Kapitel 2
Gegenwartsdeutung in Israel.
Prophetie und prophetische Theologie
33-58
„Wenn ich recht sehe, gewinnt das Alte Testament eine besondere Bedeutung", notierte Romano Guardini, als er kurz nach dem zweiten Weltkrieg die religiösen Zeichen der Zeit in der vom ihm diagnostizierten „Auflösung des neuzeitlichen Weltbildes" sichtete.(1) Dass er damit recht sah, scheint sich erst Jahrzehnte später wirklich durchzusetzen in der heute verbreiteteren Erkenntnis, dass auch eine christliche Selbstvergewisserung nach der christlich dominierten Ära des Abendlandes zurückgehen muss zum größeren älteren Teil unseres Kanons, der ja die ganze Heilige Schrift Jesu und seiner Anhänger und so auch die theologische Norm bildete, vor der sich die Autoren der neutestamentlichen Schriften verantworten wollten. „Nicht mit dem historischen Jesus, sondern mit dem Alten Testament setzt eine biblisch beratene, sachgemäße Christologie ein"(2) - und ebenso eine Rekonstruktion apokalyptischer Vernunft.
Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft im Erzählen
Ich beginne diesen Rückzug zu den Anfängen des Offenbarungszeugnisses mit einer nur scheinbar formalen Feststellung: Es bestimmt apokalyptische Vernunft von diesem ihrem Ursprung her, dass ihr Offenbarungszeugnis schriftlich fixiert wird und die Arbeit an seiner Durchdringung sich in einem lange hinziehenden Redaktionsprozess der Zusammenstellung, Erweiterung und anreichernden Kommentierung von Texten vollzieht.
Damit soll nicht dem Schlagwort von der „Buchreligion" zugesprochen sein: Heilige Bücher haben viele Religionen auch ohne apokalyptische Vernunft. Aber die Mythen und Weisheiten etwa der Veden und Upanishaden entstehen nicht durch eine in die Textgeschichte eingehende Korrespondenz geschichtlicher Ereignisse und deren „Verarbeitung" durch „Überarbeitung", durch Aktualisierung und fortschreitende Interpretation der alten Zeugnisse der Offenbarung. Genau so wächst jedoch die Bibel: In der Erinnerung an Vergangenheit spiegelt sich jeweils die Gegenwart der Sich-Erinnernden - und spätere Generationen überarbeiten diese Erinnerung wiederum von den Fragen und Einsichten ihrer neuen Gegenwart her. Deshalb sind die biblischen Zeugnisse nicht „historisch": Sie führen nicht eindimensional zu bestimmbarem Gewesenen, sondern stets mehrschichtig in die Zeit jener, die ihre Geschichte sich immer neu vergegenwärti-
1 Guardini, Ende der Neuzeit 116.
2 Kraus, Theologie 347.