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§ 5

 

Der Mensch ist deswegen mit Verstand und Schaffenskraft begabt, um das, was ihm gegeben wurde, zu vervielfältigen, aber bis jetzt hat er sich noch nicht an das Schaffen gemacht, sondern immer nur zerstört. Die Wälder werden weniger und weniger, die Flüsse trocknen aus, das Wild zieht fort, das Klima wird verdorben, und mit jedem Tage wird die Erde immer ärmer und häßlicher.  (Anton Tschechow, Onkel Wanja)

 wikipedia  Onkel_Wanja  (1896)    wikipedia  Anton_Pawlowitsch_Tschechow  (1860-1904)    

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Gemeinsam verstehen wir den Menschen als Vernunft- und Naturwesen, als Individual- und Gesellschaftswesen. Als Teil der Natur kann er nur in und mit der Natur leben. Seine Individualität entfaltet er nur in Gemeinschaft mit seinen Mitmenschen." Diese Passage aus dem neuen, dem Berliner Programm der deutschen Sozialdemokraten wäre nichts weiter als eine Aneinanderreihung von Banalitäten, wenn in der modernen, <westlichen> Kultur eben diese Banalitäten nicht in einem erstaunlichen Maß übersehen, verdrängt und mißachtet würden.

Nicht nur, daß in einer Welt, in der die Menschen immer unentrinnbarer aufeinander angewiesen sind, kraß individualistische Ideologien immer noch, teilweise sogar mehr als je zuvor, das Denken und Handeln der Menschen bestimmen, wir haben uns auch an eine Lebensweise und eine Form des Wirtschaftens gewöhnt, die auf Dauer mit den Naturbedingungen menschlichen Lebens völlig unvereinbar ist.

Erst seit kurzem ist das Wort <Ökologie> Bestandteil unserer Alltagssprache. Es bezeichnet den komplexen Lebenszusammenhang der Natur, an den auch der Mensch trotz seiner vernunftgeleiteten Höhenflüge gebunden bleibt, einen Lebenszusammenhang, von dem wir heute wissen, daß er nicht ein für allemal als selbstverständlich gegeben vorausgesetzt werden darf, daß er vielmehr durch menschliches Tun zerstörbar ist.

Die Erde, die unseren Großeltern, vielleicht noch unsern Eltern praktisch unendlich erschien, offenbart uns ihre Endlichkeit und damit auch die Grenzen jenes technisch-ökonomischen Expansionsprozesses, der die Basis all dessen ausmacht, was wir <Fortschritt> nennen. Zu all den narzißtischen Kränkungen, die dem modernen Menschen zugefügt wurden, kommt nun auch noch die unabweisbare Erkenntnis hinzu, daß unserem Expansionsgelüst Grenzen gesetzt sind, daß der prometheische Plan der technischen Reproduktion des Lebenszusammenhangs nicht gelingen kann.

Der Schock sitzt tief, tiefer, als die meisten zugeben wollen, und weil uns noch die Sprache fehlt, unsere wirkliche Lage zu bezeichnen, nehmen wir (mit Kenneth Boulding und Buckminster Fuller) Zuflucht zu einer Metapher aus der Traumwelt der Technik und sprechen beklommen vom <Raumschiff Erde>.

Aber es ist nicht nur die Endlichkeit unseres Planeten, die uns an der Weisheit des herkömmlichen Fortschrittskonzepts zweifeln läßt. Es wächst auch der Verdacht, daß die Opfer, die die Menschen zu bringen haben, damit der Fortschritt weitergehe, seine Wohltaten zu überwiegen beginnen. Mit Schrecken werden immer mehr Menschen gewahr, daß wir nicht nur unsere natürlichen Lebensgrundlagen zerstören, daß es uns auch immer weniger gelingt, eine dem Menschen angemessene <soziale Umwelt> zu organisieren, daß der technisch-ökonomische Fortschritt, wie er von Europa aus die Welt erobert hat, zu einem System von Sachzwängen geführt hat, das schließlich Demokratie, Menschlichkeit und Freiheit zerstören könnte.

Fortschritt — das ist nicht mehr zu übersehen — kann Rückschritt bedeuten, Machtzuwachs mit erhöhter Abhängigkeit einhergehen, Steigerung der Produktion unter dem Strich zu Verarmung führen. Die großen Freiheitshoffnungen, die der neuzeitliche Mensch mit der Erweiterung technischer Naturbeherrschung verband (und die sich über viele Jahrzehnte hinweg im großen und ganzen zu bestätigen schienen), geraten ins Wanken. Daß die Perfektionierung des menschlichen Zugriffs auf die Natur, daß die immer weitere Steigerung von Produktion und Konsum der Königsweg zu Glück und Freiheit sei, vermögen — jedenfalls in den reichen Industriegesellschaften des Westens — immer weniger Menschen zu glauben.

Die sozialen Grenzen des Wachstums, auf die der amerikanische Ökonom Fred Hirsch hingewiesen hat,32 setzen zunehmend das kapitalistisch-industrial­istische Prinzip Hoffnung außer Kraft, demzufolge der Elitekonsum von heute der Massenkonsum von morgen sei. 

32 Fred Hirsch, Social Limits of Growth. Cambridge/Mass. 1976, London 1977. Dt.: Die sozialen Grenzen des Wachstums. Reinbek 1981 
* (d-2014:)  wikipedia  Kenneth Boulding  1910-1993;  wikipedia  Richard Buckminster Fuller  1895-1983

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Und wir werden auf die einfache Wahrheit gestoßen, daß Bearbeitung von Materie und Energieumwandlung, das also, was wir Arbeit, Produktion nennen und womit wir unseren unvergleichlichen Wohlstand geschaffen haben, den Prozeß der Entropieerzeugung beschleunigt, die Lebenschancen für unsere Kinder und Enkelkinder mindert, immer schneller das Kapital aufzehrt, das auf der Erde durch die Sonneneinstrahlung in Jahr­millionen entstanden ist.

 

Der sogenannte <reale Sozialismus>, der die produktivistische Ideologie des Kapitalismus übernahm und sie ins Groteske übersteigerte, der sich zudem durch die Errichtung einer Parteidiktatur der Möglichkeiten demokratischer Selbstkorrektur beraubte, versagte noch deutlicher als die westlichen Gesellschaften vor der Aufgabe, den »Stoffwechsel des Menschen mit der Natur« vernünftig zu regeln, obwohl eben darin laut Karl Marx die entscheidende Leistung des Sozialismus bestehen sollte. Ganz offensichtlich leistet die Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln auch in dieser Hinsicht nicht, was Marxisten sich in der Regel davon erwartet haben, zumindest dann nicht, wenn die Entfaltung der Produktivkräfte über die immer weiter getriebene Rationalisierung der Arbeit als der eigentliche Schlüssel zum Fortschritt angesehen wird.

Dabei hätte man bei Marx und Engels durchaus Stellen finden können, die, richtig gelesen und auf die Praxis angewandt, einen derart leichtfertigen und verantwortungslosen Umgang mit der Natur, wie er unter kommunistischer Herrschaft zur Gewohnheit wurde, verhindert hätten.

»Schmeicheln wir uns indes nicht zu sehr«, schrieb Friedrich Engels in der <Dialektik der Natur>, »mit unseren menschlichen Siegen über die Natur. Für jeden solchen Sieg rächt sie sich an uns. Jeder hat in erster Linie zwar die Folgen, auf die wir gerechnet, aber in zweiter und dritter Linie hat er ganz andere, unvorhergesehene Wirkungen, die nur zu oft jene ersten Folgen wieder aufheben.«33

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Und Karl Marx mahnte im 3. Band des <Kapital>: »Selbst eine ganze Gesellschaft, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen, sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni patres familias den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.«34

Freilich, auch in anderen Zusammenhängen hat die Geschichte gezeigt, daß die schönsten Zitate aus den Kirchenvätern nichts vermögen, wenn die Gläubigen vom Zug der Zeit erfaßt und mitgerissen werden in eine vermeintlich goldene Zukunft.

Die Sozialisten, auch die, die sich zum Materialismus bekannten, teilten die idealistische, das heißt die Naturbedingungen menschlichen Lebens und Wirtschaftens mißachtende produktivistische Ideologie des Kapitalismus. Ihr ganzes Sinnen und Trachten war nur darauf gerichtet, den Kapitalismus, was die Entfaltung der Produktivkräfte anging, noch zu übertreffen. Die entscheidende Schwäche des Kapitalismus erblickten sie darin, daß seine Produktions­verhältnisse zwangsläufig zur Fessel der Produktivkraftentwicklung werden müßten, und dementsprechend erwarteten sie von der sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft eine weitere gigantische Steigerung der Produktion auf der Basis einer immer weiter getriebenen Rationalisierung der Arbeit.

Heute wissen wir, daß dem Wachstum von Wohlstand im herkömmlichen Sinne natürliche und soziale Grenzen gesetzt sind, und daß die moderne Technik nicht nur Wohltaten, sondern auch gewaltige Gefährdungen mit sich bringt, Gefährdungen, die bei fortschreitender Steigerung des <Lebensstandards> ein Absinken der <Lebensqualität> bewirken, die schließlich dem technisch-ökonomischen Fortschrittsprozeß jeden humanen Sinn nehmen können.

33   MEW 20, 452        34 MEW 25, 784

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Daß Produktivkräfte zu Destruktivkräften werden können, ja, es zumeist gleichzeitig sind, sah auch schon Marx. Aber er hat diese richtige und folgenreiche Erkenntnis nicht systematisch entfaltet, und die meisten seiner späteren Anhänger haben sie in ihrem naiven Fortschrittsglauben völlig verdrängt. Für Marx bestand die alles entscheidende Aufgabe sozialistischer Politik in der Veränderung der Produktionsverhältnisse, das heißt, der sozialen, rechtlichen, politischen Rahmenbedingungen des Wirtschaftens.

Heute wissen wir oder können wir wissen, daß dies allein keineswegs genügt, daß sich der Rest der Aufgabe, nämlich die Ausrichtung des Wirtschaftens an sozialen und ökologischen Parametern, nicht automatisch löst, wenn nur die Produktionsverhältnisse von Grund auf verändert werden. Die Produktionsweise als ganze muß den natürlichen und sozialen Bedingungen menschlichen Zusammenlebens besser angepaßt werden. Die Entscheidung für diesen oder jenen Techniktyp, für diese oder jene Form der Arbeitsorganisation, für diese oder jene Produktlinie hat vielfache Auswirkungen auf die natürliche Lebensbasis und das soziale Zusammenleben der Menschen. Die Technik ist nicht schlechthin neutral, sie entwickelt sich nicht quasi-naturwüchsig. Spätestens seit der Einführung der Atomtechnologie läßt sich die These von der Unschuld der Produktivkräfte nicht mehr halten.

Dies gilt auch für die Produktivkraft Wissenschaft. Die Befreiung der Wissenschaft aus der Bevormundung durch die Kirche und durch die Willkür der Fürsten ist eine der großen Leistungen der europäischen Aufklärung. Aber der naive Szientismus des 19. Jahrhunderts und die enge Verbindung von ökonomischer beziehungsweise staatlicher Macht mit der Wissenschaft haben dazu geführt, daß unter der Fahne der Wissenschaftsfreiheit ein Teilbereich der Gesellschaft sich der demokratischen Kontrolle und der sozialen Verantwortung weitgehend entzogen hat.

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Im Namen der Wissenschaftsfreiheit sind Heere von Wissenschaftlern heute damit beschäftigt, immer raffiniertere und effizientere Vernichtungswaffen zu entwickeln, den genetischen Code von Pflanzen und Tieren zu verändern, gigantische neue Energiequellen zu erschließen, eine große Zahl neuer Stoffe zu synthetisieren — lauter Projekte, deren Gefährlichkeit uns mehr und mehr ins Bewußtsein dringt, deren möglicherweise verheerende Folgen wir, unsere Kinder, unsere Enkel werden ausbaden müssen.

Die Rückbindung der Wissenschaft an humane und soziale Ziele, die Aufgabe also des täuschenden Postulats der >Wertfreiheit< der Wissenschaft scheint heute unumgänglich zu sein, wenn wir als Menschen menschenwürdig überleben wollen. Dies ist zuallererst eine Frage der Bewußtseinsbildung bei den Wissenschaftlern selbst und damit auch eine pädagogische Frage. Es ist zudem eine Frage an unsere politische Phantasie, an unsere Fähigkeit, neue Institutionen der Kontrolle und der Selbstkontrolle zu schaffen, die staatliche oder parteipolitische Gängelung der Wissenschaft ebenso verhindern wie ihre völlige Abkoppelung von Fragen nach den moralischen und sozialen Implikationen. Daß dies nicht einfach sein wird, wer wollte es bezweifeln? Aber wir sollten bedenken, daß die Entwicklung der Atombombe vielleicht nicht gelungen wäre, wenn nicht Tausende von Wissenschaftlern die Frage nach dem Sinn ihres Tuns als <unwissenschaftliche> Zumutung abgewiesen hätten.

Das Pathos der Moderne ist das Pathos der Freiheit, und Freiheit hieß von vornherein Überwindung nicht nur politischer und sozialer Knechtschaft, also aller Verhältnisse, »in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«35, sondern auch seines Ausgeliefertseins an die Natur.

35  Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. In: Frühschriften, ed. S. Landshut. Stuttgart 1968, S. 216

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Daß der Mensch auch unter demokratischen Verhältnissen von anderen Menschen abhängig bleibt, daß Herrschaft zwar demokratisch kontrolliert und limitiert, nicht aber völlig überwunden werden kann, das ist als nüchterne Lebensweisheit in die Gestaltung unserer politischen und sozialen Institutionen eingegangen. Aber in Technik und Wirtschaft verhalten wir uns so, als wäre die völlige Loslösung vom Naturzusammenhang, von dem in Jahrmillionen der Evolution entstandenen Netz wechselseitiger Abhängigkeiten machbar.

In der Tat ist es in einem gewissen Maße möglich, die Natur mit technischen Mitteln nachzuahmen, ihre Regenerationsfähigkeit mit Hilfe der Technik zu erhöhen, die Natur kulturell zu »verbessern«, wie Werner Baetzing in seinem Buch über die Alpen so eindrucksvoll nachgewiesen hat.36 Aber dies geht nur, wenn die Eingriffe des Menschen in Grenzen bleiben, wenn die Technik sich dem Naturzusammenhang anschmiegt, statt ihn zu zerstören. Die moderne Wissenschaft und Technik, insbesondere die moderne technikbewehrte Ökonomie verfahren aber in der Regel nicht so behutsam. Die schrecklichen Vereinfacher, die hier am Werk sind, zerstören die komplexen Wirkungszusammenhänge der Natur und setzen an ihre Stelle Systeme, deren Verfügbarkeit für den Menschen auf ihrer grandiosen Einfachheit beruht, die aber gerade wegen dieser reduzierten Komplexität und weil sie nicht im Laufe der Evolution auf ihre ökologische Verträglichkeit getestet wurden, sich nicht organisch in den Naturzusammenhang einfügen, sondern Störungen und Zerstörungen verursachen.

Je stürmischer die wissenschaftlich-technische Entwicklung und je vollständiger die technisch-ökonomische Erschließung unseres Planeten, um so gewaltiger die Schäden, um so näher rückt die Katastrophe: Waldsterben, die Vergiftung der Meere und des Grundwassers, dramatische Reduzierung der Artenvielfalt, die Ausbreitung der Wüsten, atomare Verseuchung, beginnende Klimaveränderung — das Menetekel ist nicht zu übersehen.

36 Werner Baetzing, Die Alpen. Naturbearbeitung und Umweltzerstörung. 4. Aufl., Frankfurt/M. 1988

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Aber die meisten Naturwissenschaftler, Techniker und Ökonomen sind blind für die wahren Ursachen der drohenden Katastrophe; dieselbe Wissenschaft, dieselbe Technik, dieselbe Ökonomie, die die wachsende Zerstörung der Lebensgrundlagen bewirkt, so belehren sie uns, wird die Zerstörung auch wieder rückgängig machen. Nicht Zurückhaltung, Begrenzung des Zugriffs auf die Natur, Verlangsamung der Entwicklung, sondern im Gegenteil noch umfassendere Anwendung der Technik, noch gründlichere Indienstnahme der Natur, noch schnellere Entwicklung und Erschließung der Ressourcen werden uns zur Abhilfe empfohlen: Beschleunigung angesichts der drohenden Kollision!

Auch die angeblich so nüchternen Wissenschaftler, Techniker und Ökonomen, die angeblichen Realisten und klugen Rechner haben ihre Utopie. Es ist die Utopie einer künstlichen, durchrationalisierten Welt, der technischen Reproduktion des Lebens, auch sie ganz dem rationalistischen Geist der Geometrie verhaftet, ein lebensfeindlicher Machttraum von Menschen, die zu geistreich sind, um ihre eigene Einfalt zu erkennen. Emanzipation des Menschen bedeutet hier noch ganz naiv die grenzenlose Ausdehnung des dominium hominis, absolute Herrschaft des Menschen über die Natur, als wäre der Mensch nicht Teil der Natur und damit auch ihren Gesetzen unterworfen. Genau besehen in der Tat: »Eine seltsame Vorstellung, daß sich Blüten von ihrem Stamm und ihren Wurzeln emanzipieren könnten!«37

Die <realsozialistischen> Zauberlehrlinge teilten den Machttraum ihrer westlichen Kollegen seit eh und je.

37   So der Astrophysiker Peter Kafka in einem SPIEGEL-Essay: <Wissenschaft — Opium fürs Volk>. DER SPIEGEL vom 17. 9. 1989
* (d-2014:)  Peter Kafka bei detopia 

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Von kultureller und politischer Emanzipation hielten sie nicht viel, um so mehr aber von der Überwindung der Naturgebundenheit menschlicher Existenz. Nichts faszinierte sie mehr als phantastische technische Großprojekte: die Bewässerung der Wüsten, die Umleitung riesiger Ströme, die Erschließung der sibirischen Rohstofflager, der Bau gigantischer Atomkraftwerke, die bemannte Raumfahrt. Die katastrophalen Folgen liegen heute auf der Hand. Aber statt zu erkennen, daß es unsere Geistesverwandten waren, die diese Verwüstungen anrichteten, verkünden wir triumphierend, daß dies alles nur auf die mangelnde Effizienz der östlichen Wirtschaft, ihre weniger entwickelte Technik zurückzuführen sei und daß alles ins Lot komme, wenn erst die moderne westliche Technik und die effizientere westliche Wirtschaft auch im Osten Einzug halte.

Aber ist in dieser Hinsicht eine wirkliche Wende zu erwarten, nun, da die poststalinistischen Systeme sich auflösen?

Gewiß die Demokratisierung der Staaten in Mittel- und Osteuropa wird die Chancen des Widerstands gegen die Zerstörung der Lebensgrundlagen und damit auch die Chancen für Korrekturen erhöhen. Gewiß wird der Anschluß an die westliche Wirtschaft auch dazu führen, daß allmählich moderne Techniken des Umweltschutzes in diesen Ländern angewendet werden. Verglichen mit dem, was bisher war, sind dies große Schritte vorwärts, Zeichen der Hoffnung. Aber gleichzeitig bedeutet die Öffnung des Ostens für das westliche Kapital und die westliche Technik, daß die Erschließung der Erde noch schneller vonstatten gehen kann, daß die großen Kapitalien nun wirklich im Weltmaßstab tätig werden können und daß strategische Entscheidungen in wenigen Zentren nun tatsächlich und im strengen Sinn globale Auswirkungen haben. Wer immer noch der Meinung ist, daß technisch-ökonomische Rationalisierung der Inbegriff von Vernunft sei, wird die Globalisierung und Beschleunigung dieses Prozesses für einen Segen halten.

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Wer aber begriffen hat, daß diese Rationalisierer, wie Erhard Eppler es einmal treffend ausgedrückt hat, »fest mit beiden Beinen in den Wolken stehen«, daß sie in ihren Allmachtsträumen übersehen, daß menschliches Leben nur in einem in Jahrmillionen der Evolution gewachsenen Geflecht hochkomplexer Beziehungen möglich ist, der erkennt die große Gefahr: die endgültige Zerstörung der letzten Reservate natürlicher Regeneration und die weiter zunehmende Wahrscheinlichkeit von Irrtümern, die allein schon wegen ihrer Größenordnung nicht mehr korrigiert werden können.

 

Es gehört zum gesicherten Wissen der westlichen politischen Kultur, daß Demokratie, wo sie leidlich funktioniert, auf der Begrenzung von Macht beruht. Teilung der Gewalten, <checks and balances>, Parteienvielfalt, Meinungsfreiheit, Minderheitenschutz, Delegation von Macht auf Zeit, periodische Wahlen, Gemeindeautonomie, Gewerkschaften und Verbände, Tocquevilles <pouvoirs intermediaires> — all diese Vorkehrungen haben nur einen Sinn: den Zugriff der Mächtigen zu limitieren und damit auch die Folgen von Irrtümern und Fehlentscheidungen möglichst gering zu halten.

Zwar entspricht die Praxis keineswegs immer der Theorie, aber immerhin hat sich in diesem Feld nach schrecklichen Erfahrungen und schrecklichen Rückfällen der Gedanke der Machtbegrenzung durchgesetzt. In unserem Verhältnis zur Natur setzen wir dagegen immer noch auf totale Unterwerfung, auf die schrankenlose Ausdehnung des dominium hominis, auf die Beseitigung jener natürlichen <checks and balances>, die allein den Menschen daran hindern können, sich zu Tode zu siegen.

Entscheidend wird sein, ob die Menschen in den westlichen Industrieländern, deren Vorbildfunktion in der Welt ungebrochen ist, die Kraft aufbringen, eine andere Lebens- und Wirtschaftsweise, einen anderen Umgang mit der Natur durchzusetzen.

* (d-2014:)  E.Eppler bei detopia     Toqueville bei detopia 

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Auch wenn viele heute wieder so tun, als könne am <westlichen Wesen> die Welt genesen, so wissen wir doch längst, daß unser aufwendiger Lebensstil, unser unverantwortlicher Umgang mit der Natur und mit den Lebenschancen künftiger Generationen nicht generalisierbar sind, daß es völlig unmöglich ist, auch nur für kurze Zeit allen Menschen auf der Erde die Segnungen unserer Zivilisation zuteil werden zu lassen. Und dennoch reden wir uns selbst und anderen ein, in der Nachahmung unseres Weges liege der Schlüssel zur Zukunft für die Völker der Erde. Der Bankrott unserer feindlichen Brüder im Osten hat bei uns im Westen eine gefährliche Euphorie erzeugt, in der die besseren Einsichten in die Unhaltbarkeit unseres technisch-ökonomischen Entwicklungs­modells verdrängt zu werden drohen.

Natürlich kann es noch eine Weile gutgehen, natürlich kann ein bescheidenes Wirtschaftswunder in Mittel- und Osteuropa die Illusion nähren, daß die Fortschreibung der bisherigen Entwicklung doch noch menschenwürdige Zukunft eröffne. Aber gleichzeitig würde die Katastrophe näherrücken, würden die zerstörerischen Prozesse weiterlaufen, sich die apokalyptischen Zeichen mehren. Je mehr Zeit wir verstreichen lassen, ohne das Notwendige zu tun, um so unwahrscheinlicher wird es, daß die notwendigen Veränderungen demokratisch vor sich gehen können. Je länger wir uns der Illusion hingeben, der Mensch könne sich von der Natur emanzipieren, um so wahrscheinlicher wird es, daß wir, um zu überleben, das unter Menschen mögliche Maß an Freiheit verspielen.

Wer den humanen Inhalt der Fortschrittsidee erhalten will, muß sie von jenen idealistischen Verzerrungen befreien, die uns weismachen wollen, wir könnten uns über die condition humaine, zu der auch die Naturgebundenheit des Menschen gehört, erheben. Dies bedeutet zugleich, daß das Verhältnis von Wissen­schaft und Technik zur Natur neu bestimmt und auf dieser Grundlage unsere Lebens- und Wirtschaftsweise grundlegend verändert werden muß.

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Nicht Fortschritts- und Technikfeindlichkeit sind die adäquaten Antworten auf die Krise des Industrialismus, sondern ein Konzept des menschlichen Fortschritts auf der Basis einer Technik und Ökonomie, die den Menschen als auf Freiheit angelegtes Individuum, als Sozialwesen und als Naturwesen ernst nimmt. Die große Freiheitsidee des Humanismus und der Aufklärung ist keineswegs obsolet, wenn es uns gelingt, sie von der szientistischen Verengung und von der idealistischen Verstiegenheit zu reinigen, die sie zur Ideologie haben werden lassen.

Hier liegt auch die Chance eines künftigen und zukunftsfähigen Sozialismus. Wenn das Leitbild einer solidarischen Gesellschaft der Freien und Gleichen nicht mit den Irrtümern des modernen Fortschrittsglaubens abgelegt werden soll, nur weil es zweihundert Jahre lang mehr oder weniger eng damit verbunden war, dann muß es vom Kopf auf die Füße gestellt, das heißt, den Bedingungen menschlicher Existenz auf einem begrenzten Planeten angepaßt werden.

Die Aufgabe heißt Vermenschlichung des Fortschritts nach Maßgabe eines realistischen Menschenbilds, eine Aufgabe, die die Kreativität der Menschen und ihre Fähigkeit zu solidarischer Aktion herausfordert, die sich auch für Naturwissenschaftler, Techniker und Ökonomen schon bald als faszinierender erweisen kann als die Entwicklung und Planung immer effektiverer Aggregate zur Produktion immer fragwürdigerer Produkte.

Im Kern handelt es sich um eine politische, nicht um eine technische Aufgabe. Weitermachen in dem Glauben, irgendwo auf der Welt würden Wissen­schaftler und Techniker schon noch rechtzeitig Abhilfe schaffen, ehe die verhängnisvollen Trends sich zur Katastrophe verdichten, wäre genauso falsch wie die andere Variante des Fatalismus, die die Macht des Faktischen für unüberwindlich erklärt und die Chancen zur Veränderung leugnet. Noch brauchen wir nicht zu resignieren. In die Hoffnungslosigkeit stürzt nur, wer ohne die Illusion grenzenloser Möglichkeiten nicht zu leben vermag.

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Aber Freiheit ist nicht Allmacht, jedenfalls nicht unter Menschen, und schon lange nicht die eingebildete Allmacht der Technokraten. Sie ist auch nicht bloße Einsicht in die Notwendigkeit, weder in eine optimistisch gedeutete welthistorische Dynamik, noch in einen sich gegen die Hybris des Menschen brutal geltend machenden Zwangszusammenhang ewiger Naturgesetze, wie es den Pessimisten erscheint. Freiheit und Fortschritt haben nur dann eine Zukunft, wenn sie als autonomes Handeln aus der rationalen Einsicht in die bedingten Möglichkeiten des Menschen begriffen werden.

Es ist klar, daß eine solche Perspektive revolutionären Emphatikern nicht genügen kann.

Aber das Alles-oder-nichts-Spiel, das sie gelegentlich immer noch spielen, ist längst entschieden, und zwar zugunsten des Nichts. Bleibt die Frage, ob jene sanfte, menschenfreundliche Utopie der Fülle und der Vielfalt, die wir den Utopien der Ordnung und der geometrischen Gleichheit entgegengesetzt haben, angesichts der Grenzen technisch-ökonomischer Expansion nicht zur Illusion verblaßt, ob auf unserem endlichen Planeten jene großzügigen Verhältnisse des Überflusses für alle möglich sind, die die realistische Basis demokratisch-sozialistischer Freiheitshoffnungen darstellen.

Oder anders gefragt: Geht die Menschheit, nachdem der kleinere Teil derselben einige Jahrzehnte lang sträflich über seine Verhältnisse gelebt hat, zwangsläufig einer neuen Epoche bedrückender Knappheit entgegen, werden wir in Zukunft auf die vielen Annehmlichkeiten des modernen Lebens verzichten müssen, um überhaupt überleben zu können?

Carl Friedrich von Weizsäcker hat schon Vorjahren die These vertreten, daß nur eine neue >asketische Weltkultur< uns vor der Katastrophe bewahren könne.38

38  C.F. von Weizsäcker, <Gehen wir einer asketischen Weltkultur entgegen?> In: <Deutlichkeit: Beiträge zu politischen und religiösen Gegenwartsfragen>. München 1978, S. 73

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Wenn er recht hätte, dann müßten wir uns wohl auch an den Gedanken gewöhnen, daß Freiheit und Demokratie nur eine vorübergehende Episode in der Menschheitsgeschichte darstellen. Aber bei aller Notwendigkeit, unser Verhalten grundlegend zu verändern, die Vergeudung natürlicher Ressourcen zu beenden und als >boni patres familias< endlich haushalten zu lernen, geht es doch in der Summe nicht um Verzicht.

Als Klaus Traube und ich vor nunmehr zehn Jahren über die <Zukunft des Fortschritts> schrieben, zeigten wir in aller Ausführlichkeit, daß von einer ökologischen Wende die Menschen sich mit Recht mehr erwarten dürfen als das pure Überleben, daß in der Perspektive eines anthropologisch ernüchterten und ökologisch aufgeklärten Sozialismus Vielfalt und Fülle und damit Freiheit möglich sind.39

»Wachstumsbegrenzung«, schrieben wir damals, »muß genausowenig Verzicht bedeuten, wie weiteres Wachstum reale Wohlstandsmehrung bedeutet, jedenfalls nicht für die Mehrheit der Bevölkerung. Unsere Analyse des Indus­trial­ismus hat gezeigt, wie der Produktionsprozeß zum Destruktionsprozeß werden kann und tatsächlich geworden ist, und daß ein Großteil des als Fortschritt gefeierten Wachstums der Ökonomie auf einem Bilanzierungs­trick beruht, daß viele unserer Institutionen kontraproduktiv geworden sind und daß die negativen <externen Effekte> vielfach den Nutzen unserer produktiven Anstrengungen überwiegen.«

39  Johano Strasser und Klaus Traube, <Die Zukunft des Fortschritts; Der Sozialismus und die Krise des Industrialismus>. Bonn 1980; Taschenbuch Bonn 1984 

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Für den berühmten <kleinen Mann> (und natürlich auch für die <kleine Frau>) ist es in der Tat besser,

»wenn er in einer gesunden Umwelt lebt und unter gesunden Arbeitsbedingungen arbeitet, als wenn er sich für viel Geld die fragwürdigen Künste einer überzüchteten Medizin leisten muß, weil inhumane Wohn- und Arbeitsbedingungen ihn kaputtmachen. Er gewinnt nur, wenn er so nah am Arbeitsplatz wohnt, daß er den Weg zwischen Wohnung und Arbeitsplatz zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurücklegen kann, ohne allmorgendlich und allabendlich im Autostau verpestete Luft einzuatmen, nervös und aggressiv zu werden und sich über die bedrückenden Kosten eines Fahrzeugs, das oft mehr ein Stehzeug ist, zu ärgern. Für ihn ist es nur von Vorteil, wenn er sich nicht dauernd etwas Neues leisten muß, weil die Absatzstrategen der großen Konzerne den schnellen Verschleiß programmieren, statt haltbare und leicht reparierbare Güter anzubieten. Für ihn gibt es nur eine Garantie dagegen, ständig übervorteilt und unterdrückt zu werden: die Schaffung und Erweiterung von Möglichkeiten der Partizipation in überschaubaren Einheiten und der Abbau der hierarchischen Strukturen, die sich aus der exzessiven Arbeitsteilung ergeben.«40

Zwar ist die endgültige Überwindung des Mangels und damit aller Verteilungsprobleme, wie sie die Marxisten sich von der Umwälzung der Produktions­verhältnisse erwarteten, pure Illusion. Aber es ist möglich, Bedingungen der Fülle für alle Menschen zu schaffen, die sie von der ständigen Sorge um die Lebensfristung entlasten, die ihnen eine Vielfalt von Lebenschancen bieten und sie so frei machen für eine selbstbestimmte Existenz in demokratischen Verhältnissen.

Freilich, wir haben guten Grund, anzunehmen, daß dieses Ziel auf dem bisher verfolgten Weg auch dann nicht zu erreichen wäre, wenn es gelänge, die Güter dieser Welt gerecht zu verteilen. Die Schaffung eines relativen Überflusses für alle, eine entscheidende Bedingung für Freiheit und Demokratie, kann mit den herkömmlichen industrialistischen Mitteln nicht gelingen, weil derselbe Prozeß, der unseren Reichtum produziert, auch immer neue Knappheiten erzeugt.

40   Strasser/Traube, a. a. O. S. 300 

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Darum müssen wir unser Wohlstandsmodell gründlich verändern und eine aufgeklärte, den natürlichen Voraussetzungen menschlichen Lebens angepaßte Vision der Überflußgesellschaft entwickeln.

Es ist möglich, ein hohes Niveau der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, wie es die Menschen in den entwickelten Industrieländern gewöhnt sind, mit sehr viel weniger Belastungen für die Umwelt zu realisieren. Wir können eine große Zahl von Gütern und Dienstleistungen überflüssig machen, wenn wir darauf achten, nicht durch Fehlentscheidungen Mängel und damit erst den Bedarf zu erzeugen. Wir können für Produkte, Produktions- und Konsumtions­weisen, die große irreparable Schäden verursachen, Ersatz bereitstellen oder sie ersatzlos verbieten.

Entscheidend aber wird es sein, daß wir erkennen, daß in den hochentwickelten Industriegesellschaften Wohlstandssteigerungen in Zukunft weniger durch die Bereitstellung von immer mehr Gütern und Dienstleistungen zu erzielen sind als durch die Eröffnung von Möglichkeiten selbstbestimmter Praxis und der freien Verfügung über die Zeit.

Auf Dauer wird menschenwürdiges Leben auf unserem Planeten nur möglich sein, wenn wir die ökonomischen Prozesse wieder in die natürlichen Kreisläufe einpassen, die durch den für menschliche Begriffe ewigen Zustrom von Sonnenenergie ins Ökosystem Erde angetrieben und aufrecht erhalten werden.

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dnb  strasser+zukunft+fortschritts   1981-1984

 

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