Oskar Negt


Nur noch Utopien sind realistisch
Perspektiven und Wegweisungen
für eine solidarische Gesellschaft
2014  DNB.Buch  47 Seiten + DVD


Audio - Blocksee-Schule
Zum 80sten Geburtstag - 18min - DLF 2014


2024 Audio Nachruf 5 min

Oskar Negt - Nur noch Utopien sind realistisch

wikipedia.Autor  *1934 in
Ostpreußen bis 2024 (89)

DNB Name (263)

DNB  Person (118+)

DNB  Nummer (167)

Bing Autor   Goog Autor


detopia:   Umweltbuch 

N.htm   Sterbejahr

Utopiebuch   2010-Buch


Gorz   Gizycki   Grottian 

Honneth   Habermas

2024   demokratisierung-aller-lebensbereiche-zum-tod-des-sozialphilosophen-oskar-negt-dlf  Nachruf

 

2012:

 

 

 

 

Utopien aufsammeln - Zum 80. Geburtstag 2014 (Von Rudolf Maresch)

heise   Utopien aufsammeln und dafür   --  Theoriefähigkeit und Phantasie entwickeln  

 


Negt - Schriften - aus Wikipedia 2020

 

  1. 1964 - Strukturbeziehungen zwischen den Gesellschaftslehren Comtes und Hegels. Frankfurt am Main 1964.

  2. 1968 - Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen. Zur Theorie der Arbeiterbildung. Frankfurt 1968.

  3. 1968 - Die Linke antwortet Jürgen Habermas. Frankfurt am Main 1968.

  4. 1971 - Politik als Protest. Reden und Aufsätze zur antiautoritären Bewegung. Frankfurt 1971.

  5. 1972 - Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit. Frankfurt am Main 1972.

  6. 1976 - Keine Demokratie ohne Sozialismus. Über den Zusammenhang von Politik, Geschichte und Moral. Frankfurt 1976.

  7. 1981 - Geschichte und Eigensinn. Geschichtliche Organisation der Arbeitsvermögen - Deutschland als Produktionsöffentlichkeit - Gewalt des Zusammenhangs.

  8. 1984 - Lebendige Arbeit, enteignete Zeit. Politische und kulturelle Dimensionen des Kampfes um die Arbeitszeit. Frankfurt 1984.

  9. 1988 - Modernisierung im Zeichen des Drachen. China und der europäische Mythos der Moderne. Reisetagebuch und Gedankenexperimente. Frankfurt 1988.

  10. 1989 - Die Herausforderung der Gewerkschaften. Plädoyers für die Erweiterung ihres politischen und kulturellen Mandats. Frankfurt 1989.

  11. 1992 - Maßverhältnisse des Politischen: 15 Vorschläge zum Unterscheidungsvermögen. Frankfurt 1992.

  12. 1994 - Kältestrom. Göttingen 1994

  13. 1994 - Unbotmäßige Zeitgenossen. Annäherungen und Erinnerungen. Frankfurt 1994.

  14. 1995 - Achtundsechzig. Politische Intellektuelle und die Macht. Göttingen 1995.

  15. 1997 - Kindheit und Schule in einer Welt der Umbrüche. Göttingen 1997.

  16. 1998 - Königsberg – Kaliningrad. Reise in die Stadt Kants und Hamanns. Göttingen 1998.

  17. 1998 - Warum SPD? 7 Argumente für einen nachhaltigen Macht- und Politikwechsel. Göttingen 1998.

  18. 2002 - Der unterschätzte Mensch. Frankfurt 2001. (Kompilation der Zusammenarbeit mit Alexander Kluge)

  19. 2001 - Arbeit und menschliche Würde. Göttingen 2001

  20. 2003 - Kant und Marx. Ein Epochengespräch. Göttingen 2003

  21. 2004 - Wozu noch Gewerkschaften? Eine Streitschrift. Steidl Verlag, 2004

  22. 2006 - Die Faust-Karriere. Vom verzweifelten Intellektuellen zum gescheiterten Unternehmer. Göttingen 2006

  23. 2010 - Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform. Steidl Verlag, Göttingen 2010

  24. 2012 - Gesellschaftsentwurf Europa: Plädoyer für ein gerechtes Gemeinwesen. Steidl Verlag, Göttingen 2012

  25. 2012 - Nur noch Utopien sind realistisch: Politische Interventionen. Steidl Verlag, Göttingen 2012

  26. 2016 - Überlebensglück. Eine autobiografische Spurensuche. Steidl Verlag, Göttingen 2016. Bing.Buch

  27. 2016 - Werksausgabe. Steidl Verlag, Göttingen 2016

  28. 2019 - Erfahrungsspuren. Eine autobiographische Denkreise. Steidl Verlag, Göttingen 2019

  29. 2019 - Politische Philosophie des Gemeinsinns. Ursprünge europäischen Denkens: Die griechische Antike. Steidl Verlag, 2019

  30. 2020 - Politische Philosophie des Gemeinsinns - Band 2: Philosophie und Gesellschaft: Immanuel Kant. Steidl Verlag, 2020

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Zum achtzigsten Geburtstag

von Oskar Negt

Utopien aufsammeln
und dafür Theoriefähigkeit und Phantasie entwickeln

03. August 2014 – Rudolf Maresch

heise.de/tp/features/Utopien-aufsammeln-und-dafuer-Theoriefaehigkeit-und-Phantasie-entwickeln-3493678.html

Das Interview wurde am 04.09.1992 geführt.

 

Brüche, Zusammenbrüche und moralische Wüsten

? Oskar Negt, Sie gelten als einer der intellektuellen Protagonisten der 68er Protestbewegung. In einer Diskussionsrunde mit linken Intellektuellen haben Sie Anfang der 80er Jahre den Mai ‘68 als "den spektakulären Anfang einer ganz neuen Epoche bezeichnet". Auch wenn sich heute sicher eine gewisse natürlich-kritische Distanz zu diesen Ereignissen eingestellt haben dürfte, möchte ich Sie zu Beginn unseres Gesprächs zunächst fragen, ob Sie zu diesem Urteil auch heute noch, post anno ‘89, stehen?

Oskar Negt: Die Rede von Epochenschwellen zum Zeitpunkt, da die Ereignisse noch im Flusse sind, ist immer riskant. Auf Ihre Frage aber, ob sich hier ein neues Zeitgefühl, ein neues Bewußtsein auch der Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft, Bedürfnissen und Institutionen herausgebildet hat, kann ich - über zwanzig Jahre später und unter Berücksichtigung neuer Umbrüche - mit einem eindeutigen Ja antworten.

Eine neue Zeit ist angebrochen, in der viele der Kategorien, die sich aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts gebildet hatten, neu definiert werden. Auch wenn dieses Jahrhundert sicherlich eines der blutigsten der Geschichte ist - so viele Tote in einem so kurzen Zeitraum hat es nie gegeben -, so ist es doch auch eines der produktivsten gewesen, vor allem was die Veränderungen von Staatssystemen, von Nationalbewusstsein, von kultureller Integrität und Integration anging, schließlich in künstlerischer und theoretischer Produktivität.

Dieses ganze Jahrhundert zehrte in hohem Maß von diesen Brüchen, Zusammenbrüchen und Neuaufbauphasen. Trotz gewaltiger, auch kultureller Zerstörungen auf der einen Seite und gleichzeitigen Aufbrüchen und Neuentwürfen in der Kunst, der Literatur und der Philosophie auf der anderen Seite sind alle diese Dinge vorher nicht wirklich in die Subjekte eingedrungen. Erst als die verselbständigte Objektivität der Welt für einen Augenblick zurückgenommen und neu bearbeitet werden konnte, bildete sich eine neue Dialektik von Subjekt und Objekt.

Für mich bedeutet diese Protestbewegung: dass Subjektivität und die Rechte des Besonderen eingeklagt werden können; dass wir Politik nur machen können, wenn wir beteiligt werden; und dass Organisationen die Bedürfnisse der Individuen zu berücksichtigen haben - der Gedanke der Partizipation, der Mit- und Selbstbestimmung und der Erziehung in diesem Sinn. In vielen Bereichen dokumentiert sich das heute: im Erziehungswesen, in der Frage der Beziehung zur Sexualität, in der Frage der Aufarbeitung der Vergangenheit usw.

Im westdeutschen Nachkriegssystem ist die Vergangenheit nach 1945 nicht aufgearbeitet, geschweige denn durchgearbeitet worden, wie Freud Aufarbeitung verstand, nämlich Spuren, Materialien und Erinnerungen aufsuchen und sie durcharbeiten. Erst zwanzig Jahre später beginnt, verknüpft mit einem Generationenkonflikt, so etwas wie eine Aufarbeitung der Vergangenheit. Erst die Nachkriegsgeneration, die die Schwere des Krieges in der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht mehr miterlebt hat, verfügt subjektiv über einen größeren Spielraum in der Bewegung ihrer Phantasie und ihres Oppositionsgeistes.

Vieles davon kehrt 1989 in den Bewegungen gegen die autoritären sozialistischen Systeme wieder, in Gestalt des Einklagens subjektiver Bedürfnisse als bestimmende Form der politischen Tätigkeit. Bürgerinitiativen, Einklagen von Menschenrechten, Menschenketten, Massenansammlung von Menschen auf großen Plätzen, die Wiederinbesitznahme dieser Plätze durch Menschen, die nicht mehr mitmachen wollen - alles das sind Politikformen des Massenprotests, die vorgeprägt wurden im Mai ‘68 in Frankreich, ‘68, ‘69 in Deutschland und vorher in den Vereinigten Staaten. Die Berkeley-Bewegung mit ihren Sit-ins und Go-ins hat prägend auf die rebellierenden Politikformen einer ganzen Epoche gewirkt, die noch nicht abgeschlossen ist.

 

? Wenn Sie sagen, "diese Protestformen kehren anno ‘89 wieder", dann stimmt das m. E. nur zum Teil. Der gewitzte J. Baudrillard hat den Westen bereits kurz nach dem Stattfinden der Bürgerrevolutionen vor einer Virusinfektion durch den Osten gewarnt und zugleich damit die Warnung verbunden, die plötzlich entbundene Freiheit und Freizügigkeit im auseinandergefallenen Osten könnte in die "Blutbahnen des Westens eindringen und ihn seinerseits destabilisieren". A. Glucksmann befürchtet inzwischen gar die Wiederholung dieses ganzen Jahrhunderts.

?Und wenn ich gleich anschließen darf. Ich bin gar nicht so überzeugt, ob der Sozialismus, wie Sie in den "Maßverhältnissen" schreiben, auf dem Feld des Politischen eine Leerfläche hinterlassen hat. Wie die Bürgerkriegsszenarien der letzten Woche in Rostock gezeigt haben, ist dieser "organlose Körper" überhaupt nicht leer, sondern mit den vielfältigsten, auch niedersten Bedürfnissen und Wünschen angefüllt. Die eigentliche Katastrophe des Sozialismus besteht meiner Einschätzung nach weniger in der ökonomisch- ökologischen Verwüstung der Landschaft als in der Hinterlassenschaft einer moralisch- ethischen Wüste. Im Vergleich mit dem, was an Spießertum und kleinbürgerlichem Muff und Mief hervorgekehrt worden ist, stellt der kurzfristige Protest, das kurzzeitige Aufbrechen des "Kontinuums der Geschichte" doch ein Epiphänomen dar.

 

Oskar Negt: Überall dort, wo Geschichte oder geschichtlich gestellte Probleme nicht ausgetragen werden oder keine Zeit haben sich auszutragen, machen sich die unbewältigten Probleme in Gestalt einer "Wiederkehr des Verdrängten" geltend. Und zwar umso verdrehter, je weniger Ausdrucksformen vorhanden waren, Probleme öffentlich zu machen und sie durchzuarbeiten. Das trifft besonders die Verfasstheit der sozialistischen und kommunistischen Länder im Ostblock. Keines der Probleme, die Marx in seiner Religionskritik angedeutet hatte, ist dort tatsächlich gelöst worden. Marx sagt darin: Religion kann man nicht abschaffen. Sie kann nur abschaffen, genau wie der Staat als Klasseninstitution.

Solange es das konkrete Elend gibt, solange es die Selbstzerrissenheit des Daseins gibt, entsteht eine kompensatorische Deutung der Welt, ein Beruhigungsmittel der Menschen. Religion hat etwas mit der Struktur der Gesellschaft zu tun. Deshalb muss man an die Veränderung dieses entwürdigten und vereinsamten Daseins gehen und nicht, wie im Ostblock, Geld in die atheistische Propaganda stecken, den Bau von Kirchen verbieten oder andere Institutionen einfach abschaffen wollen. Nach Marx zerstört der Sozialismus die entfalteten Formen des bürgerlichen Lebens nicht, sondern entwickelt sie weiter. Für Marx ist klar: Die bürgerliche Gesellschaft lebt von Öffentlichkeit und Kritik, sie ist ein Rechtsstaat und kennt keine Zensur.

Alle diese Mechanismen werden in diesen nachgeholten Industrialisierungssystemen, die sich auf der Grundlage einer zunächst proletarisch-bäuerlichen Revolution gründen, als bürgerlich denunziert und dienen dazu, die eigene Identität durch Ausgrenzung aufzubauen. Die Ausgrenzung der westlichen Denkweise wird zum Argument für die Integrität dieses Sozialismus. Dadurch entsteht in diesen Systemen ein wachsender Erfahrungsverlust im weltgeschichtlichen Kontext. Nicht nur, was den Austausch der Intellektuellen untereinander angeht, auch die Erfahrungsfähigkeit der Bevölkerung, wie die Welt sich weiter entwickelt hat, wird auf lange Zeit blockiert. Die Lebensstandardfrage dringt immer stärker durch die Medien in diese Systeme. Dass der Kapitalismus einen höheren Lebensstandard hat; dass die Propaganda, der Kapitalismus führe zu Verarmung und Elend nicht zutrifft, nimmt allmählich auch Besitz von den Köpfen dieser Menschen.

Sie haben mit Recht gesagt: Die Ökonomie und ihr Darniederliegen ist nicht das Hauptproblem. Die Frage, ob die deutsche Einheit finanzierbar ist, ist eindeutig zu verneinen. Sie ist auf der Ebene der Ökonomie nicht bezahlbar. Sie ist nur bezahlbar, wenn Prozesse in Gang kommen, die ganz anders ansetzen, beispielsweise bei der Bildung der Leute, bei der Beratung, und bei Formen, in denen sie sich selbstbewusst ausdrücken können, in denen sie lernen mit Rechtsproblemen umzugehen und in denen viele Dinge, die selbst in brüchigen Formen der bürgerlichen Gesellschaft selbstverständlich geworden sind, zu ihren inneren Bestandteilen werden.

Diese gesellschaftlichen Lern- und Bildungsprozesse sind zentral für die Reorganisation dieser Gesellschaft. Dagegen ist die Ökonomie buchstäblich ein abgeleitetes Problem. Oder umgekehrt: Man kann Millionen und Milliarden an Unterstützungsgeldern in den Wiederaufbau dieser Länder hineinpumpen. Einen nennenswerten Erfolg werden sie aber nur dann erreichen, wenn sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die Veränderung der Subjekte ergeben, und diese Veränderungen zentral mit dem In-Gang-setzen von Prozessen zur Bewältigung der eigenen Vergangenheit verknüpft werden.

Möglicherweise sind Geldmittel, um Gremien und Organisationen zu schaffen, den Menschen bewusst zu machen, woher sie kommen, was sie gemacht haben, wie sie innerlich beteiligt gewesen sind an den Prozessen, wovon sie gelebt haben, was diese Daseinsfürsorge, die jetzt weggefallen ist, für sie bedeutet hat - möglicherweise sind Investitionen in solche politischen Bildungsprozesse langfristig viel kostensparender als der Aufbau eines Unternehmens, das im EG-Zusammenhang schnell wieder zugrunde geht. Diese Subjektseite, die sich jetzt zeigt, hat sicher damit etwas zu tun, dass die öffentlichen Ausdrucksformen, auf die Alexander Kluge und ich immer wieder beharren, fast vollständig gefehlt haben. Gefühle und Bedürfnisse konnten sich nicht wirklich realitätsgerecht entwickeln.

Es gab nur einen Bedürfnis- und Gefühlsstau, der überschüssig war und nicht realitätsangemessen ist. Realitätsunangemessene Gefühlsstaus führen zu Ersatzhandlungen. Der Glaube, man könne durch "ethnische Säuberung", siehe Serbien oder Georgien, die eigenen und vor allem sozialen und kulturellen Probleme lösen, ist eine solche Täuschung. Sie führt in der Tat - darin mag A. Glucksmann recht haben - zurück , aber nicht ins 19. Jahrhundert, sondern weit vor das 19. Jahrhundert. Denn die Nationalstaatsfrage im 19. Jahrhundert hat sich bekanntlich nicht an der Stammesgeschichte organisiert. Ganz im Gegenteil: Gerade der Territorialstaat versuchte, die Stammesunterschiede und die Religionskonflikte zu neutralisieren. Vermutlich geht es viel weiter in eine archaische Geschichte zurück, die vorstaatlich ist.

Ich sehe in der Tat in diesen Unterdrückungssystemen mit geringen Öffentlichkeitsformen Triebkräfte am Werk, die bedrohlich sind. Möglicherweise kann dieses Aufbrechen archaischer Triebenergien angstverdrehte Gefühle und unbefriedigte soziale Situationen in den westlichen Ländern, die es zweifellos gibt, zusätzlich anregen und weitertreiben.

 

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? Sie halten also eine Destabilisierung des Westens im größerem Ausmaß durchaus im Bereich des Möglichen? Die Festigtheit vieler Verhältnisse und Beziehungen, die wir jahrzehntelang erlebt und lieben gelernt haben, ist mithin bloß eine Fiktion?

Oskar Negt: Wissen Sie, die Destabilisierungsthese ist in dem Maße realistisch und zutreffend, wie sich die Herrschaftsformen, auch die bürokratischen, von den Ausdrucksformen der Subjekte getrennt halten wollen...

 

? Auch des Systems?

Oskar Negt: Ja! Solange dieser Dualismus unser Denken und Handeln bestimmt. Im Augenblick existiert noch der Dualismus. Die Aushöhlung und Auszehrung dessen, was offizielle Politik ist, hat inzwischen einen Grad erreicht, der zu einem organisierten Widerstand gegen die Mobilisierung auch der niedersten Instinkte des Menschen, wie 1933, kaum fähig und dem am Ende auch nicht gewachsen wäre.

Betonrealität und Ohnmachtsgefühle im Politikzusammenhang

? Diese "Auszehrung und Aushöhlung offizieller Politik, auch der "Verschleiß" oder die "Entehrung" der meisten politischen Begriffe wie Staat, Nation, Demokratie, Humanität, Freiheit usw. ist heutzutage ein großes Problem. Künftigen Emanzipationsbewegungen haben Sie kürzlich zur Aufgabe gemacht, für die "Unversehrtheit der Begriffe" und die "Wiederherstellung ihres ursprünglichen Sinngehalts" zu kämpfen.

?Ich habe mich gefragt, wie "dieser Rohstoff" denn wiedergefunden werden könnte, nachdem sich diese Begriffe vom Stofflichen gelöst haben und nur noch als referenzlose Zeichen in sich selbst zirkulieren? In Schutzhaft nehmen kann man sie nicht, und an die Produktionssphäre zurückbinden sicherlich auch nicht? Im Übrigen dachte ich immer, die Unversehrtheit liege gerade in ihrer Referenzlosigkeit.

Oskar Negt: Sobald man sich auf die ungeheuere Verflechtung der Sprachsysteme und des politischen Handelns einlässt, kann man nur ganz schwer beantworten, wo anzusetzen wäre. Nur Ansätze, die eine gewisse Überzeugungskraft aus ihrer eigenen Logik entwickeln, erreichen die gespaltenen Gefühle der Menschen. Ich will Ihnen ein Beispiel geben: Ich habe jetzt eine vierjährige Tochter und zwei erwachsene Töchter. Ich bin immer darum bemüht gewesen, sie nicht in einen Kindergarten zu geben, dessen Ordnung von einer staatlichen oder kirchlichen Organisation vorgegeben wurde.

Seit 1970 versuche ich, neue Kindergärten oder Kinderläden aufzubauen. Dabei habe ich festgestellt: Es ist nicht schwer, andere Menschen für ein solches Projekt zu gewinnen. Viele teilen diese Auffassung. Diese Sensibilität für das Un-Stimmige, für Neuanfang und Neuaufbau - Resultat auch der 68er-Bewegung - steht geradezu diametral gegen die Folgerung, man könne nichts machen. Im Moment bin ich wieder dabei, einen neuen Kinderladen aufzubauen und mitzugestalten.

Bei vielen Menschen war die Radikalität des Gedankens, sich nicht global verweigern zu können - die "große Weigerung" bei Herbert Marcuse -, nur in dem Maße wirksam, wie sie eine kleine Weigerung war. Die "große Weigerung" ist einfach eine Idee. Die massenweise kleine Weigerung, nicht mitzumachen, nicht den Doppelbeschluss der Raketenstationierung zu akzeptieren, nicht diese Schule zu akzeptieren, sondern etwas Neues aufzubauen - alle diese Initiativen ergeben für eine alternative Politik Anregungen, die sich zu einer politisch relevanten Summe solcher Alternativen zusammenfügen lassen, ohne dass ein Organisationskonzept für eine sozialistische Partei oder eine andere Großorganisation existieren würde. In dieser Politik, soweit sie auf Wiederaneignung einer uns freundlichen Realität gerichtet ist, muss immer die Dialektik zwischen Distanz und Nähe ausgetragen werden.

Zu viel Nähe führt zur "Tyrannei der Intimität" (R. Sennett). Intimität ist zwar nicht grundlegend falsch, aber sie ist für gesellschaftliche Prozesse zu anfällig. Eine vollständige gesinnungsmäßige Übereinstimmung mit einer Person zieht schon bei der kleinsten Differenz eine Verneinung derselben nach sich. Um mit Menschen etwas Gemeinsames zu machen, braucht es Distanz. Ich muss nicht mit Eltern zusammenarbeiten, die die gleiche gewerkschaftliche Überzeugung oder die gleiche Auffassung von der Familie haben. Es genügt, wenn sie Kindererziehung so verstehen wie ich.

Die Ausbalancierung von Distanz und Nähe ist deshalb ein wesentlicher Punkt alternativer Politik. Nur dann findet eine produktive Verarbeitung und Bearbeitung des politischen Rohstoffs von Realität statt. Natürlich sind das keine spektakulären, utopischen Entwürfe mehr, sondern es geht um das Aufsammeln der Utopien in uns selber, das Aufsammeln der Bedürfnisse, auch ihrer Zwiespältigkeit. Für eine lange Zeit wird es für uns gerade in fortgeschrittenen, komplexen industriellen Systemen wichtig sein, unser Politikverständnis daran zu orientieren: Die Aufmerksamkeit auf solches Politikverständnis zu richten mit den notwendigen Ausdrucksformen dieser Bedürfnisse.

? Kann diese Form von Politik überhaupt noch die unsrige sein? Für viele überraschend kehren Sie in Ihrem neuen Buch zu den Ursprüngen des Politischen, dem grundlegenden Staats- und Rechtsraum der alten Polis, also zum territorialen Denken des Stadt- bzw. Nationalstaates zurück, in dem Bildung, Schutz, Entwicklung und Pflege des Gemeinwesens wieder im Mittelpunkt allen politischen Handelns stehen. Damit treten Sie ganz offensichtlich allen Formen einer sich durchsetzenden Trans- oder Postpolitik mit allen ihren Begleitfolgen wie Ortsverlust oder Deportation, aber auch allen technizistischen Auffassungen von Politik entgegen und fordern stattdessen eine hinreichende, dem Menschen gemäße Zeitreserve zum Aufbau politischer Verhältnisse.

?Ist in einem vom Orbitalen und Transnationalen der Medien dominierten selbstbezüglichen Politiksystem, das nur noch auf seine eigenen medialen Aufzeichnungen reagiert, überhaupt noch der Platz für eine solche Renaissance territorialen Denkens? Herrscht hier noch der nötige Zeit- und Spielraum, um gordische Knoten im Rhythmus menschlicher Verarbeitungsund Urteilsgeschwindigkeit zu entwirren? Oder anders und schärfer gefragt: Hat sich unsere Politikerklasse nicht schon längst identifiziert mit dieser statistisch-kalkulierenden, nicht mehr anschreibbaren Macht?

Oskar Negt: Das ist genau das Problem, mit dem wir es zu tun haben. Es ist schon lange kein Geheimnis mehr und eine Analyse darüber auch gar nicht mehr nötig: Die politische Klasse, wenn es denn so etwas als identifizierbares Ganzes überhaupt noch geben sollte (ich habe manchmal starke Zweifel), betreibt Politik im Wesentlichen nach den Machiavellistischen Prinzipien des Machterwerbs und der Machterhaltung. Max Weber sieht darin ein wesentliches Element der Realpolitik.

Das mag zutreffen, hat aber zunehmend den Charakter einer Abdichtung und Ausgrenzung von gesellschaftlichen Problemen, die nicht mehr in der Weise, wie M. Weber das wollte, staatlich regulierbar sind. Jene Bereiche unterhalb der staatlichen Regulierbarkeit haben sich erweitert und zwar zwangsläufig auf der Grundlage eines geschichtlichen Epochenbruchs. Zum ersten Mal ist eine Reihe von Gesellschaftsordnungen in der Geschichte imstande, so viel zu produzieren, um Hunger, Durst und Elend objektiv abzuschaffen. Das Mehrprodukt ist inzwischen so groß, dass es zum Problem der Ökonomie geworden ist.

Geschichtlich hat es das vorher nie gegeben. Immer hat Mangel geherrscht. Damit ergibt sich, wenn die lokalen Borniertheiten gleichzeitig noch durch Medien gebrochen werden, eine ganz andere Struktur der Mobilität. Die Völker sind jetzt in Bewegung. Sie gehen dorthin, wo es keinen Hunger, keinen Durst, kein Elend gibt und wo sie versorgt werden. Diese Wanderungsbewegungen werden Größenordnungen annehmen, die vergleichbar sind mit den Völkerwanderungen. Sie werden nicht richtig stoppbar sein. Auch durch die Änderung des Grundgesetzes wird es nicht möglich sein, diese Massen wirklich zu kontrollieren. Dieses Gefälle des Lebensstandards führt zu ganz anderen Erwartungen auch an das Leben, und auf der Grundlage zerstörter autochthoner-autonomer

Strukturen findet man auch dieses konservative Element, das sonst Bauernschichten haben, nicht mehr. Welche Folgen diese gewaltigen Völkerwanderungsbewegungen für diese staatliche Real-Politik haben, vermag ich nicht zu sagen. Sie erfasst und kontrolliert diese Probleme an der Bedürfnislage überhaupt nicht mehr.

Um aber auf Ihre Frage zurückzukommen. In dem Maße aber, wie sich diese Klasse bzw. diese Gruppen abkoppeln von den wirklichen Lebenszusammenhängen, bilden sich mafiaartige Ausbeutungscliquen, die eigene Netze über die Gesellschaft werfen und ganz anders als der Territorialstaat das mittelalterliche Feudalprinzip praktizieren: Protego, ergo obliger (Ich schütze dich, also kann ich dich verpflichten).

Wenn der Begriff der Politik ausgezehrt und ausgedörrt ist, kämpfen wir um den Begriff der Politik und seine Traditionen. Deshalb wenden wir uns zurück in die Antike, Sprachursprung der Politik. Natürlich knüpfen wir auch an Traditionen an, die wir nicht explizit behandelt haben. Die Tradition von J. Locke über Montesquieu bis Rousseau spielt für uns eine große Rolle. Sie ist eine völlig andere als die Tradition von Machiavelli bis C. Schmitt.

Mit dem Anknüpfen an diese großen politischen Theorien verbinden wir die Hoffnung, dass in brisanten Konfliktsituationen, in die einzelne der politischen Klasse kommen, grundsätzlich immer zwei Lösungen möglich sind: Auf der einen Seite ein umso härteres Festhalten am System einer Real-Politik, die nichts mehr von der Realität spiegelt und zu einer Betonrealität wird. Sie wird längerfristig eine Ohnmachtshaltung herbeiführen. Diese Realitätslosigkeit läßt sich jetzt überall feststellen, eine Haltung, wie sie das SED-Regime noch bei der 40 Jahr Feier der DDR praktiziert hat.

Niemand hat im Ernst Gorbatschows Satz: Wer zu spät kommt, den bestraft die Geschichte, verstanden. Innerhalb von zwei Monaten bricht eine Gesellschaft, eine Welt, ein Staat zusammen, was nicht untypisch ist für mögliche Zusammenbrüche auch westlicher Institutionen. Ein Unterschied besteht aber: Die westlichen Institutionen haben aufgrund lange geübten Umgangs mit Öffentlichkeit nie die Möglichkeit, sich komplett von den Bedürfnissen der Menschen abzukoppeln. Selbst wenn die Politiker im Grunde nur noch ihre eigenen Reden lesen, werden sie irgendwann merken, dass andere ihnen nicht zustimmen. Spätestens an den Wahlvoten werden sie es merken. Hier ist eine höhere Flexibilität im System, die die Ostblockländer nicht gehabt haben.

Für uns gibt es eine erstaunliche Reaktion auf unser Politik-Buch. Es gibt Hunderte von Rezensionen bis in die Lokalzeitungen, aber praktisch keine kritischen Rezensionen, was nachdenklich stimmt. Noch nie habe ich so etwas mit einem anderen meiner Bücher erlebt. Wir müssen eine Lücke und Leerfläche angesprochen haben, die eine tiefe, sehr gefährliche Abwendung von dieser Art von Politik offenbart. Wohl aber auch die Hoffnung, dass ein Buch etwas anderes anbietet.

Die Öffentlichkeit (ver)schwindet, aber die Geschichte läuft zwangsläufig immer anders ...

? Ist nicht auch dieser repräsentative Raum von Öffentlichkeit, deren "Gebrauchswerteigenschaften" sie wieder als "Gefäß für die Ermöglichung gegenseitiger Verständigung" bestimmt haben, am Schwinden? Vor allem die technischen Bedingungen heutiger Kommunikation haben doch jede Hoffnung auf Rückbindung, Recodierung oder Revitalisierung autonomer Öffentlichkeiten außer Kraft gesetzt. An wen richtet sich dieser normative Diskurs, wenn der politische Raum, die Agora oder das Forum Romanum im klassischen Sinn, sich in den virtuellen Raum telematischer Netze verflüchtigt hat und dadurch jede produktive Vermittlungsarbeit und Vermittlungsmöglichkeit aufgekündigt wurde?

Oskar Negt: Hier finden wir dasselbe Problem wie bei der Politik. Dieses Verschwinden von Öffentlichkeit, von der gleichlautend sowohl Baudrillard im Hinblick auf objektive Scheinzusammenhänge als auch Virilio im Hinblick auf Geschwindigkeiten und Beschleunigungsvorgänge sprechen, ist richtig und falsch zugleich. Richtig ist die wachsende Abstraktion. Ich wähle lieber den Hegelschen Begriff der Abstraktion für diesen Zusammenhang. Bei Hegel bedeutet abstrahieren auch von einem Zusammenhang isolieren.

Das Konkrete dagegen ist das Zusammengewachsene. Die Abstraktion vom Lebenszusammenhang der Gesellschaft ist eine reale Bedrohung dieser Gesellschaft auf mehreren Ebenen. Das gilt für die Medien, die diesen Beschleunigungsdruck erzeugen und diesen Abstraktionszusammenhang vervollständigen genauso, wie für die Einbindung des politischen Handelns. Natürlich gilt das insgesamt für die Massenproduktion technischer Produkte, deren Objektüberhang eine zivilisatorisch ernstzunehmende Bedrohung der Menschen darstellt.

Günter Anders hat das in einer Philosophie der Diskrepanz zwischen der Gattungsausstattung des Menschen mit seinen Sinnen, mit seinem Verstand, mit seinen Verstandesmöglichkeiten und seinen dementsprechend gering ausgebildeten Fähigkeiten mit dem von ihm produzierten Gegenständen menschlich umzugehen, beschrieben. Er hat das die Antiquiertheit des Menschen genannt, der nicht mit der Produktentwicklung mitgewachsen ist. Diese Seite wird von vielen verschiedenen Theoretikern der Postmoderne und der Apokalypse beschrieben. Darin steckt ein starkes Realitätsmoment der Gefährdung.

Theoretisch fragwürdig wird es aber für mich, wenn dieser Objektüberhang so gedehnt wird, dass die Realität der Lebens- und Gesellschaftszusammenhänge nicht mehr theoriefähig bleibt. In dem Maße, wie ich diesen Objektüberhang beschwöre und so tue, als ob dagegen nichts mehr auszurichten sei, lasse ich alles, was sich unterhalb dieses Objektüberhangs vollzieht, nämlich lebendige Menschen, Kommunikationen, Subjekte, so wie sie leben, denken und schreiben, links liegen. Ich entziehe diesem Bereich die Differenziertheit der Gegenmodelle und differenziere nur noch im Objektüberhang. Über das Subjekt wird wenig ausgesagt.

Unsere Position besteht darin, diesen Objektüberhang zu begreifen, aber gleichzeitig ihn für überwindbar zu halten. Für uns läuft die Geschichte nicht zwangsläufig so, wie sie läuft. Immer hat es andere Möglichkeiten gegeben. Die Geschichte ist für Augenblicke immer offengewesen. Für diese Öffnungen Theoriefähigkeit und Organisationsphantasie zu entwickeln, ist jedenfalls ein Begriff der Verantwortung des kritischen Intellektuellen.

Gegenmächte ohne Machiavellismus organisieren?

? Es stellt sich dann aber sofort die Frage, wie diese Einbindung erfolgen und wie dieser "objektive Schein" überwunden werden könnte? Wie lassen sich Gegenmächte organisieren? Mehr als 20 Jahre haben Sie sich damit beschäftigt, die Organisationsfrage aber immer offen gelassen. Heißt das, dass sie nicht lösbar ist?

Oskar Negt: Ja! Die Organisationsfrage dieses Widerstandes ist nicht lösbar. Eindeutige situationsübergreifende Kriterien, die auch anwendbar sind, kann man nicht bestimmen. Deshalb nehmen wir nicht Merkmale von Organisationsfähigkeit, sondern Merkmale konkreter Arbeitsprozesse. Wir fragen nach Arbeitsmittel, Arbeitsgegenstand, also nach Voraussetzungen für eine solche Gegenproduktion.

Betrachten wir noch einmal die Protestformen, die sich im Oktober/November des Jahres 1989 in der DDR entwickelt haben. Natürlich kann man hinterher sagen: Das System musste zusammenbrechen. Aber niemand hat doch ernsthaft mit einem schnellen Zusammenbruch gerechnet. Dafür gibt es Gründe. In der Zellenform des Gemeindechristentums, dieser alten Katakombenform bildete sich zunächst ein kleiner Kommunikationszusammenhang, ein Austausch über Interessen und Bedürfnisse. Die Substanz, der Rohstoff des Politischen ist da.

Die ersten Diskussionskreise richteten sich noch überhaupt nicht auf den Zusammenbruch eines Staates, sondern suchten nach einer Selbstverständigung über das, was man ändern wollte. Kleine Formen des Protestes über Widerstand im Kleinen. Diese Organisationsformen kann man konkret beschreiben. Sie entwickeln sich bis zum runden Tisch, einer neuen genialen Erfindung. Am runden Tisch sind Probleme nicht mehr von einer Gruppe lösbar. Alle müssen sich dort einfinden. Aus solchen Kleinprojekten entwickeln sich manchmal große Bewegungen.

Da diese aber ab einem bestimmten Punkt bürokratisch eingefangen, also unter Abstraktionszwang gesetzt werden, zusammenbrechen oder deformiert werden, haben wir die Organisationsfrage mehr als eine Form konkreter Gegenproduktion begriffen, die nicht bloß aus Idealen besteht. Wir arbeiten ständig professionell mit Ideen, Gedanken und Kategorien. Die praktische Überzeugungskraft von Gegenprojekten ist unserer Auffassung nach viel größer und überzeugender als eine Buch.

 

? Im "Politik-Buch" haben Sie einen höchst interessanten Begriff eingeführt, nämlich den des "Maßes" bzw. "der Maßverhältnisse." Sie haben ihn, soweit ich sehe, als Beziehungs- oder Vermittlungsbegriff eingeführt, der zwischen Enteignung und Aneignung, Deterritorialisierung und Reterritorialisierung, zwischen Wesen und Erscheinung eine Klammer herstellt, den Substanzverlust von Gegenständen und Beziehungen supplementieren und die Dinge vor ihrem Fall ins bodenlos Unbestimmte bewahren soll.

?Ich habe ihn aber auch als einen anthropologischen Konkurrenzbegriff zum systemtheoretischen Konzept der "strukturellen Kopplung" von Systemen gelesen. Jetzt, wo wir über das "gegenproduktive Moment" sprechen, kommt es mir so vor, als ob die Einführung des Maßes und seiner Verhältnisse auch die Metapher der Umkehr, der Wiederaneignung, der Wiederinbesitznahme und der Überwindung ersetzen könnte.

?Könnten Sie diesen Begriff noch ein bisschen näher erläutern? Was bezwecken Sie mit seiner Einführung? Wer befindet über dieses Maß und wie kann und wie soll darüber bestimmt werden, wenn uns ganz offensichtlich jegliches Maß für die Dinge abhandengekommen ist und ein Zurück zu menschlichen Verhältnissen m. E. nicht mehr möglich ist?

Oskar Negt: In welcher Weise "Maßverhältnisse" im politischen Handeln zur Anwendung kommen, hängt entscheidend davon ab, ob es massenhafte Ausbildung von Urteilskraft und Unterscheidungsvermögen in einer Gesellschaft gibt. Es gibt keine privilegierte Instanz oder eine hervorragende Persönlichkeit oder einen Sittenkodex, der festlegen könnte, was die Maßverhältnisse des Politischen sind. "Maß" heißt bei uns ja nicht ein "Mittleres", Vermittelndes im Sinne eines umsichtigen Moderators.

Es ist für uns der substantielle Gehalt von Radikalität, so wie Marx sie verstanden hat: die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist auch für uns der Mensch. Der Mensch lebt in der Spannung von Utopie und vorfindbarer Realität, ohne die er sich nicht lebendig halten könnte. Schlägt er sich aber, in besinnungslosem Opportunismus, auf die Seite der versteinerten Macht des Faktischen, dann überlässt er sich einer gefährlichen Maßlosigkeit, wie umgekehrt, wenn der Radikalismus ganz in den Träumen und Bedürfnissen befangen bleibt. In beiden Fällen fehlt das angemessene Gefäß der individuellen Emanzipation im Zusammenhang des Gemeinwesens.

 

? In "Öffentlichkeit und Erfahrung" war diese Erwartung noch an den "Phantasiebegriff" geknüpft. Auch wenn Sie seinerzeit die Phantasietätigkeit noch negativ bestimmt haben als "Block des wirklichen Lebens", der, unbewusst, praktische Kritik an den Verhältnissen leistet, war im Phantasiebegriff auch das Vermögen des Noch-Nicht, die Möglichkeit einer besseren Zukunft aufgehoben. Gegenwärtig erleben wir eine tiefgreifende "Revolution des Imaginären". Die Phantasietätigkeit wird von ihrer körperlichen Gebundenheit getrennt und in die Siliziummaschinen verlagert.

?Welchen Stellenwert hat für Sie heute ein Begriff wie Phantasie oder die "Phantasietätigkeit kritischer Produzenten"? Ist der Phantasiebegriff noch ein zeitgemäßes Konzept für "sinnvolle Gegenproduktionen"?

Oskar Negt: Der ursprüngliche Phantasiebegriff, wie ich ihn in der Arbeiterbildung formuliert habe, bestand in einer Kritik der Arbeitsteilung. Phantasie war die Form der alltagspraktischen Verarbeitung der Realität, an die Bildungsprozesse anknüpfen mussten, um den Einzelnen in seinen Lernmöglichkeiten zu erreichen. Für Freud ist Phantasie bekanntlich ein lustbetontes assoziatives Umgehen mit Raum und Zeit, vor allem ein Aufsprengen eines bloß additiven, Schritt für Schritt sich vollziehenden Zeitkontinuums.

Für Alexander Kluge und mich war die Phantasie das Medium des produktiven Umgangs mit einer Realität, die falsch zusammengesetzt ist. Das Aufbrechen dieser falschen Realität sieht zunächst willkürlich aus: das ist auch der Grund der Schwierigkeit, auf die mancher beim Verstehen von Kluges Filmen trifft. Da die Sinne gewohnt sind, in der offiziellen Anordnung der Dinge und ihrer Zeitstruktur aufzunehmen und zu "denken" - ein Schreibtischsessel ist eben ein Schreibtischsessel und nichts anderes - , sieht es so aus, als ob dort alles falsch zusammengesetzt ist.

In "Geschichte und Eigensinn" war dieses Phantasiemedium ein zentrales Moment der Rohstoffproduktion für politische Bewusstseinsbildung. Wenn man die Schwarzmarktphantasien, also alle Phantasien, die sich unterhalb der offiziellen Ebene von Wünschen bilden, im Schreiben und Denken nicht anspricht, entstehen parallele Bildungsprozesse. Das lernende Subjekt bleibt ausgeschlossen.

Die vorausgehende Phantasieproduktion ist für Lernprozesse nach wie vor zentral. Aber sie ist materiell und gegenständlich gebunden. Ich teile nicht die Aussage: Die Welt besteht aus Simulakra. In konkreten Lebenszusammenhängen bricht dieser Schein zusammen und die Menschen werden konfrontiert mit einer gegenständlichen Welt, die ihnen vielleicht fremd erscheint, weil ihnen das Fernsehen so nah und vertraut geworden ist, aber die Täuschungen verfliegen wie Traumgebilde.

Der Bildungsprozess ist auf gegenständliche Arbeit abgestellt, für die das Medium der Phantasie, wenn sie zugleich produktiv und Gemeinwesen fördernd sein soll, nach wie vor zentral ist.

Insofern gibt es ein postmodernes "Geschichte und Eigensinn". Als wir damals dieses Buch schrieben, hatten wir noch keine Ahnung von der postmodernen Bewegung. Ich bin gespannt, wie die Postmoderne reagiert, wenn das Buch in einigen Monaten im Suhrkamp Verlag wiederaufgelegt wird. Von einigen Postmodernen wird es bereits als ein postmodernes Frühwerk erkannt. Aber wir halten strikt einen systematischen Zusammenhang im Buch.

 

? "Geschichte und Eigensinn" hatte ja sehr viele Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten mit dem "Anti-Ödipus" und den "Mille Plateaux" von Deleuze/Guattari, aber auch mit Foucaults "Mikrophysik der Macht".

Oskar Negt: Natürlich! Ja!

Marx neu und anders lesen und ihn praktisch aufsprengen

? Sie haben vorhin Marx erwähnt, ein Stichwort, das ich jetzt gerne aufgreifen möchte. Denn gleich nach seiner Demontage durch die Massen haben Sie in einem Beitrag für die Frankfurter Rundschau dem Sozialismus einen Ort in der "Schädelstätte des absoluten Geistes" reserviert. Anders als die "Verabschiedungslogiker" haben Sie in den von ihm hinterlassenen Ruinen und Trümmern unausgefüllte, unausgetragene und unabgegoltene Programme entdeckt, die weiter auf ihre Lösung und Realisierung warten.

?Lässt sich aber ausgerechnet am Leitfaden der negativen Glücksversprechen von Autoren wie Benjamin, Bloch und Horkheimer/Adorno die Idee einer besseren Welt weiter rechtfertigen? Gerade diese Schriften reagieren doch bereits explizit katastrophisch auf das Ausbleiben der sozialistischen Hoffnungen. Mir will nicht einleuchten, was ein nochmaliges oder erneutes Durch- und Überarbeiten der Klassiker an neuen Einsichten und offenen Fragen uns bringen könnte?

Oskar Negt: Gemessen an der Komplexität des Objektüberhangs, von dem wir vorhin gesprochen haben, sind bestimmte Lebensfragen doch recht elementarer Natur. Menschen stellen sich selber einfache Fragen, wenn existentielle Situationen hergestellt werden. Sie fragen: Wie kann ich würdig überleben? Wie sieht eine sinnvolle Arbeit aus? Wofür lohnt es sich, sein Leben zu opfern? Was ist Pflicht, was ist Recht? Alle diese Fragen sind Grundthema der Philosophie, seit es sie gibt.

Schon bei den Vorsokratikern treten sie auf und sind dort verknüpft mit dem Problem: Welches Gemeinwesen führt zum Glück oder Unglück? Welche Verfassung ist stabil und welche nicht? In der großen Theorie und Philosophie - dazu rechne ich Benjamin, Bloch, Adorno, Habermas - werden in verschiedenen Verkleidungen, die wiederum durch bestimmte Theoriestränge und neue Erfahrungen bestimmt werden, diese zentralen existentiellen Probleme wiederaufgenommen und unterschiedlich diskutiert. Bei Adorno zum Beispiel in der Frage: Was ist Autonomie? Was bedeutet Mündigkeit und Entmündigung? Wie lässt sich dem Individuum, das innerlich so zerstört ist, die Treue halten?

Er formuliert das nicht positiv. Indem er das Einengende, Zerstörende, Fragmentierende öffentlich macht, beschreibt er für jeden erkennbar: Das Leben lebt nicht. In diesem Sinn bieten diese Theorien - und ich beziehe mich auf einen bestimmten Theoriezusammenhang: Aristoteles, Kant, Marx, Freud, Adorno/Horkheimer - sehr verschiedene Lösungsvorschläge für eine Reihe menschlicher Probleme an. Diese sind nicht veraltert. Sie sind nicht gelöst. Sie harren noch der Lösung und müssen weiter bearbeitet werden. Möglich wird ihre Lösung für mich, wenn sie im Zusammenhang begriffen werden, wenn im geschichtlich- gesellschaftlichen Zusammenhängen ein Begriff von ihnen gewonnen wird, der die ganze Trostlosigkeit, aber auch die Hoffnung auf Besserung beinhaltet.

Solche Probleme durch mein eigenes Tun zu lösen, das motiviert mich, an diesen Traditionen festzuhalten. Wenn die akademische Tradition heute sich darüber hinwegsetzt und solche Probleme für überholt erklärt, werden sie nicht automatisch entwertet. Es bleibt "das Unabgegoltene" (E. Bloch). Für mich ist das Unabgegoltene ein Geltungsanspruch an die Gegenwart. Ich sehe keinen Sinn darin, immer die Gegenwart als den fortgeschrittensten Zustand des Bewusstseins und des Denkens zu betrachten.

Viele Probleme, die Kant in der "Kritik der reinen Vernunft", wie auch in der praktischen Philosophie und der Ästhetik aufgeworfen hat, stellen für mich nach wie vor theoretische Herausforderungen für ein Begreifen dieser Welt dar und, vor allen Dingen, auch für ein praktisches Handeln. Ohne Kategorien und Probleme für zeitlos zu definieren, halte ich sie für nicht überholt. Sie haben ihren zeitlichen Erfahrungskern, wie Benjamin sagt. Wir müssen aber auch fragen: Sind wir in der Gegenwart dem gewachsen, was die Alten bereits begriffen haben bzw. was sie wollten? Wo sind die Maßstäbe? Ich beziehe sie aus der kritischen Tradition der Philosophie. Ihr fühle ich mich zugehörig.

? Wird mit der Parteinahme für "das Unabgegoltene" die Geschichte und die evtl. sieschreibende Freiheit nicht auf den St. Nimmerleinstag verschoben? Übereignen Sie mit Ihrem Plädoyer für eine "Aufarbeitung der Ausgrenzungsgeschichte des Marxismus", Ihrem Eintreten für eine "Wiederbelebung des utopischen Gehalts, des Anarchismus und des Individuums" nicht den posthistorisch gewordenen Marx dem postmodernen Gestus der Revisionen? Muss eine solche Trauerarbeit nicht misslingen, weil sie für sich die Utopie in Anspruch nimmt, in der wiederholten Überprüfung und Durcharbeitung des Erreichten, die Geschichte neu schreiben, umschreiben und wiedergutmachen zu können, so dass am Ende ein in der Sprache der Öko-Ökonomie, recycelter, geläuterter und damit unsterblich gewordener Marx steht?

Oskar Negt: Dazu kann ich nur sagen: Alles was ich bisher gemacht und gedacht habe, widerstrebt diesem Gedanken. Für mich ist die Hauptaufgabe nicht eine Revision oder ein Zurechtrücken vergangener Theorien. Die Gegenwart ist der eigentliche Gegenstand meiner Tätigkeit, die eine politische ist. Um mich orientieren zu können, bediene ich mich allerdings eines bestimmten Theoriebestands, der eng mit meiner eigenen Bildungs-und Erziehungsgeschichte verknüpft ist und den ich nicht einfach abstreifen kann. Deshalb finde ich, weil Sie das erwähnen, die Reflexionen von Lyotard über Kant witzig, auch geistreich, aber sie verfehlen Kant.

Es gibt einen Richter bei Kant. Die Zentralbegriffe bei Kant sind Würde, Autonomie, Selbstgesetzgebung, natürlich Verbindlichkeit. Selbst in der reflektierenden Urteilskraft, die, im Unterschied zur bestimmenden Urteilskraft, in der Allgemeines und Besonderes nicht zwangsläufig zusammengehören, einen kommunikativen Zusammenhang der Vereinbarungen herstellt, gibt es Verbindlichkeit, die jedem Vernunftwesen zuzumuten ist. Ich lese Kant sehr viel, immer wieder und wörtlich.

Ich versuche zu verstehen, was gemeint ist und versuche nicht, ihn auszulegen. Wenn Kant von Gerichtshof spricht in der "Kritik der reinen Vernunft", dann meint er, dass ein Urteil möglich ist, das für Dritte bindend ist und nicht Urteile offen bleiben.

Ich lese auch Marx nicht in der üblichen Systematik, also vom schwersten Brocken, der Wertformanalyse ausgehend. Dort wollte er die große Tradition der Kritiken von Kant und der dialektischen Logik Hegels fortsetzen. Er hat sich an der Wertformanalyse buchstäblich zu Tode gearbeitet. Ich halte sie aber nicht für das geglückteste Stück. Im ersten Band des Kapitals gibt es, was den Begriff der Zeit angeht, eine geniale theoretisch-empirische Analyse des Arbeitstages.

In diesem Sinn benütze ich den Begriff des Aufsprengens des Marxschen Werkes. Brecht ist für mich ein guter Wegweiser im Umgang mit Klassikertexten. Von der Einschüchterung durch Klassizität hat er gesprochen und dabei die Frage gestellt, ob am Ende der Lernende nicht doch wichtiger sei als die Lehre. Es hat nichts mit einer Dekonstruktion von Texten zu tun, wie das in der französischen Philosophie der beginnenden Postmoderne gemeint war. Die praktische Dimension der Philosophie wieder sichtbar zu machen und zurückzugewinnen ist eher mein Programm.

Maßvollere Formen und Gefäße für die Zukunft erfinden

? Einige Intellektuelle sehen Zukunft nur noch als "negativen Horizont". Sie sprechen vom "Wachsen der Wüste" (F. Nietzsche), von einer "Wüste der Ungewissheit" (P. Virilio), ja sogar von einem "Bösen der Zukunft" (H. Müller). Auch in Ihrem intellektuellen Begriffsinstrumentarium beherrscht eine lange Kette von Verlustrechnungen das textuelle Feld. Sie sprechen von Wirklichkeits-, Erfahrungs-, Substanz-, Steuerungs- und Politikverlust, vom "Arsenal gebrochener Anfänge", von "unerledigten und verdrängten Lebensproblemen", die im Gleichschritt mit den wachsenden "Schrott- und Abfallbergen des industriellen Fortschritts" zunähmen. Trotz alledem zitieren Sie den Hölderlin Satz: "So viel Anfang war nie!"

?Verbirgt sich dahinter bloßer Zweckoptimismus oder der fortwirkende Utopiegehalt, den Sie als einer der wenigen Intellektuellen gegenwärtig nicht preisgeben wollen?

Oskar Negt: Ich halte am Utopiegehalt in der Realität fest. Mir hat die Kenntnis der geschichtlichen Welt die Überzeugung vermittelt: Wer entweder in positiver oder negativer Weise an die Stabilität der Welt glaubt, hat sich in der Regel geirrt. Darum gehe ich von der Veränderbarkeit der Welt, von der Möglichkeit des prinzipiell Besseren aus. Ginge ich nur vom Schlechteren aus, müsste ich eine eschatologische oder sonstige Konstruktion der Geschichte vornehmen. Ich verhalte mich als Materialist zur Geschichte. Die Geschichte kann nicht auf die Logik von Ideen, Entwicklungsgesetzen oder Apokalypsen reduziert werden. Zwar können Ideen, materielle Verhältnisse und Verdinglichungen aufeinander stoßen und großes Unglück wie Kriege, Massenmord etc. bewirken, aber ich sehe darin keine Logik nach unten.

? Auch nicht wie Adorno?

Oskar Negt: Nein! Die "Negative Dialektik" Adornos versucht sich noch einmal am ganzen Verdinglichungszusammenhang, am "Gehäuse der Hörigkeit" im M. Weberschen Sinn. Dort bricht noch nichts zusammen. Die verwaltete Welt ist eine stabile, stillstehende Welt. Sie ist ein Posthistoire, ein monolithisches Gebilde wie "der eindimensionale Mensch". Schon fünf Jahre später ist Adornos Entwurf nicht mehr zu halten. In der Erfahrung der Protestbewegung, deren Anfänge er nur mehr miterlebt hat, zerbröseln und zerbrechen diese Strukturen.

Bei Adorno ist es aber ein anderer Aspekt als bei Bloch. In der Frage des politischen Engagements habe ich immer größere Neigungen zu Bloch gehabt als zu Adorno. Adorno ist vielleicht der größere, präzisere und konsistentere Philosoph, wie die immanente Struktur der Auseinandersetzung mit der Tradition, seine Kritik an Heidegger und Husserl beweisen, aber nicht in Bezug auf die praktischen Potentiale. Ich glaube an die Besserungspotentiale auch in der Gegenwart. Darum auch der Hölderlin Satz, der nicht bloß taktisch gemeint ist. Das war der eine Grund.

Der andere Grund für den Hölderlinsatz hat etwas mit der jetzt "offenen Geschichte" zu tun. Der Zusammenbruch der militärischen Ost-West Konfrontation ist doch ein gewaltiges Ereignis mit großer Reichweite. Vierzig Jahre hat es Kämpfe und bedrohliche Situationen gegeben. Bei der Berlin-und Kuba-Krise bestand die tödliche Gefahr eines Vernichtungsschlages mit unabsehbaren Folgen für die Bewohnbarkeit des Erdballs. Die Ausbalancierung der Spannung ist nur gehalten worden, weil es eine exakt arbeitende gegenseitige Sensibilität für die Wahrnehmung dieser Gefahren gab. Mit diesem gewaltigen Bruch - dem Ende der Nachkriegsgeschichte - brechen imperiale Territorien, Terrorsysteme innerhalb weniger Jahre zusammen. Für mich ist das ein Akt der Befreiung, ein revolutionärer Vorgang beträchtlichen Ausmaßes. Es besteht die Möglichkeit der Reorganisierung der Welt ohne diese tödliche Drohung.

Die Geschichte ist offen. Sie kann sich aber sehr schnell wieder schließen, wenn es uns nicht gelingt, Formen und Gefäße zu finden, in denen Verhältnisse angemessen existieren können. Die Sowjetunion war ein zu großes Gefäß, eine für den einzelnen nur schwer nachvollziehbare Abstraktion. Dieses Imperium musste zerfallen. Offensichtlich ist es die Politik von Gorbatschow gewesen, den Zerfall in Stammesidentitäten durch die Aufrechterhaltung eines Rahmens zu verhindern. Die Tragödie liegt darin, dass diese Politik nicht gelungen ist. Gorbatschows Scheitern zeigt, mit welchem Problem wir es in den nächsten Jahrzehnten zu tun haben.

Darum auch kein Zweckoptimismus. Geschichtliche Prozesse verlaufen nicht linear und sind auch nicht voraussehbar. Chancen und Tragödien liegen häufig eng beieinander wie bei der deutschen Einheit. Dieses zerrissene Bewusstsein jetzt bei vielen Deutschen, Chance und Tragödie zugleich zu sein, produziert neue Tragödien. Aber es müsste nicht so sein. Darauf Aufmerksamkeiten zu richten, ist auch die Frage meines Politikverständnisses.

 

? Im Anhang zu den "geschichtsphilosophischen Thesen" weist W. Benjamin auf das "Bilderverbot" hin, das sich bekanntlich auch die Gründerväter der Kritischen Theorie zu eigen gemacht haben. Allein im Erinnern, im Blick auf Vergangenes und in der Arbeit am Vergangenen könnte demnach die Anwesenheit der Zukunft gedacht und prospektiv angegangen werden. Dennoch war für Benjamin die Zukunft nicht leer. In jedem Augenblick und in jeder Aktion konnte sich die Pforte der Zukunft öffnen, durch die der Erlöser treten könnte.

?Können wir heute noch mit so einem rückwärtsgewandten Zukunftsbild operieren? Wird durch diesen Rückgriff auf die schicksalshaften Bahnen der Vergangenheit nicht das vielfältige Feld künftiger Möglichkeiten blockiert, weil die Zukunft zur Geisel des Vergangenen gemacht wird? Käme es nicht darauf an, Benjamins "Engel der Geschichte" umzudrehen und sich auf diese Weise von den aufgehäuften Trümmern abzuwenden und neu zu beginnen?

Oskar Negt: Es wäre schön, wenn wir von der Vergangenheit durch einen bloßen Willensakt wegkämen. Leider geht es nicht. Je mehr Bestand an ungelösten oder halbgelösten Problemen in der Vergangenheit vorhanden ist, desto weniger ist es möglich. Erst wenn tatsächlich alles problemlos geworden, alles erledigt ist, arbeitet es nicht mehr im Dunkeln weiter. In Deutschland, aber auch in ganz Europa haben wir es mit einer Geschichte zu tun, die sehr viele Gefühle, auch kollektive Gefühle verletzt hat.

Denken Sie an die Kollaborationsgeschichte des Vichy-Regimes in Frankreich, eine verdammt schmutzige Angelegenheit, die vor einigen Jahren hochgekommen ist. Viele Franzosen waren ganz offensichtlich froh, dass Juden abtransportiert wurden. Oder denken Sie an die Racheakte der Serben an Kroaten und umgekehrt. Es handelt sich dabei um Verletzungen, die sehr weit zurück gehen. Wo solche Gefühlsbetroffenheiten nicht bearbeitet und eine Anerkennung öffentlich nicht erfolgt ist, ist dieses Abtrennen, dieses "Strich-drunter und Schwamm-drüber" nicht möglich. Ein aktiver Blick in die Vergangenheit in Richtung einer aktiven Bewältigung ist daher die am wenigsten aufwendige Form.

Was nun die Sache mit dem "Engel der Geschichte" angeht, die Sie erwähnt haben, so meine ich: Fortschritt bedeutet heute im Wesentlichen, die liegengebliebenen Probleme der Vergangenheit menschlich zu bewältigen und zu lösen. Es geht nicht mehr um den Entwurf nach vorne, immer nach vorne und immer besser, sondern es geht um die Erweiterung der Sensibilität für geschichtlich-gesellschaftliche Probleme. Sie aufzugreifen, sie zu bearbeiten und sie lösbarer zu machen - vielleicht nicht zu lösen, wir sind endliche Menschen -, ist augenblicklich die Aufgabe für die Zukunft. Der Tod, selbst ein würdiger Tod, wird für uns bedrohlich und schmerzlich sein und Stillstand bedeuten. Das Ende der Geschichte, das Ende der Bewegung der Geschichte halte ich jedoch für undenkbar. Aber die Geschichte in Richtung auf ein größeres Bewusstsein dafür zu verändern, was der bisherige Fortschrittsbegriff an den Rändern und schließlich auch im Zentrum für die neue Generation übriggelassen hat, halte ich für unabdingbar möglich.

 

Bilderlosigkeit und Urteilsvermögen: Optionen für die Zukunft?

? Sie würden also weiter am Bilderverbot festhalten? Aber können die Menschen überhaupt so bilderlos leben und in die Zukunft schreiten? Muss das für ein Aufklärungsprojekt, wie es die Moderne ins Leben gerufen hat, nicht erschreckend sein, wenn es weder ein Programm noch ein Ziel besitzt?

Oskar Negt: Die neue Gesellschaft kann man sich nicht aussuchen. Es ist objektiv ungewiss. Was wir machen können - und hier komme ich auf meinen Phantasiebegriff zurück - ist die Erweiterung unserer Urteils- und Phantasiefähigkeit dafür, wie mit neuen, überraschenden Situationen besser umzugehen wäre. Je starrer und reduzierter ein Mensch in der Wahrnehmung der Realität ist, desto bornierter sind die Antworten. Das möchte ich auch geschichtlich sehen.

Die Menschen haben ihre eigenen Bilder. Ich möchte mir die Bilder von einer Gesellschaft, in der ich leben soll, nicht vormachen lassen. Mir wäre dabei unbehaglich. Ich möchte mir mein eigenes Bild machen. Natürlich müssen diese verschiedenen Bilder zusammenkommen. Hier entstünde wieder die Frage nach der Bildung des Gemeinsinns, des Unterscheidungsvermögens und der politischen Urteilskraft. Wenn es uns gelänge, uns selber und andere so zu bilden und zu erziehen, dass sie selbständig urteilen und unterscheiden könnten und nicht einfach falsche Kausalitäten herstellten, dann wäre ich nicht mehr so besorgt. Unvorhergesehene geschichtliche Konstellationen, selbst Zusammenbrüche, könnten besser bewältigt werden. Starre Prinzipien blockieren dagegen die Erfahrungsfähigkeit der Menschen.

Daher kommt auch die Abneigung, Fremdes auf sich zu nehmen. Die Ausgrenzung des Fremden ist ein Akt der Angst, die Identität zu verlieren. "Deutschland den Deutschen" heißt: Ich habe so große Schwierigkeiten mit meiner Identität, dass ich diesen Satz gerade noch akzeptieren kann. Damit wird aber kein einziges Problem gelöst. Was soll sich für diese Jugendlichen verändern, wenn kein Ausländer mehr hier ist? Die Vermischung von Kausalitäten ist eine gefährliche Sache.

Deshalb gilt: Die Fähigkeit zur Bildung eines eigenen Urteils ist Bedingung für die Produktion eigener Bilder von der vergangenen und kommenden Welt. Erst durch sie wird die gegenseitige Anerkennung nicht zerstört; und erst durch sie werden gewisse Toleranzen im Umgang mit anderen gesichert. Die Garantie für die würdige Existenz des Andersdenkenden entsteht und besteht, wo identifizierendes, also gleichmachendes Denken überhaupt nicht, Differenzierungsvermögen dagegen aber existiert.

 

? Mit der Forderung nach der Produktion "massenhaften Unterscheidungsvermögens", ebenso mit dem Eintreten für das Offenhalten von Differenzerfahrungen hat es aber meiner Meinung nach so seine Bewandtnis. Zum einen hat es die Urteilskraft in einer Welt, in der die Strategie des Lügens zur allgemeinen Haltung geworden ist, immer schwerer, sich zu behaupten. Und zum anderen entsteht neben der hinreichend diskutierten Kontingenzerfahrung das bekannte Konsensproblem. Denn mit der Einführung von Unterscheidungen wird unfreiwillig auch die Verallgemeinerungsfähigkeit von Programmen oder Konzepten unterminiert und in Zweifel gezogen. Von einem anderen Standpunkt aus mit anderen Unterscheidungen stellt sich der beobachtete Sachverhalt auch ganz anders dar.

Oskar Negt: Letzteres ist ein Problem Luhmanns, ein Problem seines Denkens. Für die Alltagspraxis ist die Unterscheidungsproblematik auf der Ebene verschiedener Beobachter irrelevant. Ein Mensch, der imstande ist, zwischen objektiver Arbeitslosigkeit und ihrem Systemgrund auf der einen Seite und den betroffenen arbeitslosen Menschen auf der anderen Seite zu differenzieren, macht sich automatisch Gedanken über das Allgemeine. Urteilsfähigkeit bedeutet immer Rückbezug auf ein Drittes. Sie ist keinesfalls in dieser spaßigen Form von Luhmann zu nehmen. Der Weg zum Allgemeinen bedarf keines Zugangs zu Luhmanns Systemtechnik. Die Allgemeinheitsgrade sind verschieden bei einfachen Menschen.

Was nun die Schwierigkeit der Unterscheidung zwischen wahr und falsch, richtig und falsch angeht, so handelt es sich um einen vielschichtigen Vorgang. Dieser fängt in der Familie an und setzt sich in der Schule fort. Nicht zufällig beschäftige ich mich mit Arbeitsprozessen in der Schule. Die Schule ist trotz allem noch ein institutioneller Ort, in dem etwas anderes gemacht werden kann, das nicht bruchlos den Linien der Macht folgt. Zu Hause gibt es augenblicklich keine Kontrolle, wieviel Zeit die Kinder vor dem Fernseher verbringen.

Sobald Kinder jedoch Umgang mit anderen Kindern haben, schalten sie den Fernseher ab. Das lustbetonte Spiel und Lernen mit anderen erlaubt eine hinreichend bessere Grundlage für die Kritik am Fernsehen als irgendwelche Verbote. Genauso verhält es sich an der Universität. Wenn ich den Studenten nichts abverlange, sie nicht fordere, kann sich auch kein Urteilsvermögen bilden. Seit zwanzig Jahren mute ich meinen Studenten die härtesten Sachen zu. Ich mache vierstündige Vorlesungen und behüte sie auch nicht davor, sich mit Kant zu beschäftigen. Meine Erfahrungen besagen: Der größte Teil der Menschen ist intellektuell unterfordert.

Keine intellektuelle Kleingeschichten produzieren

? 1972 haben Sie der linken Intelligenz die Übersetzungsarbeit soziologischen Wissens für breitere Bevölkerungsschichten zugewiesen; 1981 haben Sie ihre "Proletarisierung" beschrieben und der Intelligenz die Mitverantwortung bei der Produktion von Ideologien und der Herstellung von Destruktionskräften vorgeworfen; 1992 wollen Sie die Intellektuellen auf eine "Ferne-Ethik" (H. Jonas) verpflichten. D.h. konkret: Die Intellektuellen sollen in ihren Äußerungen "Verantwortung für das übernehmen, was in der Ferne passiert, um nicht zu bloßen Mitläufern der Realität zu werden".

?Wie kann man sich die Entwicklung dieser "Ferne-Ethik" vorstellen, wenn durch das elektronische Bild der Blick für die Ferne verschwindet, das Ferne nah wird und uns auf den Leib rückt?

Oskar Negt: Sie haben recht. Im Grunde wird durch die Medienrealität eine suggestive Nähe, aber auch Gleichzeitigkeit der Ereignisse hergestellt, die diese Verantwortung problematisch werden lässt. Dennoch können wir uns vor Fragen der Ethik und Moral nicht einfach drücken und uns mit diesem Wirklichkeitszustand abfinden. Wir wissen heute, was mit unseren Produkten und unserem produzierten Wissen gemacht wird. Wir wissen, was mit hier produzierten Waffenteilen anderswo veranstaltet wird, d.h. wie sie zusammengesetzt und wozu sie verwendet werden. An diesen Produktionsprozessen setzt bei mir die Frage einer "Ferne-Moral" ein. Nur durch ein zwanghaftes Nicht-Wissen können wir uns vor dieser Einsicht drücken. Das Wissen darüber ist gerade wegen dieses medialen

Kommunikationszusammenhangs größer als in Gesellschaftsordnungen traditioneller Struktur.

Die traditionelle Ethik war eine Nähe-Ethik. Sie entsprach den Organisationsformen traditionaler Gesellschaften und des Gemeinwesens. Diese Fragestellungen, die H. Jonas andeutet, sind weder ausgestanden noch hinreichend diskutiert. Ich greife sie auf, um sie in Richtung auf den angesprochenen Produktionssektor zu erweitern. Es bringt uns nicht weiter, wenn wir sagen: Ethiken, die auf Gesetzgebung oder Codizes gegründet sind wie der Dekalog oder die kantische Ethik sind passé. Nur noch kommunikative Ethiken sind möglich. Aber auch die kommunikative Ethik enthebt uns nicht der Verantwortung, über die Folgen und Wirkungen der von uns produzierten Gegenstände auf andere alltagspraktische oder auch politische Zusammenhänge nachzudenken.

Diese Verantwortung trifft auch auf den Intellektuellen zu. Auch er kann sich nicht völlig davon freimachen, welche Reaktionen ein Buch oder ein Vorschlag von ihm bei Menschen hinterlässt, die sich an diesen Gedanken orientieren. Gemessen an den technischen Produkten sind die geisteswissenschaftlichen Resultate sicherlich noch die harmlosesten. Die beschleunigte Autoproduktion beispielsweise ist augenblicklich ein Verbrechen gegen die unmittelbar Betroffenen, gegen die Städte und die Umwelt. Die Phantasielosigkeit dieses Zusammenhangs ist inzwischen für mich der Gegenstand einer umformulierten Ethik.

? Kann das wirklich heute noch die Aufgabe oder die Funktion des Intellektuellen sein? Können die Intellektuellen diese Verantwortung für die "Schicksalsgemeinschaft Menschheit" überhaupt übernehmen? Im Übrigen sind sie, allein was die Erfahrung der letzten Jahrzehnte angeht, auch diskreditiert. Wäre es da nicht ratsamer, für mehr Unverantwortlichkeit und Dissidenz einzutreten, als die Intellektuellen mit Verantwortlichkeit zuzubetonieren, die sowieso keiner übernehmen kann oder auch tragen will?

Oskar Negt: Gegen Patchwork und kleine Erzählungen ist nichts einzuwenden. Sie sind produktiv und sinnvoll. Ich mache das auch. Aber mir ist völlig unklar, warum es damit sein Bewenden haben muss. Für mich als kritischen Intellektuellen reicht das nicht aus. Ich erlaube mir im Gegensatz zu den postmodernen Vorschriften, Gedanken über das Allgemeine zu machen, und zwar vom konstitutiven Zusammenhang der Gesellschaft bis hin zur Weltgeschichte.

? Deshalb auch Eigensinn und Geschichte.

Oskar Negt: Ja! Viele Elemente der Postmoderne sind mir vertraut. Die Dogmatisierung des vereinzelten Einzelnen ist m. E. die Umkehrung der Dogmatisierung des Allgemeinen. Sie ist im Grunde nichts anderes als die Umdrehungen der Struktur L. Althussers. Sie ist geschichtsloses Denken nach unten, in Richtung einer Provinzposse getrieben. Die Geschichte setzt sich nicht zusammen aus den Patchworks. Sie besteht eben auch aus Machtverhältnissen und Machtstrukturen, über die sich Gedanken zu machen nicht nur ein Dissident berücksichtigen muß, um nicht in den Knast zu kommen.

Ich kann auch nicht ständig gegen alles oder jede Ungerechtigkeit rebellieren. Ich bin kein Rebell in meinem Verhalten, sondern ein kritischer Intellektueller, der in Verhältnisse eingreift, die er glaubt erkannt zu haben. Die Verantwortung des Intellektuellen besteht auch im Begreifen der Dinge und Probleme. Wer soll es sonst machen? Wer ist frei gestellt? Es ist ein riesiger Verschleiß gesellschaftlicher Ressourcen, wenn die Intellektuellen anfangen, nicht mehr ihre Arbeitsmittel, die Begriffe, zu begreifen. Wer kann ein Buch lesen?

Wer ist verpflichtet ein Buch zu lesen? - Ein Hochschullehrer. Er wird dafür bezahlt, Bücher zu lesen, um sie anderen zu vermitteln. Deshalb soll er sie auch lesen! Mich würde es überhaupt nicht befriedigen, Patchwork zu machen, Kleingeschichten zu produzieren und nebenbei die Studenten darüber zu informieren, wo der Weltgeist sich verkrochen hat. Kleine Brötchen backen, die kleinen Schritte sind mir vertraut. Das ist auch für mich ein Stück radikaler Politik. Aber aus den Patchworks eine Linie des Denkens zu machen, ist ein Irrtum.

 

Das Interview wurde am 04.09.1992 geführt.

Verwendete Literatur von Oskar Negt:

•Öffentlichkeit und Erfahrung, zus. mit Alexander Kluge, Frankfurt/M 1972 •Diskussion mit O. Negt über "Öffentlichkeit und Erfahrung", in: Ästhetik & Kommunikation 12/1973, 4. Jg. •Industrialisierung der inneren Natur. Eine Diskussionsrunde, in: Ästhetik & Kommunikation akut 6/1981 •Geschichte und Eigensinn, zus. mit Alexander Kluge, Frankfurt/M 1981 •Die Geschichte der lebendigen Arbeitskraft. Diskussion mit O. Negt und A. Kluge, in: Ästhetik & Kommunikation 48/1982 •Lebendige Arbeit, enteignete Zeit, Frankfurt/M 1984 •Fünf Thesen zur Notwendigkeit der Geisteswissenschaften, in: Kursbuch 91/1988 •Aufrechter Gang, in: Strohmeier, Jürgen C. (Hg.): Utopie und Hoffnung, Mössingen-Talheim 1989 •Aus produktiver Phantasie, in: H. L. Krämer/C. Leggewie (Hg.): Wege ins Reich der Freiheit, Berlin 1989 •Schädelstätte des Sozialismus: Anfang oder Ende der Utopie?, in: FR, 10. April 1990 •Autonomie und Eingriff. Ein deutscher Intellektueller mit politischem Urteilsvermögen, in: Negt, O. et al.: Theorie und Praxis heute, Frankfurt 1990 •Maßverhältnisse des Politischen, zus. mit Alexander Kluge, Frankfurt/M 1992 •Wir können nicht mehr aus geborgter Realität leben. Interview mit O. Negt, in: links 4/1992

 

 

 

 

Aus wikipedia 2002

 

Oskar Negt, 2016 Oskar Reinhard Negt (* 1. August 1934 auf Gut Kapkeim in Ostpreußen) ist ein deutscher Sozialphilosoph. Neben seiner wissenschaftlichen Arbeit wandte sich Negt auch immer wieder tagespolitischen Themen zu.

Herkunft und akademische Laufbahn

Negt wurde 1934 auf dem ostpreußischen Gut Kapkeim nahe Königsberg als jüngstes von sieben Kindern geboren. Er stammt aus einer Familie von Kleinbauern und Arbeitern. Negt floh im Januar 1945 mit zwei Schwestern über Königsberg und Gotenhafen nach Dänemark, wo er zweieinhalb Jahre lang getrennt von den Eltern mit den beiden Schwestern in einem Flüchtlingslager lebte, ehe er nach Niedersachsen übersiedelte.

Nach dem Besuch der Oberrealschule in Oldenburg begann Negt zunächst ein Studium der Rechtswissenschaften in Göttingen, wechselte dann aber nach Frankfurt am Main, wo er bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno Soziologie und Philosophie studierte. Bei Adorno wurde Negt 1962 mit einer Dissertation über den Gegensatz von Positivismus und Dialektik bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Auguste Comte promoviert. Von 1962 bis 1970 war er Assistent von Jürgen Habermas an den Universitäten in Heidelberg und Frankfurt am Main; 1970 wurde er auf den Lehrstuhl für Soziologie der Technischen Universität Hannover, inzwischen Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover, berufen, an der er bis zu seiner Emeritierung 2002 lehrte.

Gastprofessuren führten ihn 1973 nach Bern, 1975 nach Wien und 1978 in die USA nach Milwaukee und Madison.

 

Wirken

Negt trat 1956 dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) bei. Um eine enge Zusammenarbeit der marxistischen Linken mit den Gewerkschaften bemüht, wurde er mit dem Beginn der Studentenbewegung von 1968 einer der Wortführer der Außerparlamentarischen Opposition und später des Offenbacher Sozialistischen Büros.

In dem von ihm herausgegebenen Sammelband <Die Linke antwortet Jürgen Habermas> (1968) griff Negt – zusammen mit Wolfgang Abendroth und anderen SDS-Aktivisten – Habermas wegen dessen während der Studentenunruhen erhobenen Vorwurfs des „linken Faschismus“ an, wofür Negt sich später öffentlich entschuldigte.

Negt ist seit den frühen 1960er Jahren den Gewerkschaften eng verbunden. Als Student war er Praktikant in der Bildungsabteilung der IG Metall unter der Leitung von Hans Matthöfer und wurde sodann stellvertretender Leiter einer DGB-Bundesschule. Hauptsächlich für deren Bildungsarbeit verfasste er Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen. Zur Theorie der Arbeiterbildung (1964, Druckfassung 1968); dies wurde eine seiner einflussreichsten Schriften. Während der gewerkschaftlichen Auseinandersetzungen um die 35-Stunden-Woche in den 1980er Jahren publizierte er die Schrift Lebendige Arbeit, enteignete Zeit. Politische und kulturelle Dimensionen des Kampfes um die Arbeitszeit (1984), die im Unterschreiten des 8-Stunden-Tags und der 40-Stunden-Woche ein utopisches Potential vermutete.

1972 gründete Negt mit einer Initiativgruppe von gewerkschaftsorientierten Eltern, Hochschullehrern und Pädagogen die Glockseeschule in Hannover. Diese sollte nach dem pädagogischen Prinzip der Selbstregulation arbeiten und exemplarisches Lernen durch Projektunterricht praktizieren. Negt leitete über zehn Jahre lang die wissenschaftliche Begleitung dieser Schule.

Aus der 1972 begonnenen langjährigen Kooperation mit dem Schriftsteller Alexander Kluge entstanden zahlreiche Gemeinschaftswerke wie die Schriften Öffentlichkeit und Erfahrung (1972) und Geschichte und Eigensinn (1981) sowie das Buch Maßverhältnisse des Politischen (1992). Im Jahre 2001 veröffentlichten die beiden die zweibändige Werksammlung Der unterschätzte Mensch. Darüber hinaus entstanden bis 2010 nahezu 50 über die dctp im deutschen Privatfernsehen ausgestrahlte Fernsehdialoge mit Kluge.

1994 begründete Negt die Loccumer Initiative kritischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit, die sich nach eigenen Angaben aus Sorge um „die geistig-politische Vorherrschaft konservativer und neo-liberaler Ideologien im öffentlichen Leben“ zusammengefunden hatte.[2]

Im Bundestagswahljahr 1998 ergriff er Partei für den SPD-Kanzlerkandidaten Gerhard Schröder und wurde Teil seines Beraterstabes. Es entstand die Schrift Warum SPD? – Sieben Argumente für einen nachhaltigen Macht- und Politikwechsel (1998). 2013 unterzeichnete er einen Prominenten-Aufruf gegen die Große Koalition und rief die SPD-Mitglieder zur Ablehnung des Koalitionsvertrags auf.

Negt verbindet als Wissenschaftler die Soziologie mit der Philosophie. Oskar Negt über sich selbst: „Im Grunde bin ich in meiner ganzen wissenschaftlichen Entwicklung durch das Raster der Disziplinen gefallen.“

Bildungsbegriff

Negt sieht ähnlich wie Charles Wright Mills soziologische Phantasie an erfahrungsorientierte Bildungsarbeit geknüpft. Das Gelingen einer solchen Kopplung läge darin, „die grundlegenden, oft verdrängten oder verzerrt wahrgenommenen Konflikte des Individuums als strukturelle Widersprüche der Gesellschaft zu erklären und von bloßen Symptomen derartiger Konflikte zu unterscheiden.“

Negt propagiert gesellschaftliche Schlüsselqualifikationen, eine Entwicklung von Kompetenzen in den Dimensionen des Lebens:

Identitätskompetenz – als Umgang mit bedrohten und gebrochenen Identitäten ökologische Kompetenz – als einen pfleglichen Umgang mit Menschen, Dingen und der Natur technologische Kompetenz – als ein Begreifen gesellschaftlicher Wirkungen von Technik und als Entwicklung von Unterscheidungsvermögen historische Kompetenz – als Erinnerungs- und Utopiefähigkeit Gerechtigkeitskompetenz – als eine Sensibilität für Enteignungsverfahren, für Recht und Unrecht, für Gleichheit und Ungleichheit Ökonomische Kompetenz – „Wie der Markt funktioniert, was seine Gesetze sind, ist der Lerngegenstand, der heute not tut“, weil die „Überstülpung der Gesellschaft durch betriebswirtschaftlichen Imperialismus“ volkswirtschaftliche Sichtweisen „aufgezehrt“ habe.

 

Werk

Lebendige Arbeit, enteignete Zeit – Wozu noch Gewerkschaften

Oskar Negt beschäftigte sich schon in seinen frühesten Publikationen mit den Gewerkschaften. So hat er bereits 1968 mit <Soziologische Phantasie und exemplarisches Lernen. Zur Theorie der Arbeiterbildung> ein Konzept zur gewerkschaftlichen Bildungsarbeit vorgelegt.

1984 hat er mit der Publikation <Lebendige Arbeit, enteignete Zeit. Politische und kulturelle Dimensionen des Kampfes um die Arbeitszeit> argumentativ in den Arbeitskampf um die 35-Stunden-Woche eingegriffen. Die Unterschreitung des 8-Stunden-Tags bezeichnete er darin als „epochalen Einschnitt in der Kampfgeschichte um Arbeitszeitverkürzung“.

Mit der quantitativen Umschichtung von entfremdeter Arbeitszeit zu „Emanzipations- und Orientierungszeit“ eröffne sich die Perspektive für eine „Neuorganisation des Systems gesellschaftlicher Arbeit“; der überschießende Symbolgehalt bestehe darin, als wäre die 35-Stunden-Woche „bereits der qualitative Sprung in eine neue Gesellschaft“.[4]

In seinen neueren Büchern beschäftigt er sich mit den Fragen von Arbeit, Würde und Globalisierung. In seinem Buch „Wozu noch Gewerkschaften?“ richtet Negt an die Gewerkschaften kritisch die Frage nach deren neuen Herausforderungen. Politisches Engagement folge nicht mehr dem traditionellen organisatorischen Typ, und die Zeiten, in denen Gewerkschaften die Zukunftsperspektive und das Monopol auf den Fortschritt gepachtet hatten, seien vorbei. Negt sieht die Gewerkschaften grundsätzlich verpflichtet, sich auch um die außerbetrieblichen Bereiche zu kümmern. Insbesondere soll das Kulturmandat erweitert werden.

Negt geht es darum, dass die Gewerkschaften heutzutage sich nicht ausschließlich für einen ökonomisch verengten Interessenkampf einsetzen, sondern Freizeit und Kultur stärker ins Visier nehmen und ihre außerbetrieblichen Angebote entsprechend ausweiten sollten. Eine Selbstbeschränkung der Gewerkschaften auf ihre traditionelle Rolle sei zum Scheitern verurteilt.

Im Zeitalter einer hohen Mobilität des Kapitals lasse dieses sich nicht mehr mit Organisationen auf einen Kampf ein. Es weiche einer solchen Konfrontation vielmehr aus und wandere ab. Dennoch soll in einer Zeit, in der Gewerkschaften immer mehr Kompetenzen abgenommen werden, immer daran erinnert werden, dass es die Gewerkschaften waren, die den mächtigen Industriellen Zugeständnisse abgerungen haben. Nach Negt: „[…] Denn Sozialstaat und Demokratie bildeten eine unzertrennbare Einheit. Wer den Sozialstaat in seinem Kern beschädigt, legt die Axt an die Wurzel der Demokratie“. Negt nimmt den Menschen als Ganzes in den Blick und geht auf die Probleme auch außerhalb des Arbeitslebens ein. Umweltverschmutzung und Lärmbelästigung etwa sind Probleme, die von der kapitalistischen Produktionsweise hervorgebracht werden.

Arbeit und menschliche Würde

Der Mensch wird durch die Ökonomie geleitet und gesteuert. Nach Negt ist es daher vorrangig die Aufgabe der Gewerkschaften, ein „Kulturmandat“ wahrzunehmen. Die Gewerkschaften seien schon durch ihre eigene Tradition dazu verpflichtet, auch an der außerbetrieblichen Front tätig zu werden. In seinem Buch „Arbeit und menschliche Würde“ beschreibt Negt, dass die faktischen Auswirkungen andauernder Arbeitslosigkeit einen Gewaltakt darstellen, der Millionen Menschen ihrer Würde beraubt und dies, obwohl die Industriestaaten heute so reich sind wie nie zuvor. Negts Ideen gehen von den momentanen Machtverhältnissen unserer Gesellschaft aus. Er spricht dabei von zwei Ökonomien. Die erste Ökonomie folgt den Gesetzen des Marktes. Die zweite Ökonomie, die sich nicht nach den Regeln des Marktes richten soll, befasst sich mit dem Gemeinwohl der Gesellschaft. Negt möchte dazu nicht die Eigentumsverhältnisse ändern, er vertritt vielmehr eine linkssozialdemokratische Position, die dem Kapital Grenzen setzen will.

Öffentlichkeit und Erfahrung

Ein wichtiger Beitrag, den er zusammen mit Alexander Kluge verfasste, heißt: Öffentlichkeit und Erfahrung: Zur Organisationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit. Der Beitrag will ein Fundament dafür liefern, wie die Impulse des Aufbruchs von 1968 in eine langfristige Strategie zur „Verlebendigung“ der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung umgesetzt werden können.

Negt und Kluge zeigen, dass die Subjekte „die bloße Abbildung der Realität“ sich nur dann aneignen, wenn sie wissen, dass sie eine Handlungsalternative haben: „Erst aus dieser Handlungsmöglichkeit könnte sich ihr Interesse am Realismus rekrutieren.“

In der Diskussion um die Person Joschka Fischers und dessen Verbindung zur 68er-Generation meldete sich Oskar Negt zu Wort: Die Hetzjagd auf Joschka Fischer habe eine über die Tagespolitik hinausgehende Bedeutung. Dadurch solle die Utopie oder die Alternative zum Kapitalismus, die 1968 aufgeworfen wurde, diskreditiert werden, indem sie mit Gewalt in Zusammenhang gebracht werde, und so die konservative Hegemonie gestärkt werden.

Gesammelte Werke

Der Steidl Verlag in Göttingen hat die Gesammelten Werke Negts noch zu seinen Lebzeiten in 20 Bänden herausgegeben und beginnt jetzt mit der Herausgabe der transkribierten Vorlesungen, deren erster Band als Politische Philosophie des Gemeinsinns die antike griechische Philosophie zum Gegenstand hat.

Zitat

„Die Gewerkschaft muss ihr politisches Mandat erweitern. Das bedeutet nicht, dass sie zu einer Ersatzpartei werden soll, sondern dass sie sich ihres historischen Auftrages für die gesamte gesellschaftliche Entwicklung bewusst wird. Die Gewerkschaften stehen nicht nur für die lebendige Arbeitswelt, sondern auch für Gestaltungswillen in der Gesellschaft.“

– Oskar Negt: Wozu noch Gewerkschaften? Eine Streitschrift. 2005, S. 158.

Auszeichnungen

1996: Niedersachsenpreis für Publizistik

2006: Bundesverdienstkreuz (1. Klasse)

2008: Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch, mit Alexander Kluge]

2011: August-Bebel-Preis 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Oskar Negt Nur noch Utopien sind realistisch. Perspektiven und Wegweisungen für eine solidarische Gesellschaft.