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5.2 - Die neuen Deuteronomisten

Taxacher-2012

 

 

186-190

Die Deuteronomistik ist gewissermaßen das realistische Rückgrat der biblischen Vernunft. Sie wurde begründet durch die Redakteure der Geschichts- und Prophetenbücher Israels nach der Eroberung der jüdischen Staaten erst durch die Assyrer und dann durch die Babylonier. Sie ist geschichtstheologisch fundiert, aber praktisch ausgerichtet.

Im alten Israel reagierten die Deuteronomisten auf den Zusammenbruch der staatlichen Existenz mit radikaler Geschichtskritik, die doch zugleich eine neue Sicherung und Wahrung des Erbes darstellte. Im Grunde sind die Deuteronomisten überzeugt, dass in dieser »Stunde Null« Israels der Bund mit dem einen Gott erst seine wahre Gestalt annimmt. Das Tragende des deuteronomistischen Schriftgutes sind deshalb auch nicht die Geschichts­bücher und nicht einmal die Bearbeitung der Prophetensprüche, aus denen sie ihre Geschichtsdeutung gewonnen haben, sondern ihre Neuredaktion der Thora, der »Bücher Mose«, der Weisung also. Daher haben sie ja überhaupt ihren Kunstnamen als »Zweit-Gesetzler« erhalten. Alle späteren Bearbeitungen (die der »Priesterschrift«, die der Chronik-Bücher) bauen auf dieser Erneuerung des israelischen Erbes auf.

Die deuteronomistische Linie der biblischen Vernunft ist also ethisch und gemeinschaftlich ausgerichtet. Sie reagiert auf das Gericht, indem sie kritisiert und aufgibt, was in ihm nicht mehr zu halten ist - und das ist viel: Königtum, frühere Kult- und Tempelideologie, aber auch der traditionelle Synkretismus zwischen Israels Gotteserkenntnis und dem altorientalischen Mainstream. Deuteronomistik bedeutet eine radikale Selbst-Aufklärung, aus der heraus eine unvermutete Dynamik des Ubrig-Gebliebenen entsteht: eine Handlungsperspektive für das Gemeinwesen, die zugleich religiös und sozialkritisch ist.

In neutestamentlicher Wendung bedeutet dies, die Jesus-Anhänger - die ihre Welt im Tod des Messias schon gerichtet sehen - auf das »Gesetz Christi« auszurichten, wie Paulus es sagt. Bei ihm wie auch in der Apostelgeschichte, in der Bergpredigt und in den späteren, nach-apostolischen Briefen (Johannes, Petrus, Jakobus) wird eine am Liebesgebot in seiner ganzen Strenge und Flexibilität ausgerichtete Gemeinde erzogen, die Jesu Reich-Gottes-Botschaft in eine gegengesellschaftliche Praxis übersetzt. In dieser Gemeinde sind die Grundgegensätze ihrer Zeit - jüdisch oder heidnisch, frei oder versklavt, männlich oder weiblich (Galaterbrief 3,28) - schon von innen her aufgehoben.

Diese revolutionäre Praxis muss aber konkret lebbar sein. Sie ist deshalb nicht von der biblischen Weisung, der Thora einfach losgekoppelt, auch wenn sie deren innerjüdische Auslegung sprengt. »Die christliche Herausforderung besteht genau darin, das Gesetz nicht-halachisch ernst zu nehmen« - und Barbara Meyer sieht das Prinzip dieser christlichen Deuteronomistik im »Gesetz der Heiligkeit des Anderen.... Der Nomos des Denkens vom Anderen her ist ein Streben danach, dem Anderen und so auch sich selbst gerecht zu werden.«(26)

Auch angesichts der säkularen Apokalypse ist eine deuteronomistische Haltung das Rückgrat christlicher Reaktion auf die neue Situation. In der »Dritten Welt«, auf der Seite der Opfer unserer globalen Katastrophe, formiert sich diese Reaktion in unterschiedlichen Ausprägungen der Befreiungstheologie bzw. in der praktischen Ausrichtung der Gemeinden und sozialen Bewegungen an ihr. Der Widerspruch des Willens Gottes zu den gesellschaftlichen Verhältnissen wird zum Motor einer religiösen und politischen Praxis. In den Industriestaaten äußert sich die pragmatische Akzeptanz der Gerichtsperspektive in der Übernahme von Verantwortung. Obwohl das öffentliche Interesse eher Greenpeace und Attac gehört, gibt es wohl kaum anderswo so viel Praxis auch an der Basis, so viel Normalität veränderndes Engagement wie in den vielfältigen kirchlichen Initiativen zu Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung.

Diese moderne Deuteronomistik hat - darin vom biblizistischen Fundamentalismus geschieden - ihre Koalitionsfähigkeit mit allen Kräften erkannt, die auch außerhalb der Kirchen der säkularen Apokalypse mit säkularen Mitteln gegensteuern wollen. In Befreiungstheologie und »Eine-Welt«-Bewegung wird ein Traditionsstrang modernisiert, der die Wirkungsgeschichte der Bibel gerade in der Neuzeit prägt: die Zusammengehörigkeit von Exodus-Politik und Sinai-Bund,(27) also des revolutionären Aufbruchs, des Protestes und seiner Überführung in eine konkret lebbare alternative Praxis.

In den letzten Jahren hat Thomas Ruster eine in meinen Augen konsequent deuteronomistische Theologie gegen die katastrophalen Systemzwänge des Kapitalismus entwickelt. Rüster geht ganz bewusst nicht von einer politisch-ökonomischen Theorie aus, sondern von der konkreten Erkenntnis des Willens Gottes, der Gebote für die Gegenwart also. Er liest die »Bibel wie ein Computerprogramm«(28), das stets mit dem Code Gott gemäß/Gott nicht gemäß geschrieben ist.

Diese Lesart bedarf natürlich einer auf die moderne Situation bezogenen Auslegung: »Sich auf Gott und seine Gebote einzulassen in einer Welt, die von den Göttern, von Mächten und Gewalten beherrscht ist« erzwingt eine Gegenpraxis der Glaubenden gegen die Zwänge von Wachstumswirtschaft und Ausbeutung. Das geht nicht individuell, in der Vereinzelung, sondern durch die Praxis von Gemeinden. Rüster setzt darauf, »thoracodierte Systeme zu etablieren, die von anderen Systemen als Störung wahrgenommen werden. Und fortgesetzte Störungen können zu Umstrukturierungen bei den irritierten Systemen führen.«(29)

Deshalb sollen die Gemeinden ihre Gottesdienste als Befreiungsfeiern verstehen, in denen antizipiert wird, »dass alle persönlichen, zwischenmenschlichen, bürokratischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen Zwangs­vorstellungen, die die Welt und das Leben in ihrem Bann halten, längst überwunden sind und wir also ihnen gegenüber handlungsfähig bleiben«. Diese Handlungsfähigkeit soll sich dann konkret darin erweisen, dass die Kirchen ihre eigene Praxis anhand des Grundsatzes kritisch hinterfragen: »Wo dienen wir, indem wir tun, was wir tun, der Stabilisierung destruktiver Systeme?«(30)

In Beantwortung dieser Frage müssten die Kirchen sich laut Ruster in ihrem Wirtschaftsgebaren von den kapitalistischen Strukturen der Zinswirtschaft loskoppeln und in ihrem Binnenraum wieder das biblische Zinsverbot praktizieren; sie müssten die biblischen Sozialgesetze zu Sabbat und Sabbatjahr, also auch zum Schuldenerlass und zum Verbot dauerhaften Grundbesitzes, aber auch etwa die Problematisierung des Fleischgenusses neu für sich auslegen.(31)

Es geht Ruster also tatsächlich um eine im paulinischen Sinn die Weisheit der Welt durch scheinbare Torheit aus den Angeln hebende christliche Praxis, um eine »Radikalkur«(32), um eine »Absonderung ohne Isolation und Abweichung ohne Fundamentalismus« - um eine prophetische Praxis also, die »auf die produktive, die irritierende Kraft der Differenz« setzt.(33)

Eine Kirche, die sich auch nur auf den Weg zu einer solchen unterscheidenden Praxis aus biblischen Geboten und Verheißungen machen würde, fände ein vollmächtiges Wort zur Situation wohl geradezu »automatisch« wieder. Aber sie ist weit davon entfernt. Und deshalb macht die praktische Stärke der deuteronomistischen Haltung zugleich ihre Gefährdung aus. Sie ist eine Praxis der Hoffnung, die angesichts der sich das Gericht zuziehenden, himmelschreienden Sünden an die größere Zusage Gottes appelliert. »Der Gott der Geschichte hat deren Gang fest in der Hand«, dokumentiert diese Praxis: »Er kommt, auch durch Unheil hindurch, an sein Ziel.... Das Unheil... trifft zwar voll zu und bleibt doch, gemessen an der ganzen Geschichte, relativ.«(34)

Darauf muss diese Haltung setzen, um ihren Schwung zu bewahren. Andererseits ist sie in der gegenwärtigen apokalyptischen Situation von einem Meer von Hoffnungslosigkeit umgeben. Gerade die Aktion, deren Wesen es ist, konkret und sachbezogen zu sein, weiß sehr genau um ihre Vergeblichkeit. Deshalb leben moderne Deuteronomisten in dem Bewusstsein, den berüchtigten Tropfen auf den heißen Stein zu gießen, und sie erleben in ihrem Engagement ein ständiges Wechselbad zwischen kleinen Erfolgen und großen Niederlagen, zwischen der angestrengten Euphorie des Handelns und der um sie herum und auch in ihnen selbst lauernden Melancholie der Vergeblichkeit.

Deuteronomistische Praxis muss heute eine ungeheure Spannung aushalten, damit ihre Hoffnung nicht in zwanghaftem Optimismus blind wird und ihre Verzweiflung sie nicht lähmt. Den schmalen Grad zu halten dürfte aber gerade in einer aus biblischer Vernunft inspirierten Praxis am ehesten gelingen. Diese Inspiration ermöglichte immer schon, alles von sich aus zu tun und alles von Gott zu erwarten. Deuteronomistische Ethik ist stets symbolische Ethik: als eine Praxis, die, ebenso wie die Gebote vom Sinai, nicht selbst das Reich Gottes herbeiführt, sondern es nur anzeigt. Sie ist wie die Praxis Jesu etwas so sehr Richtiges und Befreiendes, dass sie sogar in der Niederlage ihre Evidenz behält.

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