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§ 6

 Politik ohne Gewalt ist denkbar, nicht aber eine Gesellschaft ohne Politik:
mit anderen Worten, es gibt keine Gesellschaften ohne Macht.  Pierre Clastres
 wikipedia  Pierre_Clastres  (1934-1977)

 

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Konservative haben in der Regel keine gute Meinung von den Menschen. Ohne die Furcht vor ewiger Verdammnis oder weltlicher Strafe, so glauben sie, würden sich die Menschen fortwährend die Köpfe einschlagen, könne es ein halbwegs geordnetes und gesittetes Leben in der Gesellschaft nicht geben. Deshalb waren die Autorität der Kirche und die Autorität der weltlichen Obrigkeit für die Konservativen stets die tragenden Säulen der Zivilisation.

Die markanteste Gegenposition zu diesem anthropologischen Pessimismus wurde von denen eingenommen, die wie Rousseau die natürliche Güte des Menschen postulierten und alle Übel den Verhältnissen, den Institutionen, insbesondere dem Staat anlasteten. Ihnen schien es offensichtlich, daß zivilisatorischer Fortschritt nur zu erreichen sei, wenn die Menschen sich von fremder Autorität und vom historischen Ballast der Institutionen emanzipierten und so erst ihre natürliche Sozialität zu entfalten vermöchten.

Die letztere Position gilt gemeinhin als links, obwohl die politische Linke, außer in einigen kurzlebigen anarchistischen Experimenten, in ihrer Praxis so gut wie nie von einer derart positiven Sicht der menschlichen Natur ausgegangen ist.

Der reformistischen Praxis der Sozialdemokraten lag unausgesprochen schon immer ein realistischeres Menschenbild zugrunde, das freilich erst in jüngerer Zeit in programmatischen Dokumenten der Sozial­demokratie, so im neuen Grundsatzprogramm der deutschen Sozialdemokraten, explizit formuliert wurde:

»Der Mensch, weder zum Guten noch zum Bösen festgelegt, ist lernfähig und vernunftfähig. Daher ist Demokratie möglich. Er ist fehlbar, kann irren und in Unmenschlichkeit zurückfallen. Darum ist Demokratie nötig. Weil der Mensch offen ist und verschiedene Möglichkeiten in sich trägt, kommt es darauf an, in welchen Verhältnissen er lebt. Eine neue und bessere Ordnung, der Würde des Menschen verpflichtet, ist daher möglich und nötig zugleich.«

Von dieser Einstellung her haben sich Sozialdemokraten stets sowohl dem konservativen Obrigkeitsstaat als auch linken Konzepten einer Erziehungsdiktatur widersetzt, zugleich aber auch den anarchistischen und jugendbewegten Antiinstitutionalismus abgelehnt.

Komplizierter liegt der Fall bei den Leninisten.

Sie übernahmen die Marxsche Formel vom Menschen als dem »Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse«, was bei ihnen darauf hinaus lief, eine den Ansprüchen der Gesellschaft vorausliegende und damit politischer Verfügung entzogene Würde des Menschen zu leugnen. Das freie, mit unantastbarer Würde ausgestattete Individuum ist für die Leninisten — soweit durchaus genuin marxistisch — nicht Ausgangspunkt ihrer politischen Bemühungen, sondern kann erst am Ende des politischen Umwälzungsprozesses als dessen Produkt in Erscheinung treten.

Da sie gleichzeitig die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse — anders als später Antonio Gramsci — fast ausschließlich als ein macht­technisches Problem begriffen, wurde der manipulative und repressive Einsatz des Staatsapparats zum bevorzugten Mittel ihrer Politik, wo immer sie zur Macht gelangten. Ihre etatistische Praxis hinderte sie freilich nicht daran, in ihren weiterreichenden Zielvorstellungen, etwa in der Vision vom Absterben des Staates, emphatisch-rousseauistische Auffassungen von einer quasi-natürlichen, jedenfalls unvermittelten Sozialität des Menschen zu bewahren.41

Diese Doppelgesichtigkeit des Leninismus ist oft genug beschrieben worden, und zumeist hat man sie dadurch erklärt, daß in der Person von Lenin sich die radikal­demokratischen Vorstellungen von Marx mit asiatisch-despotischen Staatstraditionen verbanden42 und der Sozialismus nach der Oktoberrevolution zunächst in einem Land verwirklicht werden mußte, in dem die liberal-demokratischen Ideen des Westens keinen nennenswerten Widerhall gefunden hatten.

 

41 Vgl. Lenins im Revolutionsjahr 1917 verfaßte Schrift <Staat und Revolution>
42 Vgl. Rudi Dutschkes <Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen>, Berlin 1974 
Lenin    Dutschke 

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Zweifellos ist an dieser Erklärung vieles zutreffend. Sie hat nur den einen, allerdings entscheidenden Nachteil, daß sie den Schluß nahelegt, die despotische Verformung des Marxismus sei ausschließlich oder primär nichteuropäischen Kultureinflüssen zu verdanken, und damit von der gefährlichen Ambivalenz im durchaus <okzidentalen> Marxschen Konzept ablenkt.

»Der Kommunismus«, schreiben Marx und Engels in der <Deutschen Ideologie> »unterscheidet sich von allen bisherigen Bewegungen dadurch, daß er die Grundlagen aller bisherigen Produktions- und Verkehrsverhältnisse umwälzt und alle naturwüchsigen Voraussetzungen zum ersten Mal mit Bewußtsein als Geschöpfe der bisherigen Menschen behandelt, ihrer Naturwüchsigkeit entkleidet und der Macht der vereinigten Individuen unterwirft... Das Bestehende, was der Kommunismus schafft, ist eben die wirkliche Basis zur Unmöglichmachung alles von den Individuen unabhängig Bestehenden, sofern dies Bestehende dennoch nichts als ein Produkt des bisherigen Verkehrs der Individuen selbst ist.«43

In diesen etwas schwerfälligen und holprigen Sätzen ist der Kern dessen enthalten, was für den Marxismus freie und unentfremdete Gesellschaftlichkeit bedeutet: nämlich die uneingeschränkte Beherrschung und bewußte Gestaltung der menschlichen Beziehungen einschließlich ihrer Resultate durch die vereinten Individuen.

Auch hier begegnen wir wieder jenem rationalistischen Ideal der restlosen Verfügung über das Leben. Der gesellschaftliche Prozeß, das Zusammenleben der Menschen, soll ganz und gar durch das absichtsvolle Handeln der vereinten Individuen determiniert sein, nichts dem Zufall überlassen, »naturwüchsig« bleiben.

43  MEW 3, 70 

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Die Pointe dieses Konzepts, das ist offensichtlich, ist gegen die bürgerlich-liberale Vorstellung der Zivilgesellschaft gerichtet, deren Clou eben gerade darin besteht, daß die Gesellschaftlichkeit sich gewisser­maßen hinter dem Rücken der Individuen herstellt, daß jedenfalls die Absichten und Handlungsziele der Individuen und das, was sich daraus als tatsächliche gesellschaftliche Entwicklung ergibt, keineswegs deckungsgleich sind.

Marx behauptet nun, daß eine solche Gesellschaft nicht frei genannt zu werden verdiene, weil die aggregierten Wirkungen der Handlungen ihrer Mitglieder von diesen so, wie sie tatsächlich eintreten, nicht vollständig vorhergesehen und gewollt seien, mithin sich ihnen als etwas Fremdes, Verselbständigtes entgegenstellten. Von wirklicher Freiheit könne aber erst dann die Rede sein, wenn die Subjektivität des individuellen Wollens und die Objektivität des gesellschaftlichen Seins zusammenfielen.

Über das Verfahren und den Mechanismus, der beides zur Deckung bringt, schweigt sich Marx aus.

Aber selbst wenn er wie Rousseau den Übergang vom individuellen Wollen (volontes de tous) zum Gemeinwillen (volonte generale) als einen Prozeß demokratischer Abstimmung ansähe, bliebe es ein Mysterium, wie es durch einen solchen Akt zur vollen Übereinstimmung aller Einzelwillen mit dem Gemeinwillen kommen sollte. Schon die rousseauistische Phase der Französischen Revolution hat sehr deutlich gezeigt, wie leicht die Konzeption eines Gemeinwillens zu Terror und Unterdrückung führen kann, weil sie eine legitime und unüberbrückbare Differenz zwischen volonte de tous und volonte generale nach der mystischen Verwandlung der Einzelwillen in den Gemeinwillen schwerlich anerkennen kann. Ganz ähnlich ist auch in dem Marxschen Konzept der freien Gesellschaft trotz seiner radikal-demokratischen Intentionen für Dissens und Eigensinn letztlich kein legitimer Platz, da die Differenz zwischen Subjektivität und gesellschaftlicher Entwicklung von vornherein als Beeinträchtigung der Freiheit angesehen wird.

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Ich denke, daß wir hier den Punkt berühren, der verständlich machen kann, warum Marxisten trotz der Denunzierung des Staates als Inbegriff politischer Entfremdung in ihrer politischen Praxis zumeist ausgesprochen etatistisch sind, und zwar auch dort, wo von einem bestimmenden Einfluß asiatisch-despotischer Staatstraditionen keine Rede sein kann.

Für das marxistische Befreiungsprogramm, alle Bedingungen der Gesellschaftlichkeit ihrer Naturwüchsigkeit zu entkleiden und sie der Macht der vereinigten Individuen zu unterwerfen, stand und steht gar kein anderer Rationalisierungsmodus zur Verfügung als der der staatlichen Administration, und je konsequenter dieses Programm durchgeführt wird, um so unausweichlicher führt es zur Verstaatlichung der Gesellschaft und damit auf die schiefe Bahn zum Totalitarismus. Aber selbst wenn es einen anderen Rationalisierungsmodus gäbe, bliebe das Marxsche Programm der vollkommenen Beherrschung aller gesellschaftlichen Bedingungen menschlicher Existenz in der Konsequenz freiheitsfeindlich, ja totalitär.

Wie zur Freiheit des einzelnen unvermeidlich ein gewisses Maß an existentieller Unsicherheit gehört, so zu einer freien Gesellschaft, daß die Bedingungen ihrer Reproduktion nie vollkommen beherrscht werden können, ihre Entwicklung also nie ganz den Charakter der Naturwüchsigkeit verlieren kann, und zwar auch dann nicht, wenn man im Gegensatz zur bürgerlich-liberalen Ideologie den Individuen nicht nur individual-egoistische Motive unterstellt, sondern sie zurecht auch des bewußt sozialen, das heißt gemeinschaftsbildenden Handelns für fähig hält.

Dies sich klarzumachen, ist für die demokratische Linke von größter Bedeutung. Bisher hat sie sich fast ausschließlich damit befaßt, Alternativen staatlicher Politik zu präsentieren, und dabei übersehen, daß die Zukunft der Freiheit wesentlich davon abhängt, ob es gelingt, ein überzeugendes Konzept der Zivil­gesellschaft zu entwickeln, das sich von jenem bürgerlichen unterscheidet, in dem der Markt die absolut dominierende Form der vorstaatlichen Vergesellschaftung der Individuen darstellt.

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Solange die Linke aber ein solches Konzept nicht anzubieten hat, bleibt sie in die falsche Alternative <Mehr Markt oder mehr Staat> eingesperrt und wird im Zweifelsfall angesichts der angeblichen Anarchie und der tatsächlichen Ungerechtigkeit des Marktes in der Ausweitung rechtsstaatlicher und sozialstaatlicher Interventionen das alleinige Heilmittel sehen. Auf diese Weise wächst die Wahrscheinlichkeit, daß in der antagonistischen Kooperation von <Rechten>, <Linken> und <Liberalen> die Vielfalt des gesellschaftlichen Lebens weiter eingeebnet und damit Freiheit und Selbständigkeit der Individuen immer rigoroser der Disziplin ökonomischer und administrativer Rationalisierung unterworfen werden.

Die gedankliche Unterscheidung und praktische Trennung von Staat und Gesellschaft und parallel dazu, wenngleich nicht kongruent, einer öffentlichen und einer privaten Sphäre mag zwar für Marxisten Ausdruck menschlicher Entfremdung und für ordnungsbesessene Rationalisten nichts als lästige Unordnung sein, von unten, das heißt aus dem Blickwinkel der normalen Menschen betrachtet, ist sie aber eine der unverzichtbaren Garantien der Freiheit.

Das eigentliche Problem liegt darin, daß in unserer kapitalistisch geprägten Kultur die Gesellschaft einseitig als ein System von Wirtschaftsbeziehungen und die Privatsphäre als fast vollständig durch ökonomische Vorteilskalküle bestimmt angesehen wird. Wo diese ökonomistische Deutung menschlicher Beziehungen das alltägliche Verhalten der Menschen durchdringt, führt dies zu einer Verarmung des gesellschaftlichen Lebens und der individuellen Existenz, über die auch die bunte Fülle des Warenangebots nicht hinwegtäuschen kann.

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Die frühen Gesellschaftstheoretiker des Bürgertums, die an die Wirkung moralischer und religiöser Appelle nicht mehr glaubten und die die Repressions­gewalt des absolutistischen Staates verabscheuten, verfielen, wie Albert O. Hirschman beschrieben hat,44 auf den Gedanken, die <Interessen>, allen voran die <Habsucht>, zur Disziplinierung der als gefährlich und gemeinschaftsschädlich angesehenen <Leidenschaften> einzusetzen.

Der Plan, eine besondere Pointe in dem von Norbert Elias dargestellten <Prozeß der Zivilisation>, ist in der Tat aufgegangen. Die modernen Industrie­gesellschaften sind durch ein fast pathologisches Maß an Selbstdisziplinierung gekennzeichnet, und das System der ökonomischen Interessen entwickelt sich immer mehr zur Zwangsjacke des gesellschaftlichen Lebens.

Die humane Alternative zum kapitalistischen Marktradikalismus ist aber nicht, wie die traditionelle Linke vielfach glaubt, die Radikalisierung der Öffentlichkeit und der staatlich vermittelten Vergesellschaftung der Individuen, sondern die Verteidigung der Privatsphäre und der zivilen Gesellschaft gegen die gefräßige Logik der kapitalistischen Ökonomie ebenso wie gegen die des modernen Staates.

Jürgen Habermas hat in diesem Zusammenhang von der »Kolonialisierung der Lebenswelten« gesprochen und den Schutz dieser Lebenswelten vor »systematischen Übergriffen« des Staates und der kapitalistischen Ökonomie zur vordringlichen politischen Aufgabe erklärt.45 Im Kern ist dies nichts anderes als die Forderung nach der Rekonstruktion und Revitalisierung der zivilen Gesellschaft, einer zivilen Gesellschaft allerdings, deren Vernetzungslogik nicht wie in der klassisch bürgerlichen Vorstellung allein am Marktmodell ausgerichtet ist, die vielmehr unterschiedliche Formen der Gesellung und der Verknüpfung von Individuen nebeneinander bestehen läßt.

 

44  Albert O. Hirschman, Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg. Frankfurt/M. 1987
45  Vgl. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2. Frankfurt/M. 1981, vor allem S. 575 f.
Habermas 

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Sowohl die Rechtssetzung und Rechtsprechung des Staates als auch der Markt sind Integrationsprinzipien, die auf der Vorstellung von der Gesellschaft als einer Ansammlung von Individuen in einem homogenen Raum beruhen.46 Beide, Staat und Markt, tendieren dazu, Vielfalt einzuebnen und Freiräume zu zerstören. Die von neoliberalen Marktfetischisten heute immer wieder geschürte Erwartung, daß die Zurückdrängung des Staates und die Radikalisierung der Marktbeziehungen der Königsweg zu Vielfalt und individueller Selbstbestimmung sei, ist daher ebenso irreführend wie die Hoffnung, durch die Verstaatlichung der Ökonomie die Befreiung der Menschen befördern zu können.

Ein wirklich freiheitliches Konzept der Zivilgesellschaft muß heute wieder an jene ältere Vorstellung der Bürgerfreiheit anknüpfen, die in der Mannigfaltigkeit kleinräumiger Gesellschaftsgestalten die beste Garantie gegen Fremdbestimmung sah, das heißt, es muß sich notwendig die Stärkung der mittleren Sozial­figurationen, der Tocquevilleschen <pouvoirs intermediaires>, vor allem der Gemeindeautonomie zum Ziel setzen.

Wir haben keinen Grund, die Utopie einer über das Normalniveau der westlichen Demokratie hinausgehenden Freiheit ad acta zu legen; es ist nur höchst unwahrscheinlich, daß wir ihr auf dem bisher von der Linken vorzugsweise eingeschlagenen Weg der Politisierung und Demokratisierung weiterer Lebens­bereiche näherkommen, wenn diese nicht zugleich auch die Dezentralisierung von Entscheidungsstrukturen und die relative Autonomie kleinerer Lebensräume zum Ziel hat.

Gerade weil der Mensch nicht nur Individuum, sondern auch Sozialwesen ist, weil er seine Freiheit in vielfältigen Wechselbeziehungen zu anderen Menschen entfaltet und diese Freiheit notwendig verkümmern müßte, wenn diese Beziehungen immer abstrakter und gleichförmiger würden.

46 Vgl. hierzu Wolfgang Sachs, <Mannigfaltigkeit der Situationen. Über Wilhelm von Humboldts Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen>. In: Thomas Schmid (Hg.), Entstaatlichung. Neue Perspektiven auf das Gemeinwesen. Berlin 1988  

Humboldt    Toqueville 

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Im übrigen hat die Verteidigung und Wiederherstellung eines vielgliedrigen Sozialraums auch ihren ökologischen Sinn. Sie bietet vermutlich den besten Schutz dagegen, daß gefährliche technische Experimente in einem Maßstab durchgeführt werden, der nachträgliche Korrekturen unmöglich macht und mögliche Schäden ins Unermeßliche wachsen läßt. Gerade weil die politische Einigung (West-)Europas vor der Tür steht und Mittel- und Osteuropa sich der Welt geöffnet haben, ist es für das Überleben der Menschheit von größter Wichtigkeit, sich der technisch-administrativen Homogenisierung ihres Lebensraums zu widersetzen.

Wer für die Mannigfaltigkeit der Lebensformen und für das Eigenrecht und den Eigen-Sinn der kleinen sozialen Einheiten, der geographischen und der nicht-geographischen, plädiert, macht sich damit nicht notwendig zum Anwalt von Provinzialismus, lokalpatriotischer Blickverengung und spießiger Selbstgenügsamkeit. Da das Mißverständnis naheliegt und ja tatsächlich auch auf der Linken bornierter Kiez-Provinzialismus gelegentlich seltsame Blüten treibt, sei hier noch einmal betont, daß es um ein linkes Konzept der Zivilgesellschaft geht und nicht um die Auflösung der Gesellschaft in vermeintlich autarke Kleingebilde. Die Forderung nach der Unterordnung der ökonomischen Rationalität unter die Lebensbedürfnisse der Menschen muß sich heute mit der anderen, fälschlicherweise der Rechten zugeordneten Forderung nach der Stärkung des Föderalismus und der Beachtung des Subsidiaritätsprinzips verbinden. Eine Gesellschaft der Freien und Gleichen kann es nur geben, wenn Räume selbständiger und aktiver Lebensgestaltung gegen die gleichmacherische und passivierende Tendenz des Marktes und des modernen Staates verteidigt werden.

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Sowohl die Reduzierung der Freiheit auf die Wahlfreiheit des Konsumenten als auch die Reduzierung der Gleichheit auf staatlich-administrative Gleichbehandlung sind verhängnisvoll, weil sie das Wichtigste an der Freiheit, nämlich die Subjektstellung des Menschen, untergraben.

Der von Franz-Xaver Kaufmann beklagte »Verlust der anschaulichen Gesellschaftsgestalt«47 ist nicht nur ein sozialpsychologisches und sozial­politisches Problem, sondern auch eines der Demokratie. Eine Gesellschaft aus lauter atomisierten Individuen ist mit lebendiger Demokratie nicht vereinbar. Nur wo Demokratie in kleinen und mittleren Einheiten anschaulich erlebt und aktiv praktiziert wird, kann sie auch im großen gedeihen.

Insofern braucht Demokratie, wie Thomas Schmid zurecht betont, auch »Provinzialität«. Aber Provinzialität darf nicht zu Provinzialismus verkümmern, sie muß sich verbinden mit der Offenheit und Weitläufigkeit des Citoyen. Nur aus dieser Verbindung kann eine politische Kultur der Freiheit entstehen, deren Tugendkatalog Denis de Rougement in seinen <Notes pour une ethique du federalisme> präsentiert: Toleranz, Mut, aber auch die Pflicht, sich selbst zu leben (le courage, mais aussi le devoir d'etre soi), Liebe zur Vielfalt, Respekt vor dem Wirklichen, Sinn für das Paradoxe und Humor.48

So richtig es ist, daß freies und vielfältiges Leben in der Gesellschaft ohne die Beschränkung der staatlichen Regelungsund Interventionsansprüche und der Marktrationalität auf Dauer nicht möglich ist, so falsch wäre es, daraus zu schließen, die Abschaffung des Staates und die Aufhebung der Marktbeziehungen seien notwendige, wenn nicht gar zureichende Voraussetzungen für die Erweiterung unserer Freiheit.

47 Franz-Xaver Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem. Stuttgart, 2. Aufl. 1973, S. 226
48 Zitiert bei Thomas Schmid, Gemeindefreiheit. Über die Kontinuität einiger staatsabgeneigter Traditionen. In: Thomas Schmid (Hg.), Entstaatlichung, a.a.O. S. 134

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Der Markt ist sozial produktiv und freiheitsfördernd, wenn der Geltungsbereich seiner Gesetze limitiert und seine Ratio anderen Wertgesichtspunkten untergeordnet bleibt. Ebenso ist der Staat, insbesondere der demokratische, nicht der menschenfeindliche Moloch, die große Unterdrückungsmaschine, als die er neuerdings wieder gern dargestellt wird; vielmehr kann er als Garant der Menschenrechte, von Rechts- und sozialer Sicherheit, durch die Bereitstellung von Infrastrukturen für den Verkehr der Menschen miteinander Freiheit und Vielfalt fördern.

Zugleich ist aber auch eine Eindämmung der Marktrationalität im Sinne einer sozialen und ökologischen Zähmung des Marktes kaum anders denkbar als durch das Zusammenspiel von sozial-kulturellen und politischen Basisbewegungen und staatlicher Normensetzung. Und dies, obwohl, wie Martin Jänicke und andere überzeugend dargestellt haben, der Staat in den westlichen Demokratien de facto heute nur geringen autonomen Gestaltungsspielraum hat und sehr weitgehend zum Erfüllungsgehilfen der Ökonomie geworden ist.49

Robert Nozick hat in seinem Buch <Anarchy, State, and Utopia> die sympathische Vision einer Gesellschaft entwickelt, die den weiten institutionellen Rahmen abgibt, innerhalb dessen einzelne und Gruppen ihre je eigenen Utopien entwickeln und leben können. Dieses »Utopia«, schreibt er, »besteht aus Utopien, aus vielen verschiedenen und divergierenden Gemeinschaften, in denen Menschen unter verschiedenen Institutionen ganz verschieden leben.«50

Ich denke, daß die hier entwickelte Vorstellung einer freien zivilen Gesellschaft der Nozickschen Vision nahekommt.

 

49  Vgl. z.B. Martin Jänicke, <Staatsversagen. Die Ohnmacht der Politik in der Industriegesellschaft>, 1986;  sowie: <Wie das Industriesystem von seinen Mißständen profitiert>, Opladen 1979
50  Robert Nozick, Anarchy, State, and Utopia. New York 1974, S. 312     
Nozick

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Allerdings teile ich Nozicks Auffassung in einem wichtigen Punkt nicht: Ich glaube nicht, daß eine solche Struktur zur Befähigung utopischer Eigeninitiative durch den Rückzug des Staates auf die minimalstaatlichen Garantien entstehen kann. Mir erscheint es offensichtlich, daß ohne den Staat als Akteur und Gestalter unter unseren modernen Bedingungen jenes Maß an Chancengleichheit für alle, das Nozick im Auge hat, nicht geschaffen werden kann.

Die Rekonstruktion und Revitalisierung der zivilen Gesellschaft kann nur gelingen, wenn sie auch zum Ziel staatlicher Politik wird. Die Stärkung der Gemeinden, die Verbesserung ihrer Finanzausstattung, die Rückverlagerung von Entscheidungsbefugnissen nach unten, in die Gemeinden, die Regionen, die Länder, ist nach Lage der Dinge nur durch staatliche Gesetzgebung zu erreichen. Nicht minder wichtig ist die Veränderung des staatlichen Interventions­modells, von der nachträglichen Kompensation zur vorbeugenden Gestaltung, von der paternalistischen Betreuung zur wirklichen Hilfe zur Selbsthilfe, von der Verstaatlichung gesellschaftlicher Aufgaben zur infrastrukturellen Unterstützung gesellschaftlicher Selbstorganisation.

Flankiert werden müßte eine solche Korrektur des staatlichen Interventionsmodells durch eine Verschiebung vom konditionalen zum finalen Regelungstyp, also zugunsten gesetzlicher Regelungen, die zwar Ziele für alle verbindlich festsetzen, die Wahl der Mittel zur Erreichung der Ziele aber weitgehend offen lassen, so daß demokratische Partizipation auf lokaler und regionaler Ebene in viel höherem Maße als heute wirksam werden kann, ohne daß die Forderung nach Chancengleichheit für alle Bürger aufgegeben werden muß.51

51  Vgl. hierzu vor allem Johano Strasser, <Grenzen des Sozialstaats? Soziale Sicherung in der Wachstumskrise>. 1979 und 1983

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Daß große Sozialstrukturen per se häßlich, lebensfeindlich und freiheitszerstörend und kleine per se schön, lebendig und frei seien, ist nichts als eine fromme Legende. Kleine Lebensgemeinschaften können durch ein Übermaß an sozialer Kontrolle Freiheit ersticken, sie können in geistlosem Traditionalismus die schöpferische Entwicklung der Individuen hemmen, in ihnen können Priviligien und Formen personaler Herrschaft konserviert werden, die allen Vorstellungen von Gerechtigkeit und Menschenwürde widersprechen.

<Small is beautiful> gilt nur dann, wenn die kleineren Lebensgemeinschaften in größere eingebettet sind, wenn man sie verlassen kann, wenn man nicht auf Gedeih und Verderb auf sie angewiesen ist, wenn sie vom Geist der Toleranz und der Freiheit durchdrungen sind und die Privatsphäre des einzelnen respektieren.

Der letzte Punkt verdient besondere Beachtung, weil viele Linke, zumindest in der Theorie, die Trennung eines privaten von einem öffentlichen Bereich als bourgeoises Relikt, als Merkmal noch unemanzipierter Gesellschaftlichkeit ansehen und nicht begreifen, daß das Individuum einen nicht-öffentlichen Schutzraum braucht, um sich in souveräner Freiheit an der Diskussion und Entscheidung öffentlicher Belange beteiligen zu können.

Wo das Leben des einzelnen, wie es Amos Oz am Beispiel des Kibbuz Hulda schildert, allen »offenliegt wie ein Dorfplatz unter der Mittagssonne«52, ist der Zwang zur Anpassung und Rücksichtnahme größer, als für eine lebendige Demokratie gut sein kann.

Während in kleineren sozialen Einheiten die Gefährdung des Privaten vorwiegend von der Dichte der sozialen Kontrolle ausgeht, so in größeren von der Verrechtlichung und Vermarktung des Lebens. In beiden Fällen wird eine ebenso banale wie grundlegende Einsicht verletzt, nämlich die, daß zur persönlichen Freiheit notwendig auch ein Bereich gehört, in den kein anderer ungebeten seine Nase stecken darf.

Anders ausgedrückt: Frei ist eine Gesellschaft nur dann, wenn sie Freiräume bietet, wenn es in ihr hinreichend große Bereiche gibt, in denen das Handeln von einzelnen und Gruppen weder rechtlichen Normen noch moralischen Sanktionen unterworfen ist.

In einer Gesellschaft, in der es immer weniger Adiaphora, immer weniger moralisch und rechtlich indifferente Handlungen gibt, weil nahezu alles normiert ist, weil alles Handeln der Menschen ständig der Beobachtung und Beurteilung durch die anderen unterliegt, in einer solchen Gesellschaft wird Freiheit tatsächlich zur Einsicht in die Notwendigkeit und damit zum bloßen Schein und Selbstbetrug.

Freiheit ist mehr als die freiwillige Unterordnung unter das Gesetz, selbst dann, wenn das Gesetz aus freier Vereinbarung aller Gesellschaftsmitglieder hervorgegangen ist. Und gerade von diesem Mehr hängt es ab, ob eine Gesellschaft verknöchert, erstarrt oder zu lebendiger Weiterentwicklung fähig bleibt.

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52  Amos Oz, Elsewhere Perhaps. Roman. London 1966, S. 17

 

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