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5.5 - Hoffnung für Frau Lot

Taxacher-2012 (Schluss)

 

203-206

  Unter den so genannten kleinen Propheten der Bibel findet sich ein besonders kleiner: Jona - nur drei kurze Kapitel samt einem Psalm. Die historische Forschung hat Jona noch kleiner gemacht, weil sie ihn als keinen echten, sondern als einen erfundenen Propheten ansieht, die Figur einer Lehrgeschichte, die Karikatur eines Propheten. Geschrieben hat die Erzählung ein offensichtlich weisheitlich orientierter Theologe, der seinen prophetischen und apokalyptischen Kollegen einen kritischen und humorvollen Spiegel vorhalten wollte.

In dieser Geschichte erhält Jona den Befehl Gottes, der bösen Stadt Ninive das Gericht, also den Untergang anzusagen. Jona möchte aber nicht, weshalb er statt in die legendäre Hauptstadt des brutalen assyrischen Imperiums per Schiff Richtung Spanien flieht. Dann folgt die Episode mit dem Schiffbruch und dem Wal, die Jona bis heute berühmt gemacht hat. Viel weniger bekannt ist die Fortsetzung: Glücklich an Land gespuckt, wiederholt Gott seinen Auftrag. Nun bleibt Jona nichts anderes übrig, als nach Ninive zu marschieren.

Die Stadt ist ein Symbol der schrecklichen und verruchten Großreiche, ähnlich wie es Babylon ist von der bekannten Turmbaugeschichte über Babel als Geheimname für Rom in der Johannesapokalypse bis hin zum Codewort für die westliche Welt bei den Rastafari. Deshalb ist Ninive natürlich riesig, in drei Tagereisen zu durchqueren. Aber Jona geht nur eine Tagereise hinein und verkündet den Untergang nur an der Peripherie. Mehr wäre ihm wohl zu lästig oder gefährlich gewesen.

Aber das Unerwartete geschieht: Die Menschen von Ninive glauben dem Propheten. Sie rufen zu Buße und Umkehr auf. Gott sieht den Willen zur Bekehrung und lässt das Gericht sein. Jona hat sich unterdessen außerhalb der Stadt niedergelassen, um sich anzuschauen, was geschieht. Als aber nichts geschieht, ist er wütend. Er habe es ja eh gewusst, dass diese Mission umsonst ist, wirft er Gott vor.

Ein Apokalyptiker, dessen Apokalypse ausbleibt, fühlt sich von Gott vorgeführt. Aber Gott belehrt den Propheten, dass dessen Perspektive offensichtlich nicht die des Schöpfers ist. Während sich der Prophet erst gar nicht mit der Gerichtsbotschaft abgeben wollte, sah er sie nachher als seine eigene Sache an. Die Stadt Ninive war ihm vorher wie nachher im Grunde gleichgültig. Gott dagegen liebt diese Stadt und ihr Untergang wäre, wenn unvermeidlich, sein größter Schmerz. Deshalb wird er jeden Ausweg nutzen, der seiner Barmherzigkeit bleibt.

»Denn sollte es mir nicht leid sein um Ninive, die große Stadt, in der mehr als hundertzwanzigtausend Menschen leben, die nicht mal rechts von links unterscheiden können - und außerdem so viel Vieh?« Mit diesem wundervollen Fragesatz endet das Buch Jona. Gott kennt und versteht die Ohnmacht, die Beschränktheit der Menschen, und wenn nicht um ihretwillen, dann wird er Barmherzigkeit üben wenigstens der unschuldigen Tierwelt wegen.

Die humorvolle Theologiekritik des Buches Jona wird sich jede apokalyptische Theologie vorhalten müssen, auch die dieses Buches: Ein Standpunkt gegenüber der Stadt, im grimmigen Warten auf das endlich herbei­kommende Gericht ist sicher nicht der richtige. Um die Rechthaberei der Unheilspropheten darf es auch in der Diskussion um die apokalyptische Situation der Gegenwart nicht gehen - sondern um die Perspektive Gottes, die - so eingehend unsere Analyse auch sein mag - immer noch näher bei den Menschen und ihrem Vieh ist als wir selbst.

Aber was, wenn die Welt - anders als Ninive -, nicht zur Umkehr bereit ist?     wikipedia Ninive    wikipedia Sodom_und_Gomorra

In einer anderen berühmten Geschichte der Bibel wird das Gericht über zwei Städte tatsächlich vollstreckt. Die himmelschreienden Sünden von Sodom und Gomorra sind zu Gott gedrungen und jetzt will er sich selbst ein Bild der Lage machen. Drei Männer - schillernde Gestalten: Engel und doch auch das Inkognito Gottes selbst in der Welt - besuchen zunächst Abraham, den Stammvater Israels, das biblische Urbild des Glaubenden. Sie weihen ihn in die Gerichtsandrohung ein. Da versucht Abraham, Gott noch umzustimmen, und bringt das Argument von der Ungerechtigkeit jeder Apokalypse: »Willst du auch den Gerechten mit dem Ruchlosen wegraffen?« (Genesis 18,23). Nach längerem Hin und Her lässt sich Gott auf eine äußerst langmütige Bedingung ein: Wenn er in den Städten auch nur zehn Gerechte findet, will er sie verschonen.

In Sodom wohnen Verwandte Abrahams, die Familie Lots. Die nehmen die drei Männer sofort gastfreundlich auf, als sie die Stadt erreichen. Aber die Städter fordern ihre Herausgabe zwecks sexuellen Missbrauchs. Lot und die Seinen sind die einzigen Gerechten, die Gott hier findet, und es sind keine zehn. Aber Gott lässt ihnen Zeit zur Flucht: Im Morgengrauen verlassen sie die Stadt.

Die Fluchtgeschichte (Genesis 19) ist voller Dramatik: Die Schwiegersöhne Lots meinen zunächst, er mache mit seiner apokalyptischen Botschaft nur Spaß. Die Männer Gottes müssen sie an der Hand fassen und wegführen; denn Gott hat Mitleid mit ihnen, wie es heißt. Sie sollen sich beeilen, ins Gebirge fliehen. Aber Lot handelt noch: Er möchte nicht in so eine unwirtliche Gegend, lieber in eine kleine Nachbarstadt, und auch das wird ihm gewährt. Aber schnell müssen sie machen und sich auf keinen Fall nochmals umschauen.

Diese Fluchtgeschichte ist das Symbolbild einer Glaubensgemeinschaft, die sich von der Welt in ihrer apokalyptischen Situation distanziert. Es kommt darauf an, den Ernst der Lage zu erkennen und sich von dem Treiben der Welt loszureißen. Aber das bringt die Flüchtenden in eine unwirtliche Lage, in einen rauen alternativen Lebensstil, dem Hausen im Gebirge gleich.

Also mag es auch eine weniger radikale Lösung tun: eine kleine Stadt, anders leben als Sodom und Gomorra, aber eben doch noch einigermaßen zivilisiert. Die Stadt erhält deshalb den Namen »Zoar, die Kleine« (Genesis 19,22). Ich meine, man kann diese Kleine als Bild der zögerlichen Kontrastgesellschaft der Glaubenden verstehen, als Name für die Gemeinde.

Aber dann gibt es noch einen unversöhnlichen Schluss: Lots Frau missachtet den Befehl, sich nicht mehr nach der Stadt umzudrehen, als Feuer und Schwefel auf sie regnen. »Als Lots Frau zurückblickte, wurde sie zur Salzsäule« (Genesis 19,26). Warum wohl blickte sie sich um? Ich glaube nicht, dass es Voyeurismus war. Frau Lot schaut nicht auf die Stadt wie Jona, der zugucken möchte, wie das Gericht seinen Lauf nimmt. Es ist ihre Stadt. Sie kann ihren Blick nicht losreißen von deren Schicksal. Aber deshalb schlägt sie dieses Schicksal in seinen Bann und lässt sie nicht mehr entkommen.

Der Befehl, nicht mehr zurückzublicken, passt ebenfalls zu der Perspektive einer kleinen, die Welt fliehenden Gemeinde. Wer ein richtiges Leben außerhalb des Falschen führen möchte, der muss die systemimmanenten und emotionalen Bindungen kappen. Jesu Nachfolgeforderung, wo man die eigene Familie im Stich und die Toten ihre Toten begraben lässt (Lukas 9,51-62), klingt ganz ähnlich.

Aber welche Gemeinde ist so? Die Anhänger des biblischen Glaubens, Juden wie Christen, sind jedenfalls nur in Ausnahmeerscheinungen so. Ansonsten haben sie stets eine kleine Nachbarstadt dem Gebirge vorgezogen. Mehr noch: Aufs Ganze gesehen sind die Christen über Jahrhunderte Bürger Sodoms geworden und geblieben. Deshalb können sie sich jetzt, wo Feuer und Schwefel drohen, nicht einfach distanzieren. Sie können der Welt nicht den Rücken zudrehen und wegschauen.

Es kommt im Gegenteil darauf an, dass die Glaubenden hinschauen und dabei doch nicht erstarren. Es kommt darauf an, dass sie - deuteronomistisch, apokalyptisch und weisheitlich - den Aufstand gegen die Verhältnisse proben, die sie selbst mit geschaffen haben.

Es kommt also alles darauf an, dass es bei Gott Hoffnung gibt - auch für Frau Lot.

206

Ende

 

 

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