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§ 9  und Schluss    /     Strasser-1990

Der Optimist erklärt, daß wir in der besten aller möglichen Welten leben.
Der Pessimist fürchtet, daß das wahr ist.
James B. Cabell

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Aus der Geschichte des Abendlandes kennen wir den Zusammenhang von Apokalypse und Utopie. Auch heute liegt wieder beides nah beieinander: lähmende Zukunftsangst und das Gefühl des Aufbruchs.

Eben noch schienen uns alle Horizonte verdüstert, drohten von allen Seiten Katastrophen unweigerlich über uns hereinzubrechen, da weitet sich auf einmal der Blick, geschieht unter unseren Augen das längst nicht mehr für möglich Gehaltene, spannen sich unsere utopischen Kräfte neu: Die Völker Mittel- und Osteuropas befreien sich, der Ost-West-Konflikt gehört auf einmal der Vergangenheit an, wirkliche Abrüstung wird möglich, in Südafrika wankt das Apartheidsystem, Chile begibt sich wieder auf den Weg der Demokratie...

Wenn solche Veränderungen möglich sind, was sollte uns da nicht gelingen können?

Und dennoch bleibt die Angst. Denn die Gefahren sind vielfältig, und viele von ihnen rücken scheinbar unaufhaltsam näher. »Man kuckt in die Zukunft / wie in eine Geschützmündung«, schreibt Peter Rühmkorf in einem Gedicht, und sein Kollege Günter Kunert sekundiert: »Die Hoffnung aufgeben / wie einen Brief ohne Adresse. / Nicht zustellbar und / an niemand gerichtet.«

Wer wollte leugnen, daß sie damit unserer Zeit aus dem bedrückten Herzen sprechen?

Aber hier ist nur die eine, die lähmende Seite unserer Angst angesprochen. Daß es so nicht mehr lange weitergehen kann, daraus läßt sich auch der Schluß ziehen, daß wir den Schritt in Neuland wagen müssen, wie es östlich von uns ja geschieht. Auch das Zeitalter der Renaissance, der großen Entdeckungen, war für viele Zeitgenossen eine Epoche der Angst. Nicht wenige waren überzeugt, daß das Weltenende nahe sei, hörten die Fanfaren des Jüngsten Gerichts. Wie Jean Delumeau nachgewiesen hat, war in der zweiten Hälfte des 15. und im 16. Jahrhundert die Erwartung des baldigen Weltuntergangs geradezu epidemisch.

Und dennoch wurden zur selben Zeit die großen Entdeckungsfahrten unternommen, wurde das Neue gedacht, die Utopie eines humanistischen Europa, einer moralisch geordneten Welt und einer von Aberglauben und theologischer Einmischung befreiten Bildung und Kultur.77 In Deutschland kehrt dieselbe zwischen Apokalypse und Utopie schwankende Stimmung in den ersten Jahrzehnten nach der Bismarckschen Reichsgründung wieder, jener Zeit der stürmischen Industrialisierung und der <Großen Depression> der pietistisch-protestantischen Weltuntergangspropaganda und der sozialdemokratischen Revolutions­erwartung, die Lucian Hölscher als das »Wetterloch der deutschen Geschichte« bezeichnet hat.78

Zugegeben:

Die Bedrohungen, mit denen wir es heute zu tun haben, sind von anderer Art als die, die den Menschen an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit Angst und Schrecken bereiteten, sind auch nicht dieselben, die im ausgehenden 19. Jahrhundert apokalyptisch stimmten oder utopisch spannten. 

Aber auch gegen unsere massiveren, wirklicheren Gefahren bäumt sich der utopische Impuls auf. Auch wenn die Erfahrung zweier Weltkriege, von Faschismus und Stalinismus uns die Flügel gestutzt hat, ganz ausgetilgt ist der Glaube nicht, daß die Geschichte doch noch einen anderen Gang nehmen könnte als den, der sich bedrohlich abzeichnet, und sei es nur, weil noch Erinnerungen wach sind an die Zukunft, die uns im Traum verheißen wurde: »Zu meiner Zeit in tausend Jahren / wird die Musik wichtig sein, nicht die Buchhaltung, / das Leben, nicht das Geschäft, / der Wald, nicht der Fleiß, / das Werk, nicht der Erfolg.«79

 

77  Jean Delumeau, Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. und 18. Jahrhunderts. Reinbek 1985
78  Lucian Hölscher, Weltgericht oder Revolution. Protestantische und sozialistische Zukunftsvorstellungen im deutschen Kaiserreich. Stuttgart 1989
79  Josef Luitpold, Zu meiner Zeit. In: Unter Tage, über Tage. Gedichte aus der Arbeitswelt, hg. von Walter Köpping. Frankfurt/M. 1966, S. 153
G.Kunert bei detopia

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Aber welche Ressourcen stehen uns zur Verfügung, um die erträumte Zukunft zu gewinnen, aus welchem geistigen Fundus können wir schöpfen, welche gemeinsamen Werte und Überzeugungen mobilisieren, um das Zusammenleben der Menschen auf der Erde anders, besser zu organisieren?

Der Geist der Moderne, das Pathos von Aufklärung und Emanzipation, sagen uns manche, sei endgültig erschöpft. Aber die dies sagen, haben zumeist einen engen, einseitigen Begriff der Moderne, sehen nur die prometheischen Himmelsstürmer, den naiven Szientismus, den Ordnungswahn, den Machtrausch, die Angst vor dem Unverfügbaren und die Sucht, sich alles zu unterwerfen, die äußere und die innere Natur. Aber die Moderne ist mehr, sie ist zugleich die skeptische Relativierung ihrer rasenden Gewißheiten, ist auch Toleranz, Geltenlassen, Rehabilitierung der Subjektivität, der Leidenschaften, der Sinnlichkeit.

»Vom Geist des Prometheus getrieben«, schrieb Alfred Döblin 1938 in einem kulturkritischen Essay

»werden die anfänglichen Nomaden, Sammler und Jäger, die Ackerbauern und Viehzüchter immer mehr danach verlangen, nur von sich abzuhängen, von den selbständig gefertigten Produkten zu leben, die Erde nach ihren Bedürfnissen umzuschaffen. Sie werden die feindlichen Tiere ausrotten, den Einfluß der Elemente abdämmen, sich gesellschaftlich fester und fester zusammenschließen und zuletzt dazu gelangen, an sich selbst und ihren Gruppen biologische Veränderungen vorzunehmen, wobei sie vielleicht eines Tages die Grenzen unserer Art überschreiten. Und das wird der prometheische Trieb vollbracht haben, und es wird dennoch keine Leistung sein, an der, wie einige fürchten, die Erde zugrunde geht. Denn Prometheus ist nicht allein, er wird nach einer Weile wieder zur Ordnung, zur großen Ordnung gerufen.«80

 

80  Alfred Döblin, Prometheus und das Primitive (1938). In: Schriften zur Politik und Gesellschaft, Ausgewählte Werke, ed. Walter Muschg. 1972, S. 351

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In unserem anthropozentrischen Wahn übersehen wir manchmal, daß wir, wie Döblin sagt, »nicht allein sind«, daß wir eingebettet sind in einen Natur­zusammen­hang, daß mit uns ein Teil der Tier- und Pflanzenwelt sterben mag, daß am Ende aber doch die Natur über uns triumphiert, uns »zur großen Ordnung ruft«. Freilich muß es nicht so kommen, jedenfalls nicht in menschlichen Zeitdimensionen. Der Mensch kann sich auch selbst zur Ordnung rufen, er ist nicht einem Gattungsschicksal machtlos ausgeliefert; im Sinne des Toynbeeschen <challenge and response> kann er auf neue Heraus­forderungen mit der Veränderung seiner Lebensweise, seiner Institutionen, seiner Gewohnheiten antworten. Wir stehen heute vor einer solchen Heraus­forderung; von unserer Antwort hängt es ab, ob es uns gelingt, als Gattung und menschenwürdig zu überleben.

»Wir müssen«, schreibt A.M. Klaus Müller, »bis in die Tiefe unserer bewußten und unbewußten Existenz zu verstehen und zu bewähren lernen, daß wir nur noch die Wahl zwischen Selbstmord und einem weniger eigensüchtigen, weil übergeordneten Denken haben.«

Es gelte Abschied zu nehmen von einer Form der Utopie, »die sich träumerisch vor einen Hintergrund unbegrenzter Möglichkeiten projiziert«.81 Statt dessen empfiehlt er, sich an Georg Pichts Begriff der <aufgeklärten Utopie> zu halten, die dieser als »antizipierte Gestalt der Zukunft selbst, als eine mögliche Realität« charakterisiert.

»Der Begriff der Utopie«, schreibt Picht,

»hat dann die Funktion, zwischen Bewußtsein und zukünftiger Wirklichkeit zu vermitteln. Damit ist zugleich gesagt, daß aufgeklärte Utopie kein statisches Modell sein kann, sondern fortschreitend durch die kritische Reflexion auf die Ergebnisse der Prognose modifiziert werden muß. Dadurch daß wir gebunden sind, in die Utopie die Ergebnisse wissenschaftlicher Prognose aufzunehmen, gewinnt die aufgeklärte Utopie im Gegensatz zu den bisher als Utopie bezeichneten Gebilden eine kritische Funktion für unser eigenes Bewußtsein. Sie zwingt uns, nicht nur unsere Erkenntnisse, sondern auch unsere Hoffnungen und Wünsche, unsere Ideologien und unsere Träume am Maßstab kritisch antizipierter Realität zu prüfen.«82

 

81  A. M. Klaus Müller, <Die präparierte Zeit; Der Mensch in der Krise seiner eigenen Zielsetzungen>. Stuttgart 1972, S. 90  #       A.Toynbee bei detopia 

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Ernüchterung ist eingetreten, gerade bei denen, die angesichts des Amoklaufs eines verengten Rationalismus sich nicht von dem Projekt der Aufklärung abwenden, der Vernunft nicht den Laufpaß geben.

»Kriterium der Aufklärung«, schreibt Horst Wernicke in seinem Camus-Buch, »ist nicht die reine Rationalität, die auch dem Wahnsinn und jeder totalitären Unterdrückung und Maßlosigkeit dienen kann, sondern die in der Freiheit bewahrte ständige Verantwortung für die Erhaltung der Freiheit und für ein menschenwürdiges Leben auf dieser vom Menschen verantworteten Erde.«83

Das Pathos der Entgrenzung, der Grenzüberschreitung, das so lange die Gemüter der Besten faszinierte, erscheint uns heute vielfach wieder als Hybris und idealistischer Überschwang.

Das <Prinzip Verantwortung> (Hans Jonas) stellt sich dem utopischen Drang ins Grenzenlose entgegen.

Wir haben nur eine Welt, und wir sind dabei, sie zu zerstören.

Wunder sind nicht in Sicht, auch nicht die wunderbare Bekehrung des Menschen.

Aber die Zukunft bauen mit dem alten Adam, wie soll das gehen?

Kann das <Experiment Glück> unter solchen Bedingungen noch gelingen?

 

82  Georg Picht, Prognose, Utopie, Planung. 2. Aufl., Stuttgart 1968, S. 39
83  Horst Wernicke, Albert Camus, a.a.O. S. 215
G.Picht     H.Jonas     A.Camus     G.Taylor

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»Einige Menschen hoffen auf eine wunderbare neue und bisher unerhörte Lösung. Aber es sind keine Wunder zu erwarten. Wir müssen mit den Fakten auskommen, die lauten: die primitiven, uralten Bedürfnisse des Menschen und seine neuen technologischen Fähigkeiten. Der Wandel, den wir vornehmen müssen, der einzige Wandel, den irgend jemand vornehmen kann, besteht darin, die Prioritäten neu zu ordnen und das Gewicht zu verlagern, das wir den verschiedenen Werten beimessen.«84-Taylor

Seit dies geschrieben wurde — es ist mittlerweile mehr als zwanzig Jahre her —, hat in der Tat ein solcher Wandel begonnen. Ronald Inglehart hat in seinem neuen Buch von einer erheblich erweiterten Datenbasis aus überzeugend nachgewiesen, daß die von ihm bereits Anfang der 70er Jahre diagnostizierte Verschiebung von den »materialistischen« zu den »postmaterialistischen« Werten in allen hochentwickelten Industriestaaten kontinuierlich weiter stattfindet.85

Auch dies ein Befund, der realistische Hoffnung begründen mag. Wie weit diese Hoffnung trägt, ist freilich schwer zu sagen.

Denn auch die »postmaterialistische« Gesinnung läßt sich, wie wir täglich sehen können, auf bequeme Weise konsumistisch ausleben; der neue Lifestyle-Konsum ist in gewisser Weise der Materialismus der Postmaterialisten. Auch der Wertwandel bietet keine Garantie dafür, daß alles noch gut wird, daß wir die Zerstörung durch einen grundlegenden Wandel unserer Lebensweise noch rechtzeitig aufhalten werden. Kein Trend nimmt uns die Verantwortung ab.

Zwar ist ganz offensichtlich die Bereitschaft gewachsen, das eigene Verhalten zu ändern, aber gleichzeitig hat sich die Zahl der fliegenden Händler vermehrt, die ihre Surrogate anbieten, und je drängender die Frage des Überlebens wird, um so größer wird auch die Versuchung, sich in Illusionswelten abzusetzen oder in heroischem Hedonismus die letzte Chance mutwillig auf den Kopf zu hauen: Nach uns die Sintflut.

Wer in dieser Lage nur Argumente und moralische Appelle zur Verfügung hat, wer nur auf die Angst vor der Katastrophe setzt, statt zu zeigen, daß wir eine Welt zu gewinnen haben, der bietet womöglich allzu karge Kost.

Aufklärung und Emanzipation können im Gemütsnebel der postmodernen Zerstreuungs­industrie nur dann massenwirksam Orientierung bieten, wenn sie sich versinnlichen, wenn sie den Verstand ansprechen und das Gefühl, wenn sie das analytisch Begriffene auch in Bildern, Symbolen, Metaphern auszudrücken wissen, wenn der Fortschritt wieder eine Sprache spricht, die nicht nur den Verstand zu beeindrucken, sondern auch das Herz zu rühren vermag.

Darum geht es nicht ohne Visionen einer lebenswerten Zukunft.

Anträumen gegen die abschüssige Tendenz der Zeit, das ist auch heute eine Notwendigkeit. Sodann müssen wir den immer auch weltflüchtigen Traum zurückzwingen in die Konfrontation mit der Realität. Von uns wird das Kunststück verlangt, zugleich sehr nüchtern und sehr phantasievoll zu sein, uns zu disziplinieren und zugleich spielerisch Neuland zu erkunden, die Angst zuzulassen und dennoch die Hoffnung nicht aufzugeben, unsere Grenzen zu erkennen und eben deswegen das bisher Unmögliche möglich zu machen.

Kann dieses Kunststück gelingen?

Die Faktengläubigen, die Neunmalklugen, die frühvergreisten Kinder ihrer Zeit, die sich für Realisten halten, weil ihnen alles, was nicht vermessen und gezählt wurde, was nicht in ihre simple Entweder-oder-Logik paßt, für bare Unmöglichkeit gilt, sie werden uns sagen: Laßt die Träume fahren! Paßt euch an an den Lauf der Welt! Vergeudet nicht eure Kraft an eure eigenen Chimären! Werdet endlich aus Schaden klug!

Was sollen wir ihnen entgegnen?

Vielleicht, daß die Realität nur eine Seite der Wirklichkeit ist. Aber das wird sie nicht überzeugen. Also werden wir Fakten setzen, eine andere, den katastrophalen Trends entgegengesetzte Praxis entfalten müssen, das für unmöglich Erklärte hier und dort und mehr und mehr wirklich werden lassen.

Damit schon da und sichtbar ist, was noch kommen soll, damit in der Gegenwart wieder Zukunft aufscheint und die Faktengläubigen zu der Einsicht zwingt, daß immer mehr möglich als wirklich ist.

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84   Gordon Rattray Taylor, <Das Experiment Glück. Entwürfe zu einer Neuordnung der Gesellschaft.> Frankfurt 1973, S. 387
85   Ronald Inglehart, Kultureller Umbruch. Wertwandel in der westlichen Welt. Frankfurt 1989  

 

E n d e

 

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