§ 7
Denn die große Hoffnung, die Marx und die besten der Arbeiterbewegung in allen Ländern beseelte: daß Freizeit schließlich den Menschen von der Notwendigkeit befreien und das Animal laborans produktiv machen würde, beruht auf den Illusionen einer mechanistischen Weltanschauung, die annimmt, daß die Arbeitskraft, gleich jeder anderen Energie, niemals verloren gehen kann und daher, wenn sie nicht in der Plage des Lebens verbraucht und erschöpft ist, automatisch frei wird für <das Höhere>. Hannah Arendt
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Wir kommen nun endlich zu jenem Bereich, von dem linke Kritiker des Kapitalismus in der Regel meinen, daß in ihm nahezu alle modernen Übel gründen, und von dem die Befürworter dieser Wirtschaftsordnung behaupten, daß ausgerechnet davon die Linke gar nichts verstehe — nämlich dem der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit.
In keinem Bereich — so mag es erscheinen — ist utopisches Denken weniger am Platz als hier, wo die Akteure nüchtern kalkulieren müssen, wo Fakten und Zahlen entscheiden, wo Phantasten und schlechte Rechner alsbald für alle sichtbar und nachrechenbar Schiffbruch erleiden. Und dennoch drehte sich das utopische Denken stets auch, oft vor allem, um die Frage einer humaneren, gerechteren und effizienteren Organisation der Arbeit.
Auf den ersten Blick scheint dies heute anders zu sein. Von verschiedener Seite wird, unterschiedlich begründet, eine Erschöpfung der arbeitsgesellschaftlichen Utopien konstatiert. Die jahrzehntelange Mißwirtschaft in den Ländern des sogenannten <realen Sozialismus> und die allen Prognosen über sein baldiges Ableben spottende Vitalität des Kapitalismus scheinen mittlerweile auch ehemals gläubige Marxisten-Leninisten davon überzeugt zu haben, daß es sich bei den Gesetzesmäßigkeiten des Kapitalismus um unumstößliche <Naturgesetze> der Ökonomie handelt, die man nur bei Strafe des Ruins vernachlässigen kann.
Ganz anders begründet ist die Ernüchterung, die bei denjenigen eingetreten ist, die die vielfältigen Rückstoßeffekte der industrialistischen Expansion und die Dysfunktionalitäten des Wohlfahrtsstaats zum Ausgangspunkt einer Kritik der modernen Arbeitsgesellschaft nehmen. Schließlich gibt es Soziologen wie Claus Offe, die, ausgehend von der Feststellung, daß die gesellschaftliche Prägekraft der Erwerbsarbeit in den hochentwickelten Industriegesellschaften abnimmt, eine Auswanderung des Konfliktpotentials und der Utopie in die lebensweltlichen Zusammenhänge (früher: <Reproduktionsbereich>) ausmachen.
Für Jürgen Habermas ist die Erschöpfung der arbeitsgesellschaftlichen Utopien der Hauptgrund für die politisch-kulturellen Orientierungsschwierigkeiten im postmodernen Zwielicht, die er mit dem Begriff der <Neuen Unübersichtlichkeit> zu charakterisieren sucht. »Die arbeitsgesellschaftliche Utopie«, schreibt er, »hat heute ihre Überzeugungskraft eingebüßt — und dies nicht nur, weil die Produktivkräfte ihre Unschuld verloren haben oder weil die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln offensichtlich nicht per se in Arbeiterselbstverwaltung einmündet. Vor allem hat die Utopie ihren Bezugspunkt in der Realität verloren: die strukturbildende und gesellschafts-formierende Kraft der abstrakten Arbeit.«53
Hand in Hand mit dem Bedeutungsverlust der Erwerbsarbeit geht nach Habermas eine manifeste Krise des wohlfahrtsstaatlichen Modells, die sich darin äußert, daß die »immer noch von der arbeitsgesellschaftlichen Utopie zehrende Sozialstaatsprogrammatik die Kraft verliert, künftige Möglichkeiten eines kollektiv besseren und weniger gefährdeten Lebens zu erschließen.«54
Die Schlußfolgerung, die Habermas mit vielen anderen aus dieser Deutung der Lage zieht, lautet: Gesellschaftsverändernde utopische Impulse kommen heute nicht mehr in der Arbeitswelt und in den ihr zugeordneten Organisationen zur Geltung, sondern in den lebensweltlichen Strukturen und den sich auf sie beziehenden Organisationen. Die Vorstellungen von Glück und Emanzipation haben sich von denen der Machtsteigerung und der Produktion gesellschaftlichen Reichtums abgekoppelt und werden gewissermaßen zu direkten Zielen sehr unterschiedlicher lebensweltlicher Entwürfe. Zusammengefaßt heißt das für Habermas: »Der utopische Gehalt der Kommunikationsgesellschaft schrumpft auf die formalen Aspekte einer unversehrten Intersubjektivität zusammen.«55
53 Jürgen Habermas, Die Neue Unübersichtlichkeit. Frankfurt/M. 1985, S. 146
54 a.a.O. S. 147
J.Habermas
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Ich habe nicht die Absicht, die Habermasschen Thesen, die in den zwei gewichtigen Bänden seiner <Theorie des kommunikativen Handelns> ausführlich erläutert werden, kritisch abzuhandeln. Ich möchte nur auf einen, allerdings wichtigen Punkt aufmerksam machen, nämlich den, daß Habermas in seinen Schlußfolgerungen sehr viel weiter geht, als seine Analyse tatsächlich reicht. Aus der Tatsache, daß das traditionelle Emanzipationsmodell, das die Befreiung des Menschen an den Typus industriegesellschaftlicher Rationalisierung koppelte, in die Krise geraten ist, folgert er, daß hinfort gesellschaftsverändernde Utopien sich nicht mehr auf die Arbeitswelt beziehen können, und aus der Tatsache, daß die traditionelle wohlfahrtsstaatliche Strategie in ein ähnliches Rationalisierungsdilemma führt wie die industrialistische Ökonomie, folgert er, daß als Träger gesellschaftsverändernder Impulse nunmehr nur noch die sogenannten <neuen sozialen Bewegungen> in Frage kommen. Beide Schlußfolgerungen erscheinen mir einseitig und überzogen und in keiner Weise gedeckt durch den analytischen Befund, den ich sonst im wesentlichen teile.
Es ist zweifellos richtig, daß in zunehmender Zahl, insbesondere junge Menschen die Suche nach Selbstverwirklichung auf andere Bereiche als den der beruflichen Arbeit verlagert haben,56 und sicher trifft auch zu, was Horst Kern feststellt, daß nämlich die modernen Arbeitnehmer »vorzugsweise nicht inner-, sondern außerhalb ihrer eigentlichen Arbeitsrollen mit der Mangelhaftigkeit der kapitalistischen Version des modernen Lebens konfrontiert werden.«57
55 a.a.O. S.161
56 Vgl. Rainer Zoll, Nicht wie unsere Eltern! Ein neues kulturelles Modell? Opladen-Wiesbaden 1988
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Aber daraus folgt keineswegs zwingend, daß sich gesellschaftliche Emanzipation heute vor allem oder gar ausschließlich außerhalb des Systems der Erwerbsarbeit und in Absehung davon vollziehen könne und müsse. Mit Recht hält Andre Gorz Habermas die Unzulänglichkeit seiner Analyse entgegen, »die hauptsächlich auf den in den <neuen sozialen Bewegungen> enthaltenen kulturellen Widerstand gegen die <Kolonialisierung der Lebenswelt> setzt«.
»Diese Bewegungen«, schreibt Gorz, »sind wohl anti-technokratisch, das heißt gegen die kulturelle Vormacht der führenden Schicht der herrschenden Klasse gerichtet, doch treffen sie die Herrschaftsverhältnisse bloß in ihren kulturellen Voraussetzungen und sozialen Folgewirkungen, nicht jedoch in ihrem ökonomisch-materiellen Kern.«58
Oskar Negt hat in seinem Buch <Lebendige Arbeit, enteignete Zeit> auf überzeugende Weise gezeigt, daß das Potential der arbeitsgesellschaftlichen Utopie noch nicht erschöpft ist, daß vielmehr der »utopische Kern, die Befreiung von heteronomer Arbeit« (Habermas), nach wie vor eine wichtige Rolle spielt, und zwar in dreierlei Gestalt: als Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit, als Erweiterung der Möglichkeiten zu selbstbestimmter Tätigkeit außerhalb des Erwerbsarbeitssystems und schließlich als Humanisierung der Erwerbsarbeit entsprechend den in lebensweltlichen Bezügen entstehenden höheren Ansprüchen bezüglich der Entfaltung der eigenen Persönlichkeit.
57 Horst Kern, Zur Aktualität des Kampfes um die Arbeit. In: Krämer/ Leggewie (Hg.), Wege ins Reich der Freiheit. Berlin 1989, S. 217
58 Andre Gorz, Der zentrale Konflikt und seine alten und neuen Akteure. In: Grebing (Hg.), <Sozialismus in Europa — Bilanz und Perspektiven>. Essen 1989, S. 72
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Im Gegensatz auch zu Andre Gorz, der in einigen früheren Publikationen, ausgehend von der Marxschen Dichotomie vom <Reich der Notwendigkeit> und vom <Reich der Freiheit> die Möglichkeit einer substantiellen Demokratisierung und Humanisierung im <Ernstbereich> der Ökonomie leugnete, hält Oskar Negt unbeirrbar daran fest, daß die Emanzipation der Arbeit nicht teilbar sei: »Befreiung der Arbeit und Befreiung von der Arbeit, soweit sie unter den der entfalteten Natur der Menschen unwürdigen Bedingungen stehen, sind zwei Seiten desselben Prozesses.«59
Oskar Negt versucht in seinem Buch wieder zu verknüpfen, was sich beim späten Marx, wohl unter dem Einfluß von Engels, getrennt hatte. Im dritten Band des <Kapital> hatte Marx die emphatischen Hoffnungen auf die Befreiung der Arbeit, die sich in seinen frühen Schriften finden, erheblich gezügelt. »Das Reich der Freiheit«, schreibt er nun,
»beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion ... Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehen, daß der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehn. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits dessen beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann. Die Verkürzung des Arbeitstags ist die Grundbedingung.«60
59 Oskar Negt, <Lebendige Arbeit, enteignete Zeit; Politische und kulturelle Dimensionen des Kampfes um die Arbeitszeit>. 1985, S. 211
60 Karl Marx, Kapital, Bd. 3. MEW 25, 828
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Aus dieser vielzitierten Stelle haben die meisten späteren Marxisten die Gleichsetzung des Reichs der Freiheit mit der Freizeit herausgelesen, was zugleich bedeutete, daß die Hoffnungen auf eine inhaltliche Humanisierung und Demokratisierung des Produktionsprozesses selbst als mit den Sachgesetzlichkeiten der Produktion unvereinbar weitgehend fallengelassen wurden. Friedrich Engels hat dies in der Auseinandersetzung mit den Anarchisten besonders deutlich gemacht. In dem Aufsatz <Von der Autorität> schreibt er: »Der mechanische Apparat einer großen Fabrik ist um vieles tyrannischer, als es jemals die kleinen Kapitalisten gewesen sind, die Arbeiter beschäftigen. Wenn der Mensch mit Hilfe der Wissenschaft und des Etfindergenies sich die Naturkräfte unterworfen hat, so rächen sich diese an ihm, indem sie ihn, in dem Maße, wie er sie in seinen Dienst stellt, einem wahren Despotismus unterwerfen, der von allen sozialen Organisationen unabhängig ist.«61
Auch an diesen Stellen können wir wieder beobachten, wie der bei Marx und Engels vorherrschende empathisch-rationalistische Freiheitsbegriff, der auf vollständige intellektuelle Durchdringung und restlose Beherrschung der Reproduktionsbedingungen des Menschen fixiert ist, den Blick für jenes Maß an möglicher Freiheit trübt, das der condition humaine angemessen ist. Weil die Naturbedingungen der Produktion nicht aufgehoben werden können, weil auch der moderne Mensch »mit der Natur ringen muß, um seine Bedürfnisse zu befriedigen«,62 bleibt der Bereich der materiellen Produktion unter allen gesellschaftlichen Bedingungen ein despotischer Apparat.
Zugleich soll aber dieser Stoffwechsel mit der Natur dennoch »rationell« geregelt und unter die »gemeinschaftliche Kontrolle« der »assoziierten Produzenten« gebracht werden, was schon von der Aufgabenstellung her auf nicht viel mehr als eine höchst abstrakte,
61 Friedrich Engels, Von der Aurorität. MEW 18, 306
62 Karl Marx, Kapiral, Bd. 3. MEW 25, 828
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jedenfalls für den einzelnen nicht konkret erfahrbare Demokratisierung hinauslaufen kann, de facto aber zu jener Form der Verstaatlichung führte, die die Despotie des mechanischen Apparats nur verallgemeinerte.
Was sich von den Marxschen Vorstellungen als richtig erwiesen hat, ist die Orientierung auf die Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit. Hier haben sich gerade in den letzten Jahrzehnten phantastische neue Möglichkeiten eröffnet, die alles übertreffen, was Marx und Engels zu ihrer Zeit für erreichbar hielten. Gleichzeitig haben wir aber Grund, anzunehmen, daß der Befreiung von der Arbeit doch engere Grenzen gesetzt sind, daß die »totale Automation« mitnichten »das Optimum« wäre, wie es Herbert Marcuse noch 1955 in <Triebstruktur und Gesellschaft> behauptete. Es gehört schon ein geradezu religiöser Glaube an die Wunderkraft der Dialektik dazu, um allen Ernstes zu schreiben: »Je vollständiger die Entfremdung der Arbeit, desto größer das Potential der Freiheit.«63
Mit Recht hat Lewis Mumford die Naivität einer solchen Auffassung beklagt: »Was die mögliche Schaffung einer vollautomatisierten Welt betrifft, so können nur Ahnungslose ein solches Ziel als den höchsten Gipfel menschlicher Entwicklung ansehen. Es wäre eine Endlösung der Menschheitsprobleme nur in dem Sinne, in dem Hitlers Vernichtungsprogramm eine Endlösung des Judenproblems war.«64
In der Tat können wir heute absehen, daß die Befreiung von der Arbeit und die Schaffung eines Wunderlandes vollautomatisierter Produktion (ein Traum, den Kapitalisten und Sozialisten lange gemeinsam geträumt haben) zu teuer erkauft würden: mit einer radikalisierten Abhängigkeit von anonymen Apparaten, mit einer weiteren Verfestigung demokratisch nicht oder nur schwer kontrollierbarer Macht und mit ungeheuren Risiken, deren Bewältigung allenfalls mit einem unökonomischen und freiheitsvernichtenden Maß an Sicherheitsvorkehrungen zu leisten wäre.
63 Herbert Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft. Frankfurt/M. 1978, S. 155 H.Marcuse
64 Lewis Mumford, Mythos der Maschine. Frankfurt/M. 1977, S. 541 L.Mumford
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Außerdem müssen wir uns fragen, welchen vernünftigen Sinn es machte, dem Schaffensdrang des Menschen, der doch von Natur ein produktives, ein schöpferisches Wesen ist, alle Gelegenheit der Bewährung in der ernsten Arbeit zu nehmen, nur um ihm mehr und mehr Möglichkeiten zur ersatzweisen Betätigung in der Freizeit zu bieten.
Vollends unsinnig und illusionär wird das Ziel einer völligen Befreiung von der Arbeit, wenn man den Begriff der Arbeit weiter faßt, als es üblich ist, ihn also nicht willkürlich auf die angeblich allein produktiven Sektoren der Erwerbsarbeit einschränkt.
Daß der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgehe, diese Prognose Ralf Dahrendorfs hätte eine gewisse Berechtigung allenfalls für die rationalisierbaren und automatisierbaren Bereiche der Erwerbsarbeit, sie gilt nicht für Wartungs- und Überwachungstätigkeiten, erst recht nicht für das Gros der handwerklichen Tätigkeiten, für die personenbezogenen Dienstleistungen, die bezahlten und die nichtbezahlten, für die meisten wissenschaftlichen, künstlerischen und anderen kreativen Tätigkeiten, für die professionalisierte und nicht-professionalisierte politische Arbeit, für die vielfältigen Formen der Eigenarbeit, der Nachbarschaftshilfe, der Tätigkeit in Selbsthilfegruppen und karitativen Projekten und so weiter.
Dies bedeutet aber nichts anderes, als daß die Befreiung der Arbeit, das heißt die Schaffung möglichst menschenwürdiger Bedingungen, unter denen sie verrichtet wird, ein wichtiges Ziel des Sozialismus bleiben muß. Wir könnten auch sagen, daß eine Umorganisation der Arbeitswelt (im umfassenden Sinn) nach dem Maßstab der <lebendigen> Arbeit, also nach den Bedürfnissen der Menschen, die in ihr tätig sind, und nicht nur nach den Bedürfnissen der Menschen, sofern sie Konsumenten und Empfänger von Leistungen sind, durch die sich abzeichnenden Möglichkeiten einer drastischen Arbeitszeitverkürzung in einigen Sektoren der gesellschaftlichen Arbeit keineswegs hinfällig wird.
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Die von Andre Gorz seinerzeit in dem Buch <Abschied vom Proletariat> empfohlene Strategie, die Hierarchisierung, Zerstückelung und Sinnentleerung der Arbeit in der Produktion des <sozial Notwendigen> als unabwendbar hinzunehmen und sich »neben und über dem Apparatekomplex größere Autonomiespielräume zu erobern, die der gesellschaftlichen Logik entzogen sind, sich ihr widersetzen und eine ziemlich uneingeschränkte Entfaltung der individuellen Existenz erlauben«65, erscheint mir in mehrerlei Hinsicht bedenklich.
Einmal faßt Gorz hier den Begriff der <sozial notwendigen Arbeit> viel zu eng, wenn er ihn stillschweigend mit der in hohem Maße rationalisierbaren und automatisierbaren Produktion gleichsetzt. Zum andern ist es extrem unwahrscheinlich, daß sich der von ihm ins Auge gefaßte <autonome Sektor> zum gesellschaftlich bestimmenden Faktor entwickeln kann, wenn die Menschen in allen Belangen der Lebensfristung von einer extrem hierarchischen, zentralisierten und damit autonomiefeindlichen Produktionsweise abhängig bleiben.
Das Hauptproblem ist — ähnlich wie bei Marx — die unfruchtbare Radikalität, mit der Autonomie und Heteronomie einander entgegengesetzt werden. Befreiung der Arbeit hat hier nur dann einen Sinn, wenn sie auf uneingeschränkte Selbstbestimmung hinausläuft. Alles, was diesem radikalisierten Anspruch nicht genügt, gilt als fremdbestimmt und damit als prinzipiell unerreichbar für Strategien der Humanisierung und Demokratisierung. Natürlich kann in dem hocharbeitsteiligen Sektor der Produktion, in dem vieles für uns Lebenswichtige hergestellt wird, von Selbstbestimmung der arbeitenden Menschen im genauen Sinn nicht die Rede sein.
65 Andre Gorz, Abschied vom Proletariat. Frankfurt 1980, S. 67 A.Gorz
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Selbst wenn es eine demokratische Beschlußfassung über die Produktionsziele und Verfahren gäbe (was in der Praxis schon schwierig genug zu organisieren wäre), müßten sich die Arbeiter den Anforderungen des vereinbarten Produktionsprozesses, das heißt einer Disziplin unterwerfen, die ihnen zwangsläufig als ein Moment der Fremdbestimmung erschiene. Aber innerhalb dieser Grenzen sind sehr unterschiedliche Grade an Mitbestimmung, sehr unterschiedliche Möglichkeiten der Entwicklung der eigenen Fähigkeiten, sehr unterschiedliche Belastungen und Herausforderungen denkbar. Und wenn von Befreiung der Arbeit die Rede ist, dann geht es in Wirklichkeit fast immer um solche sozialdemokratischen <Halbheiten> und so gut wie nie um Selbstbestimmung pur oder Fremdbestimmung pur. Das scheint inzwischen auch Gorz so zu sehen; denn neuerdings spricht er in diesem Kontext ganz reformistisch von der Möglichkeit der »Autonomie in der Heteronomie«66.
Kein Zweifel, daß durch die sich heute abzeichnenden Möglichkeiten der Arbeitszeitverkürzung in der Erwerbsarbeit der Raum für eine im genaueren Sinn freie Tätigkeit erweitert wird. Zugleich zeigt sich zur allgemeinen Überraschung, daß die Träume von der Überwindung der rigiden Arbeitsteilung und der lebenslangen Berufsfixierung, die wir beim jungen Marx finden, heute auf einmal gar nicht mehr so lebensfremd erscheinen. Die Marxsche Utopie einer Gesellschaft, in der es jedem freistünde, »heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu betreiben, nach dem Essen zu kritisieren, ... ohne je Jäger, Fischer oder Hirt oder Kritiker zu werden«,67 würde heute durchaus nicht belächelt werden, hätte Marx die für unsere Zeit passenden Beispiele gewählt.
66 Andre Gorz, Der zentrale Konflikt..., a.a.O. S. 70
67 Karl Marx, Deutsche Ideologie. In: Frühschriften, ed. Landshut, S. 361
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Die Halbtagsputzfrau, die nachmittags ihren eigenen Haushalt besorgt und dreimal die Woche abends in der Volkshochschule Fremdsprachenunterricht erteilt, gibt es längst ebenso wie den Journalisten, der zweimal in der Woche in einer Kindertagesstätte arbeitet und samstags und sonntags in der Küche eines Restaurants aushilft. Und sicherlich wäre eine solche Diversifizierung der Arbeit noch weit häufiger, wenn wir flexiblere Arbeitszeiten und eine ausreichende arbeitsrechtliche und soziale Absicherung von Teilzeitarbeitsplätzen hätten. Hier eröffnen sich Möglichkeiten einer Befreiung und Humanisierung der Arbeit, die die traditionelle Linke noch gar nicht wahrgenommen hat.
Aber auch im Kernbereich der industriellen Produktion kann von einer unausweichlich fortschreitenden Zentralisierung, Hierarchisierung und Zerstückelung der Arbeitsvorgänge, wie sie Gorz einst annahm, keine Rede sein. Neue Techniken bieten Möglichkeiten der produktionstechnischen Dezentralisierung und der Anreicherung der Arbeitsinhalte, die im Sinne einer gradualistischen Strategie der Befreiung der Arbeit genutzt werden können. Auch die von Michael Schumann und Horst Kern durchgeführten Untersuchungen über die Folgen der Rationalisierung für die Industriearbeiter belegen keineswegs den früheren Gorzschen Pessimismus.68 Schließlich ist es durchaus nicht abwegig, darauf zu setzen, daß bei wachsender Freizeit und einem erhöhten Anteil der freien Tätigkeit am Gesamtumfang der geleisteten Arbeit sich allmählich auch die Ansprüche der Menschen an die Arbeitsbedingungen im hocharbeitsteiligen Sektor der industriellen Produktion wandeln.
68 Vgl. Michael Schumann + Horst Kern, Neue Produktionskonzepte haben Chancen. In: Mitteilungen des Soziolog. Forschungsinstituts Göttingen, Nr. 9, Februar 1984
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Richard E. Walton hat schon Anfang der 70er Jahre einen solchen Wandel festgestellt und der traditionellen Arbeitsauffassung die seiner Meinung nach sich neu herausbildenden höheren Ansprüche an Form und Inhalt der Arbeit gegenübergestellt.69
Möglicherweise ist die Rede von der Erschöpfung des arbeitsgesellschaftlichen Utopiepotentials doch etwas voreilig, und vielleicht erweist es sich bald, daß die vielfach (und nicht immer zu unrecht) als traditionell borniert und innovationsunfähig kritisierten Gewerkschaften mit ihrem Kampf um die Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit, um neue Arbeitszeitregelungen, um die soziale und arbeitsrechtliche Absicherung der Teilzeitarbeit, um die Humanisierung der Arbeit und um eine effektive Mitbestimmung keineswegs weniger als die neuen sozialen Bewegungen Anteil daran haben, den Horizont des gesellschaftspolitisch Möglichen zu erweitern und damit dem Traum vom besseren Leben wieder Anhaltspunkte in der Realität zu geben, vor allem, wenn die Verkrampfung bezüglich der Flexibilisierung der Arbeitszeiten, die die Gewerkschaften lange behinderte, sich jetzt allmählich löst.
Wenn die sich bereits abzeichnenden neuen Möglichkeiten der Arbeitszeitregelung in der Erwerbsarbeit mit einem Umbau des Sozialstaats einhergehen, eröffnet sich die Vision einer anderen Arbeitsgesellschaft, die allen, auch den Frauen, die Teilnahme an der Erwerbsarbeit unter menschenwürdigen Bedingungen erlaubt, die im Zeitbudget eines jeden die Gewichte zwischen Erwerbsarbeit und Nichterwerbsarbeit (unter Einschluß der freien Tätigkeit) verschiebt und damit auch eine gerechtere Verteilung der Haushalts- und Familienarbeit zwischen den Geschlechtern ermöglicht und die gleichzeitig die Chancen zur Humanisierung und Demokratisierung der Erwerbsarbeit voll ausschöpft.
69 Richard E. Walcon, How to Counter Alienation in the Plants. In: Harvard Business Review, November/Dezember 1972
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Neben vielen anderen Vorzügen hat diese Vision den Vorzug, daß sie nicht die Spaltung der Gesellschaft in einen dominanten <heteronomen> und einen davon in allen wichtigen Belangen abhängigen <autonomen> Bereich als unabänderliches Schicksal in Kauf nimmt. Und da die Zukunft der Demokratie nicht unwesentlich davon abhängen dürfte, daß bei aller Pluralisierung der Lebensstile und bei aller <multikulturellen> Prägung der modernen Gesellschaft dennoch ein ausreichend starkes Band gemeinsamer Erfahrungen und ein gemeinsamer Raum politisch-kultureller Öffentlichkeit die Individuen verbindet, erhält dieser Gesichtspunkt erhebliches Gewicht.
Im übrigen halte ich die Abwendung des utopischen Denkens von den arbeitsgesellschaftlichen Bezügen auch dann für unberechtigt, wenn man, wie es bei den meisten Vertretern dieser Position der Fall ist, die ökologische Bedrohung wirklich ernst nimmt.
Der Kampf um die Veränderung der industrialistischen Produktionsweise, um die Internalisierung ökologischer Gesichtspunkte im Produktionsprozeß, um die Durchsetzung eines anderen, ökologische Parameter berücksichtigenden Rationalisierungsmodells, aber auch der Schutz der sozialen Lebenswelten kann erfolgreich nicht nur von den Rändern der Gesellschaft, von den sich in den lebensweltlichen Zonen ansammelnden Leidenserfahrungen her geführt werden. Im Gegenteil: Die von den neuen sozialen Bewegungen auf die Tagesordnung gesetzten Probleme können nur zusammen mit den neuen arbeitsgesellschaftlichen Problemen angepackt werden.
Zwar glauben auch die meisten Sozialisten heute nicht mehr daran, daß es möglich sei, die Wirtschaft nach einer der kapitalistischen entgegengesetzten Logik effizient zu organisieren, sondern sprechen eher, wie neuerdings auch Andre Gorz, von der »Einbindung kapitalistischer Rationalität in demokratisch ausgearbeitete Rahmenbedingungen« oder von der Unterordnung der ökonomischen Rationalität unter »gesellschaftlich-kulturelle Ziele«,70 aber dies bedeutet nicht, daß nunmehr die Ökonomie und die auf ihr basierenden Versorgungs- und Sicherheitssysteme mehr und mehr aus dem Blick gerieten.
Die Utopie einer sich in lebensweltlichen Bezügen realisierenden »unversehrten Intersubjektivität« (Habermas) bliebe bodenlos und damit ohnmächtig, wenn sie nicht mit der Utopie einer neuen Arbeitsgesellschaft und der einer auf die Freiheit des Individuums und auf gesellschaftliche Selbstorganisation ausgerichteten Sozialstaatlichkeit verbunden würde.
Tatsächlich läuft die Entwicklung in den meisten fortgeschrittenen Industriestaaten des Westens auf eine solche Verbindung hinaus. Die sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien, in Italien auch die kommunistische Partei, öffnen sich programmatisch den Anliegen der neuen sozialen Bewegungen, modifizieren ihre arbeitsgesellschaftlichen und wohlfahrtsstaatlichen Konzeptionen und werden so neben den Grünen Parteien, mit denen sie nicht selten Bündnisse eingehen, zu Interessenvertretern auch jener Gruppen, deren Konflikterfahrungen und politische Zielvorstellungen vor allem aus der Bedrohung der Lebenswelten durch den Staat und das Industriesystem herrühren.
Daß ein solcher Prozeß der sozialen und kulturellen Integration sehr unterschiedlicher Milieus mit oft stark divergierenden Lebenserfahrungen und Lebenserwartungen nicht konfliktfrei verläuft, versteht sich von selbst. Aber schon sind die personellen und programmatischen Überschneidungen zwischen den alten und den neuen sozialen Bewegungen so groß, daß wir hoffen dürfen, daß die Synthese gelingt und aus dieser Synthese eine Vision der künftigen Gesellschaft entsteht, die das alte Freiheitsversprechen unter veränderten Bedingungen als realisierbar erweist.
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70 Andre Gorz, Der zentrale Konflikt..., a.a.O. S. 76, 69
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