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§ 8    [Soziale Gleichheit]

Alles ist Gottes, des gemeinsamen Vaters; wir aber sind Brüder eines Stammes. 
Sind wir alle Brüder, dann ist's am besten und gewiß gerecht, daß man zu gleichen Teilen am großen Erbe Teil erhält. 
Gregor von Nyssa (335
-394)    wikipedia  Gregor_von_Nyssa  

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Der Sozialismus als solcher ist zu Ende. Der Sozialismus wird nicht noch einmal revidiert, er hebt sich auf. Erschöpft hat sich der Impuls einer zweihundert­jährigen politischen Philosophie, die davon inspiriert war, durch die soziale Gleichheit der Menschen ihre Glückseligkeit auf Erden herbeizuführen. Aber Gleichheit wie Glückseligkeit haben sich als unerreichbarer utopischer Horizont erwiesen, der sich in dem Maße entfernte, wie man sich ihm zu nähern suchte. Bereits drei Generationen haben erleben müssen, daß es einen funktionierenden, geschweige einen menschlichen Sozialismus nicht gibt.« (Huber)

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Dieses apodiktische Urteil, gefällt unter dem Eindruck der revolutionären Umwälzungen in der DDR im Herbst 1989, stammt von einem Linken. Zwar schränkt Joseph Huber sein Urteil am Ende desselben Artikels wieder ein, spricht nun von der »Tradition eines freiheitlichen und demokratischen Sozialismus«, für den das Gesagte nicht gelte, und schärft dem Leser ein: »Das Ende des Sozialismus sollte deshalb nicht mit dem Ende der sich sozialistisch nennenden Parteien verwechselt werden.«71 Aber die Absage an die Idee der sozialen Gleichheit erhält er ohne Abstriche aufrecht.

Zwingen die Erfahrungen mit dem sogenannten <realen Sozialismus> uns tatsächlich, die Idee der sozialen Gleichheit aufzugeben? 

Ist sie wirklich durch die Praxis der Marxisten-Leninisten so nachhaltig diskreditiert, daß sie fortan nicht mehr als Orientierung dienen kann? Joseph Huber macht es sich ein wenig zu leicht, indem er die Frage nach größerer sozialer Gleichheit mit dem sicherlich unseriösen Anspruch verkoppelt, Glückseligkeit auf Erden politisch herstellen zu wollen.

Sicherlich, es gab einen solchen schwärmerischen Fanatismus der Gleichheit, etwa bei Babeuf und seinem Schüler Buonarotti, der sich von der »Gleichheit der (sozialen) Tatsachen« die endgültige Erlösung der Menschheit versprach. Aber er ist keineswegs typisch für die politischen Strömungen der Moderne, die die Forderung nach sozialer Gleichheit erhoben. Und ob man den <realen Sozialismus> mit seiner Vorliebe für hierarchische Strukturen, den vielfältigen Privilegien der Nomenklatura und der Mißachtung der Basis in Partei und Staat überhaupt so ohne weiteres in diese Tradition einordnen kann, ließe sich wohl bezweifeln.

Es gibt keinen vernünftigen Grund dafür, daß die Frage nach der sozialen Gleichheit mit dem Bankrott des <realen Sozialismus> von der Tagesordnung verschwinden sollte. Im Gegenteil: In einer Welt des krassen Wohlstandsgefälles zwischen Nord und Süd, zwischen West und Ost und innerhalb der einzelnen Gesellschaften ist eher zu erwarten, daß sie an Aktualität gewinnt, zumal wenn wir aus ökologischen Erwägungen die ökonomische Expansion, durch die die Verteilungsfragen psychologisch entspannt werden, abbremsen müssen.

Und daß sich Gleichheit schlicht als »unerreichbarer utopischer Horizont« erwiesen hätte, »der sich in dem Maße entfernte, wie man sich ihm zu nähern suchte«, wird man — wenn man nicht in politisch sterilem Alles-oder-nichts-Denken stecken bleibt — angesichts des schwedischen Beispiels wohl auch nicht behaupten können. Zwar befindet sich das schwedische Modell seit einer Reihe von Jahren in ernsten Schwierigkeiten, aber daß es den schwedischen Sozialdemokraten gelungen ist, auf dem Weg zur sozialen Gleichheit ein erhebliches Stück voranzukommen, wird von kaum jemand ernsthaft bezweifelt.

Offenbar liegen auch hier die Probleme komplizierter, als es auf den ersten Blick erscheinen mag, und ehe wir die Idee der Gleichheit auf den großen Müllberg verbrauchter und mißbrauchter Begriffe werfen, sollten wir uns vielleicht doch die Mühe machen, den Zusammenhang zu den anderen Grundideen der europäischen Moderne zu bedenken, um dann schließlich präziser fragen zu können, worin die Schwierigkeiten bestehen, die sich bei der Realisierung sozialer Gleichheit ergeben.

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Die Gleichheitsforderung ist im Kern nichts anderes als der Ausdruck des Universalitätsanspruchs der Freiheit. Sobald Freiheit in Europa politisch als gleiche Freiheit für alle gedeutet wird, geht es, wie alle großen Emanzipations­bewegungen bis hin zur heutigen Frauenbewegung zeigen, um Gleichheit, um die Rechtsgleichheit zunächst, dann um die politische Gleichheit und schließlich um deren reales Fundament, die soziale Gleichheit. Im Grunde »ist das Gleichheitspostulat nur eine erläuternde Bekräftigung der Universalität der Idee der Freiheit selbst. Gleichheit interpretiert den Sinn von Freiheit, für alle Menschen in allen gesellschaftlichen Beziehungen in gleicher Weise zu gelten. Dieser gleiche Anspruch eines jeden Menschen auf Berücksichtigung seiner Würde und seiner Interessen ist der Inhalt des Gerechtigkeitsbegriffs«, wie er zum Beispiel in der demokratisch-sozialistischen Tradition verstanden wird.72

Wer also an der universellen Bedeutung der Freiheit festhalten will, muß auch das Gleichheitspostulat gelten lassen. Von dieser Position her hat die Linke von Anfang an jenen bornierten bürgerlichen Liberalismus attackiert, der durch das Zensuswahlrecht die politische Freiheit an den Besitz koppelte und damit viele Menschen von der Wahrnehmung ihrer Freiheitsrechte ausschloß. Zugleich war dies der Hintergrund, vor dem die Forderung nach Freiheit und Menschenwürde in allen gesellschaftlichen Lebenszusammenhängen erhoben wurde. Die Forderung nach sozialer Gleichheit liegt also durchaus in der Konsequenz des modernen universalistischen Freiheitsverständnisses.

72  Thomas Meyer, <Grundwerte und Wissenschaft im Demokratischen Sozialismus>. Bonn 1978, S. 110

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Oder anders ausgedrückt: »Jedes Freiheitsverständnis, das prinzipiell zu eigenverantwortlichem Handeln befähigte Menschen aus der Geltung des Freiheitspostulats ausschließt oder aber Dimensionen des menschlichen Lebens und der gesellschaftlichen Verhältnisse ausnehmen möchte, schränkt... die Geltung der Freiheit selbst ein.«73

Heute ist der universalistische Freiheitsbegriff in der westlichen Welt so allgemein akzeptiert, daß Gleichheit, sofern damit wie in der demokratischen und demokratisch-sozialistischen Tradition gleiche Freiheit aller gemeint ist, in der Tat ein Ziel darstellt, »das Menschen um seiner selbst willen anstreben und dem sich die alten und neuen Machthaber nur mit einiger Anstrengung entgegenstellen können.«74 In gewisser Weise versteht sich die Forderung nach Gleichheit heute von selbst, während Ungleichheiten aufwendig gerechtfertigt werden müssen, um akzeptabel zu erscheinen.

Sie können freilich in Einzelfällen durchaus gerechtfertigt werden, unter anderem im Namen des übergeordneten Gesichtspunkts der Gerechtigkeit, also des gleichen Rechts aller, ihrer Menschenwürde gemäß frei zu leben. Wo nämlich die Voraussetzungen verschieden sind, kann Chancengleichheit nur durch ungleiche Behandlung hergestellt werden. In solchen Fällen wäre eine mechanische Gleichbehandlung ungerecht und damit ein Verstoß gegen die Universalität des Freiheitspostulats. Rechtliche, politische und soziale Gleichheit bleibt also immer auf die Entfaltungschancen des Individuums bezogen, ist mithin nicht als äußerliche Gleichheit, sondern als Chancengleichheit zu verstehen.

73  ebenda
74  Thomas Nowotny, Bleibende Werte — verblichene Dogmen. Die Zukunft der Sozialdemokratie. Wien/Köln/Graz 1985, S. 269

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Es ist nach diesen Klärungen leicht einzusehen, daß der von konservativer und liberaler Seite oft behauptete prinzipielle Gegensatz zwischen Freiheit auf der einen und Gleichheit beziehungsweise Gerechtigkeit auf der anderen Seite weder auf der Ebene der Begriffe noch in der politischen Praxis haltbar ist. Ein solcher prinzipieller Gegensatz besteht nur, wenn Freiheit mit Privileg verwechselt oder die Gleichheit nicht als Chancengleichheit verstanden, sondern im Sinne äußerlicher Gleichmacherei mißdeutet wird. Und da von wirklicher Chancengleichheit nicht die Rede sein kann, wenn die sozialen Voraussetzungen zur Wahrnehmung der Freiheit sehr unterschiedlich sind, bleibt auch die soziale Gleichheit ein Ziel, das jede Gesellschaft verfolgen muß, die es mit der Demokratie ernst meint.

Daß rechtliche, politische und soziale Gleichheit erst zusammen den Kontext ergeben, in dem sich der Universalitätsanspruch der Freiheit entfalten kann, läßt sich mit guten Gründen nicht bestreiten. Freilich fangen die Probleme sofort an, wenn wir uns darüber einigen müssen, welches Maß an Gleichheit mit welchen Methoden durchgesetzt werden kann und soll.

So gibt es zum Beispiel Anzeichen dafür, daß der Versuch, soziale Gleichheit über staatliche Transferleistungen herbeizuführen, in den am weitesten entwickelten Wohlfahrtsstaaten heute an Grenzen stößt, einmal wegen des bürokratischen Aufwands für diese Maßnahmen und zum andern, weil immer größere Gruppen der Bevölkerung von der staatlich organisierten Umverteilung negativ betroffen sind. Die Schlußfolgerung daraus muß allerdings nicht unbedingt lauten, daß man in Zukunft ein größeres Maß an Ungleichheit hinzunehmen hat. Es könnte auch nach anderen Methoden gesucht werden, sich der sozialen Gleichheit anzunähern. Eine mögliche bestünde zum Beispiel darin, über tarifpolitische Strategien, die Veränderung der Besoldungsstrukturen und so weiter stärker auf die primäre Einkommensverteilung einzuwirken.

Auch der Grundsatz der Rechtsgleichheit kann in der Praxis problematisch werden, zum Beispiel, wenn die Verfolgung kleinerer Ordnungswidrigkeiten und Straftaten einen Aufwand erfordert, der die Gemeinschaft weitaus mehr schädigt als die Vergehen selbst.

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Wenn es also auch keinen prinzipiellen Gegensatz zwischen Freiheit und Gleichheit gibt, im Gegenteil die Gleichheitsforderung im Universalitätsanspruch der Freiheit selbst enthalten ist, so kann es doch bei der Verwirklichung der Gleichheitsforderung Konflikte mit übergeordneten Wertgesichtspunkten und Interessen geben. In einer demokratischen Gesellschaft können solche Konflikte nur durch öffentliche Diskussion und Abstimmung gelöst werden. Dies bedeutet aber, daß die Gleichberechtigung in der Beratung über den Sinn von Maßnahmen zur Herstellung von Gleichheit und über zulässige Ungleichheiten die Grundnorm für jede Argumentation und Entscheidung in diesem Bereich sein muß.

Nach John Rawls führt ein solches kommunikativ-dynamisches Gerechtigkeitsverständnis zur Forderung nach den größtmöglichen Freiheiten für alle und nach der Anerkennung nur derjenigen Ungleichheiten in den individuellen Lebenschancen, die durch solche Leistungen bedingt sind, durch die auch noch das Lebensniveau der am schlechtesten Gestellten verbessert würde, weshalb sie ihnen auch zustimmen können.75

Es versteht sich, daß die Inhaber von Privilegien eine solche öffentliche Diskussion, noch dazu, wenn sie nicht folgenlos bleibt, scheuen und die Konservativen, sofern sie sich als Vertreter privilegierter <Freiheiten> verstehen, alles daran setzen, die rationale Erörterung dieser Fragen durch sachfremde Argumente zu torpedieren. Aber auch für die Linke wäre eine solche Diskussion nicht ganz harmlos, weil sie gezwungen würde, darüber nachzudenken, ob nicht ein gewisses Maß an Ungleichheit oder gar Ungerechtigkeit in Kauf genommen, ja gerechtfertigt werden müßte, um die Freiheit, die Lebendigkeit und die Produktivität des sozialen Lebens nicht zu gefährden und damit allen zu schaden.

75  Vgl. John Rawls, A Theory of Justice. Cambridge/Mass. 1971. Dt.: Eine Theorie det Gerechtigkeit. 1975

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Eine dieser Beeinträchtigungen eines freien gesellschaftlichen Lebens, die wir schon in anderem Zusammenhang angesprochen haben, ist die Verrechtlichung der Gesellschaft. Nun könnte man zwar zeigen, daß die Fülle, die Kompliziertheit und Undurchschaubarkeit der rechtlichen Regelungen, in die das Alltagsleben der Menschen heute vielfach eingezwängt ist, nicht zuletzt daher rühren, daß privilegierte Sonderinteressen sich in der Gesetzgebung durchgesetzt und sich in vielen komplizierten Ausnahmeregelungen niedergeschlagen haben, mithin nicht zuviel, sondern zu wenig Gerechtigkeit geübt wird.

Andererseits aber ist es auch wahr, daß die oft unter Linken besonders verbreitete Sucht, alles und jedes rechtlich zu regeln, damit nur ja keine kleine Ungerechtigkeit bestehen bleibt, in der Konsequenz ebenfalls dazu führen würde, daß am Ende ein engmaschiges Netz von Gesetzen und Vorschriften die Bewegungsfreiheit der Menschen über Gebühr einschränkte, die einfachsten Lebenssachverhalte unerträglich komplizierte und die Bürger mit einem Wust bürokratischer Auflagen belastete.

Gerechtigkeit und Gleichheit müssen stets auf Freiheit bezogen bleiben, wenn sie ihren humanen Sinn nicht verlieren sollen. Werden sie aus diesem Zusammenhang herausgelöst und verselbständigt, dann kann es leicht dazu kommen, daß im Namen der Gerechtigkeit der Spielraum der Freiheit immer weiter eingeengt wird, daß um der Gleichbehandlung der Bürger willen ihre Würde als Subjekte, das heißt, ihr Recht auf aktive und selbständige Lebensgestaltung unzumutbar eingeschränkt wird.

Wir sehen also, daß sich auch dann, wenn man die Forderung nach Gleichheit in allen ihren Aspekten als berechtigt anerkennt, in der Praxis immer wieder komplizierte Abwägungsaufgaben stellen. Dies gilt erst recht, wenn es um Fragen der sozialen Gleichheit geht.

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Daß große Machtvorsprünge einzelner und damit auch allzu krasse Unterschiede bezüglich des Besitzes und der Einkommen abgebaut, daß Privilegien im Zugang zu Bildung und Information aufgehoben werden müssen, um wirkliche Chancengleichheit herzustellen, kann kaum bestritten werden. Ebenso ist es zweifellos richtig, daß »eine Gesellschaft, ausschließlich errichtet nach dem Prinzip des Verdienstes ... eine ungerechte Gesellschaft, eine Dschungel-Ordnung« wäre.76

Dennoch wäre es falsch, hieraus zu schließen, daß eine wahrhaft freie und gerechte Gesellschaft eine solche wäre, in der sich soziale Ungleichheiten gar nicht erst entwickeln könnten, denn dies liefe auf nichts anderes hinaus, als die Dynamik der Gesellschaft selbst zu arretieren, was nicht nur Unfreiheit bedeuten würde, sondern auch die Zerstörung jener Bedingungen, von denen allein sich die Menschen die Verbesserung ihrer sozialen Lage erhoffen dürfen.

Damit Demokratie und Freiheit für alle lebbar werden, muß die Linke also stets danach trachten, soziale Ungleichheiten nach Möglichkeit abzubauen. Gleichzeitig muß sie um der Freiheit und Produktivität des sozialen Lebens willen die Bedingungen bestehen lassen, ja, sogar fordern, unter denen sich immer neu soziale Ungleichheiten entwickeln. Ein typisch sozialdemokratisches Einerseits-Andererseits, über das sich Generationen von Marxisten lustig gemacht haben, das vielen als blanker Opportunismus, anderen als Mangel an Konsequenz erscheint, das aber, unvoreingenommen betrachtet, sehr genau der prekären Situation menschlicher Freiheit entspricht. Radikale Ein-für-allemal-Lösungen gibt es auch hier nicht. Auch hier gilt die Sisyphos-Formel des Godesberger Programms der SPD: »Der Sozialismus ist eine dauernde Aufgabe.«

76   Vgl. Ludwig Marcuse, Das Märchen von der Sicherheit. (1944), Zürich 1981, S. 88

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Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit — die Werte-Trias der Französischen Revolution, die als ganze nur in der demokratisch-sozialistischen Tradition fortlebt, beschreibt ein kompliziertes wechselseitiges Bedingungs­verhältnis dreier Wertgesichtspunkte, von denen keiner ohne den Bezug auf und ohne modifizierende Begrenzung durch die beiden anderen seinen vollen humanen Sinn entfalten kann. Der universalistische Freiheits­begriff führt zwangsläufig zur Forderung nach Gleichheit der Chancen, die wiederum das reale Fundament brüderlichen Zusammenlebens in der Gesellschaft darstellt. Umgekehrt ist das Gefühl menschlicher Verbundenheit, das der Begriff <Brüderlichkeit> (freilich noch mit maskuliner Schlagseite) bezeichnet, die Grundlage sowohl des universal­istischen Freiheitsbegriffs als auch der Forderung nach rechtlicher, politischer und sozialer Gleichheit.

Die Utopie einer Gesellschaft der Freien und Gleichen, einer Lebens- und Arbeitsgemeinschaft mündiger Bürger gleichen Rechts und gleicher Würde war die konkrete Gestalt, in der die drei Momente der Werte-Trias zusammen verwirklicht gedacht wurden. Aber schon bald zeigte sich, daß die Dynamik, die die bürgerliche Revolution wenn nicht ausgelöst, so doch beschleunigt hatte, zu neuer Ungleichheit und zu neuen Formen der Unterdrückung führte, so daß Komplizenschaft der Reichen und Privilegierten auf der einen und Klassensolidarität auf der anderen Seite an die Stelle der Brüderlichkeit traten.

Was die Gesellschaft mühsam genug zusammenhielt, waren Tausch- und Vertragsbeziehungen, waren Kalküle des <do ut des> und rechtliche Regelungen. Dies konnte so lange gutgehen, als Traditionen einer älteren asymmetrischen, das heißt auf Unterordnung beruhenden Gemeinschaftlichkeit fortlebten und jenen zusätzlichen Halt gaben, den die systemische Vernetzung nicht bieten kann. Heute aber haben diese älteren Formen der Gemeinschaftlichkeit vielfach ihre Orientierungskraft verloren, heute ist wirkliche Gemeinschaftlichkeit nur auf der Grundlage weitgehender sozialer Gleichheit denkbar.

Zu den Grunderfahrungen der Moderne gehört auch die Einsicht in die begrenzte Leistungsfähigkeit jenes abstrakten Vergesellschaftungsmodus, der sich in den Tauschbeziehungen auf dem Markt und den rechtlichen Beziehungen im Staat verwirklicht. Daß die vielfältigen Probleme, die das Zusammenleben der Menschen auf der Erde heute belasten, durch die Universalisierung dieser abstrakten Vergesellschaftung zu lösen seien, ist purer Aberglaube.

Die aus der christlichen Vorstellung der Gotteskindschaft des Menschen erwachsene Losung der <Brüderlichkeit> mag zwar für manches Ohr antiquiert und weltfremd klingen, sie ist aber aktueller denn je. Vielleicht dient es der Sache, wenn wir in der Sprache der Soziologen von der <Ressource Solidarität> sprechen.

In beiden Fällen ist dasselbe gemeint: Nur wenn die Menschen lernen, sich als Brüder — und Schwestern — zu betrachten, wenn sie Verantwortung füreinander und für ihre Kinder und Enkelkinder übernehmen, können sie die Bedingungen erhalten und verbessern, unter denen menschenwürdiges Leben auf der Erde möglich ist. Dies freilich kann und wird nur geschehen, wenn die Forderung nach rechtlicher, politischer und sozialer Gleichheit nicht aufgegeben wird.

Weil die Menschheit nur gemeinsam ihre Zukunft sichern kann, weil der Kampf aller gegen alle, wie wir heute klarer als je zuvor erkennen, absehbar zum gemeinsamen Untergang führt, müssen wir — schon um des eigenen Überlebens willen — weiter danach trachten, soziale Ungleichheiten abzubauen. Nur so kann auf der Basis gerechterer Verhältnisse jener Geist der Brüderlichkeit wachsen, den wir dringend brauchen, um die sich vielfältig abzeichnenden Katastrophen doch noch abzuwenden.

131-132

(71) Joseph Huber, >Geistig erstarrt, moralisch erschöpft. Der Sozialismus wird nicht noch einmal revidiert, er hebt sich auf.< In: Süddeutsche vom 21.10.1989 

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  wikipedia  Joseph Huber  *1948 

 

 

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