befassung mit der menschlichen Natur, die Selbstgewißheit und Selbstsicherheit nur dadurch meint gewinnen zu können, daß sie das dominium hominis im technischen Sinne auch auf die Menschen, ihre Triebe, ihre Phantasien, ihre Erbanlagen ausdehnt.

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Es wird hier deutlich, daß die Gefahr des Totalitarismus in der Ambivalenz des Projekts der Moderne selbst angelegt ist. Da aber Linke wie Rechte in dieser Hinsicht allesamt auf demselben trügerischen Boden stehen, wäre es unredlich, so zu tun, als handle es sich hier ausschließlich um ein Problem der jeweils anderen Seite. Und auch demokratische Sozialisten sollten nicht den Eindruck erwecken, daß sie das Problem allein schon dadurch gelöst hätten, daß sie sich zur Demokratie bekennen und im Rahmen der parlamentarischen Demokratie agieren. Solange wir nicht gelernt haben, unser Leben so zu organisieren, daß wir mit einem geringeren Aufwand an Sicherheitsleistungen auskommen, solange wir dem Ruf nach umfassender Absicherung gegen alle Lebensrisiken nur mit der immer weiter getriebenen Perfektionierung der Sicherheitssysteme begegnen, sind wir stets in Gefahr, Freiheit und Demokratie zu verspielen.

Erst wenn wir den Ursachen des inflationären Sicherheitsstrebens genauer auf den Grund gehen, erst wenn wir erkennen, daß Problemerzeugung und Problemlösung Teile desselben, voreilig zum >Fortschritt< erklärten Prozesses sind, eröffnet sich uns ein Weg, auf dem wir der Faszination durch das destruktive Sicherheitsideal entrinnen können.

Daniel Frei hat in einer Studie zum Thema <Sicherheit> fünf Gründe für das explosionsartige Anwachsen des Sicherheitsstrebens in der modernen Industriegesellschaft angeführt:

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Wenn Frei recht hat, dann müssen wir die Struktur und Dynamik der Industriegesellschaft und die Form unseres Zusammenlebens tiefgreifend verändern, um unser Sicherheitsproblem, wenn schon nicht zu lösen, so doch wenigstens so abzumildern, daß es nicht zum entscheidenden Freiheitsproblem der Gegenwart wird. Folgt man seinem Fingerzeig, so stellen sich praktische Aufgaben der Reform, die sich auch in der Ökologiedebatte als dringlich herausgestellt haben: organisatorische Dezentralisierung, Reduzierung der Abhängigkeit von Fremdleistungen durch Stärkung der Selbsthilfekompetenz, Herausbildung eines neuen Techniktyps nach sozialen und ökologischen Parametern, bewußte Begrenzung des wissenschaftlich-technischen Zugriffs auf die außermenschliche und menschliche Natur, Rückbesinnung auf die soziale Produktivität kleinerer Einheiten in einem Raum der Öffentlichkeit, der die Spannung des Anderssein aushält.

Freilich wird eine solche grundlegende Veränderung unserer Lebensweise nur von Menschen geleistet werden können, die gelernt haben, sich auf sich selber zu stellen, die ihre Endlichkeit akzeptieren und sich nicht länger gegen jene existentielle Unsicherheit auflehnen, die, wie Frei zurecht betont, »nichts anderes als der Spielraum der Freiheit« ist. Unser übersteigertes Sicherheitsbedürfnis ist letztlich Ausdruck einer doppelten Angst: der Angst vor dem Tod und der Angst vor der Freiheit.

Der »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit« verlangt, wie Kant richtig sah, nicht nur Einsicht, sondern auch Mut: Aude sapere! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!

Schütze nicht aus Angst vor der Freiheit einen Befehlsnotstand vor, verstecke dich nicht hinter persönlichen Autoritäten, hinter dem Weltgeist, hinter der Partei oder hinter Sachzwängen! Übernimm die Verantwortung für dein eigenes Leben, das ein endliches ist.

31    Daniel Frei, Sicherheit. Grundfragen der Weltpolitik. Stuttgart 1977, S. 9f.

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Allerdings gehört zum Akzeptieren der condition humaine auch, daß der Mensch sein Angewiesensein auf andere erkennt. Nur in der Gemeinschaft mit anderen sind wir lebensfähig, und je mehr Selbstsicherheit wir besitzen, um so produktiver können wir den Austausch mit anderen Menschen gestalten. <Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser> lautet ein Lenin-Wort, das bezeichnenderweise auch von entschiedenen Gegnern des Leninismus immer wieder gern und zustimmend zitiert wird. In diesem Punkt scheint man sich über alle ideologischen Gräben hinweg einig zu sein. Aber wir erfahren täglich, daß der Kontrolle Grenzen gesetzt sind, daß mehr Kontrolle keineswegs immer mehr Sicherheit schafft, und die perfekte Kontrolle — daran kann es keinen Zweifel geben — wäre zugleich die perfekte Unfreiheit.

In Würde und Freiheit können wir nur leben, wenn wir Lebensformen bewahren und neu entwickeln, in denen die Menschen Vertrauen zueinander haben können. Das gilt besonders für die kleinen Lebensgemeinschaften, das gilt aber in gewisser Weise auch für die großgesellschaftlichen, staatlichen, ja, sogar für die überstaatlichen Lebenszusammenhänge. Demokratie setzt ein Mindestmaß an institutionalisiertem Mißtrauen, setzt Kontrollen, eine kritische Öffentlichkeit voraus. Aber zugleich könnte auch sie ohne die Ressource Vertrauen nicht auskommen. Wer glaubt, dieses natürliche Band menschlicher Gemeinschaft vollständig durch institutionalisierte Kontrolle ersetzen zu können, verfängt sich in den Aporien des rationalistischen Sicherheitsdenkens und setzt am Ende Freiheit und Demokratie aufs Spiel.

Erst wenn wir uns der Faszination jenes naiven Szientismus entzogen haben, der den Menschen versprach, sie mit Hilfe technischer Vorkehrungen über die condition humaine hinauszuheben, werden wir durch die skeptische Relativierung des wissenschaftlich-technischen Projekts das erforderliche Maß an Lebensklugheit und Selbstsicherheit zurückgewinnen können, das es uns möglich macht, auf die freiheitszerstörende Perfektionierung der Systemsicherheit zu verzichten.

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