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2. Kapitel -  Neuzeit: Dialektik der Moderne

„Die für die Neuzeit charakteristische Verbindung von Größe und Gefahr …
in den Griff zu bekommen,  ist eine Leistung, die wir meines Erachtens
noch zu erbringen haben.“  (Charles Taylor,15)

2.1. Gebrochene Zeit

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  Ob die Epoche, in der wir leben, noch die Neuzeit sei, ist längst unklar. Vielfach wurde schon das "Ende der Neuzeit" angesagt. Für die Gegenwart haben wir keinen klaren Epochennamen, weil der Abstand - die Voraussetzung des Einordnens - fehlt. Auch die Bezeichnung "modern" ist aus der Mode gekommen.(16) Darin ebenso wie in den eigentlich leeren Kennzeichnungen wie Postmoderne, Postkapitalismus, postutopische oder posttotalitäre Zeit oder gar „posthistoire“ äußert sich ein Empfinden des Danach; das "Gefühl eines Abschieds ist verbreitet.“(17)

Warum empfinden wir uns nach der Neuzeit, geradezu "am Ende“? Ich habe eine Antwort darauf in geschichtstheologischer Absicht an anderer Stelle ausführlicher versucht und will diese Versuche hier nur in zwei knappen Thesen aufgreifen.

  Anthropozän 

Wir leben in einer von Europa aus globalisierten industriell-kapitalistischen Zivilisation, unter deren Einfluss die Menschheit tatsächlich erstmals eine geworden ist – was sich in Ausdrücken wie "Weltgemeinschaft" und politischen Institutionen wie der UNO einerseits, in den "multinationalen Konzernen" und den in Echtzeit miteinander verschalteten Börsen aller Erdteile andererseits greifen lässt.

Gleichzeitig ist diese Menschheit zutiefst gespalten, religiös und ideologisch, aber grundlegender noch sozial, in arm und reich, machtvoll und ohnmächtig. Und schließlich ist diese eine und gespaltene Menschheit in einer Weise für sich selbst verantwortlich, die es vor dem 20. Jahrhundert nicht gab: Die globale Zivilisation besitzt genug Sprengmittel, um sich selbst zu zerstören, und sie ist durch ihre Produktionsweise ständig dabei, ihre eigenen Lebensgrundlagen zu verbrauchen. Zahlreiche Wissenschaftler halten diese Möglichkeit des selbstproduzierten Zusammenbruchs dieser Zivilisation sogar für eine noch in diesem Jahrhundert eintreffende Wahr­schein­lichkeit.

Die Epoche, in der wir leben, ist jenseits der partikularen Kennzeichnungen als Neuzeit oder Moderne deshalb schon als ein neues geologisches Weltzeitalter bezeichnet worden: als Anthropozän. Dies ist das Zeitalter der Erde, in dem die Spezies Mensch die Lebensbedingungen aller anderen Spezies – vom Klima bis zur Chemie der Meere und der Böden – diktiert, und damit natürlich auch die eigenen. Zugleich bedeutet das Anthropozän ein Angekommensein in einer nicht endenden Endzeit, in einer tatsächlich apokalyptischen Situation: Wenn die Menschheit in der Lage ist, ihre eigenen Lebensgrundlagen zu zerstören, dann lebt sie stets als die Zivilisation, die sich vor dieser ihrer eigenen Möglichkeit rettet. Sie lebt im Angesicht ihres Endes, es stets hinausschiebend. Sie kann diese Möglichkeit nicht mehr rückgängig machen. So könnte man diese Gegenwart, den theologischen Begriff vom Ende der Zeiten aufgreifend, auch "Eschatolithikum"(18) nennen.   goog  Eschatolithikum

Wahrscheinlich ist diese letzte Kennzeichnung die Voraussetzung für die zuvor genannten: Erst die Menschheit, die auf dem Spiel steht, kann sich wirklich als eine begreifen. Bis an diesen Punkt zu gelangen, scheint dem Projekt der Neuzeit geradezu eingeschrieben zu sein. Das Epochenbewusstsein, des Menschen eigene Geschichte zu machen, vollendet sich in dem Wissen, der eigenen Geschichte ein Ende machen zu können. Geschichte ist seither das Projekt der Vermeidung dieser Möglichkeit.

Dies also ist die Kennzeichnung des Ausgangspunkts der Frage, wie wir geworden sind, wie wir sind.

Damit klingt diese Frage ein wenig nach: „Wie konnte es so weit kommen?“ Was hat uns bis in diese Situation getrieben?

Das ist tatsächlich unsere, die spezifische Frage der Selbstreflexion in den westlichen Industriestaaten. Denn so global die Situation des Anthropozän notwendig ist, so partikular sind ihre Ursprünge, ist doch "die Möglichkeit, dass alles Leben auf der Erde von Menschen vernichtet wird, eine Konsequenz der europäischen und nur der europäischen Geschichte (Europas wichtigsten Ableger, die USA, eingerechnet).“(19)

Warum wurde diese Situation offensichtlich von Europa aus, vom Boden des christlichen Abendlandes aus hervorgebracht? Und bieten die Kräfte, die diese Situation hervorbrachten, auch die Ressourcen, um sie zu bestehen?

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   Zivilisationsbruch  

Für den konkreten Ausgangspunkt der Geschichtsreflexion eines Christen aus Deutschland gehört zu dieser Charakteristik der Gegenwart noch ein zweites, weitaus partikularer wirkendes Kennzeichen: Wir leben in der Zeit „nach Auschwitz“. Das Jahrhundert, welches die Menschheit im Anthropozän ankommen ließ, war zugleich das Jahrhundert, in dessen Mitte sich die versuchte Total-Ausrottung der Juden ereignete. Während die industrielle Zivilisation die Möglichkeit ihrer eigenen Apokalypse produzierte, organisierten Politiker aus Deutschland durch einen industriellen Völkermord einen ebenfalls nicht mehr hintergehbaren Zivilisationsbruch. Was hier zu Bruch ging, war in einer Tat, die Kants Begriff des „radikal Bösen“ mehr als erfüllt, der Anspruch der Neuzeit, das Zeitalter der Humanität zu sein.

Hitlers Angriff richtete sich bewusst und frontal gegen diese „Idee der Humanität als solcher.“(20) An sie zu glauben als Ziel und Trend der Moderne war jäh widerlegt. „Der Gedanke, dass nach diesem Krieg das Leben ‚normal‘ weitergehen oder gar die Kultur ‚wiederaufgebaut‘ werden könnte … ist idiotisch“, schrieb Adorno gleich nach dem Krieg, wohl wissend, dass genau dieser Wiederaufbau gerade begann. „Millionen Juden sind ermordet worden, und das soll ein Zwischenspiel sein und nicht die Katastrophe selbst. Worauf wartet diese Kultur eigentlich noch?“(21)

Die damit behauptete Einzigartigkeit der Schoah besteht nicht in der Quantität der Opfer oder der Größe des Verbrechens. Die Schoah ist weder das größte Menschheitsverbrechen – falls es für so etwas Größenmaßstäbe gibt – noch ist sie unvergleichbar mit anderen Verbrechen, noch geschah sie isoliert von Verbrechen an anderen Gruppen.

Ihre Einzigartigkeit besteht in dem klar gedachten und politisch organisierten Projekt, genau dieses Volk als einer von den Tätern erst als solche definierten „Rasse“ gänzlich zu vernichten – einem Projekt, das ein ideologischer Selbstzweck, gewissermaßen ein kategorischer Imperativ war.

Die Opfer waren zugleich Angehörige des Volkes, das für den biblischen Glauben das Bundesvolk Gottes ist. Ihm galt dieser Totalangriff durch Täter, die Christen waren oder es bis gerade noch waren. Die Juden wurden „vom absolut Bösen als das absolut Böse gebrandmarkt. So sind sie in der Tat das auserwählte Volk.“(22)

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Der Zivilisationsbruch von Auschwitz mag deshalb von China aus gesehen ein relativer sein – für Christen bedeutet er das tatsächliche Ende des „christlichen Abendlandes“, die Katastrophe des eigenen geschichtlichen Selbstbewusstseins als Erbe dieses Bundesvolkes, als Gemeinde des Messias aus Israel, als „neues Israel“. Auschwitz bedeutet für Christen das Ende der Möglichkeit, die Geschichte als Heilsgeschichte zu denken.

Blaise Pascal konnte die Ablösung des Judentums durch das Christentum noch als einen dialektischen Weg solcher Heilsgeschichte begreifen: "Die Juden, die berufen waren, … sind Sklaven der Sünde gewesen; und die Christen, deren Berufung es war, zu dienen und untertan zu sein, sind die freien Kinder.“(23)

Mit Auschwitz wird grell enthüllt, dass diese Dialektik genau umgekehrt lief: Die Juden, von den Christen des Mordes am Gottessohn bezichtigt, wurden seiner Kreuzesgestalt millionenfach gleichgemacht. Die Christen jedoch, nach ihrem Selbstverständnis zur Kreuzesnachfolge berufen, wurden zu Herrschern und Verfolgern. Deshalb muss die Frage, wie wir geworden sind, wie wir sind, für eine christliche Dialektik der Geschichte ebenso wie mit dem Kennzeichen des Anthropozän mit dem des Zeitalters „nach Auschwitz“ beginnen.

Adorno hat auch den gängigsten Einwand gegen die These von der Einzigartigkeit der Schoah schon vorweggenommen, als es eine Diskussion um dieses Thema noch gar nicht gab. Stets werde ihm entgegengehalten, „so sei es schon immer gewesen“, notierte er kurz nach dem Zweiten Weltkrieg.(24) Er gibt dieser Entgegnung zu, dass Grauen die Weltgeschichte begleitet habe, dass sie ein „Schrecken ohne Ende“ sei. Und doch war der industrielle, kalte, totale Völkermord durch Gaskammern etwas Neues und das verkennt, „wer die Todeslager als Betriebsunfall des zivilisatorischen Siegeszuges“ bagatellisiert. Offensichtlich steht dieses Verbrechen eben zur Zivilisation der Moderne in einem inneren, nicht nur negativen Zusammenhang. Adorno spricht von einem "Fortschritt zur Hölle“ – und meint, das altbekannte Grauen der Weltgeschichte müsse umgekehrt von hier-her gedeutet, in seiner düsteren Teleologie begriffen werden, statt umgekehrt das reine "Quantum von Leid“ als Argument für die Vergleichgültigung zu nutzen.(25)

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   Das monströse 20. Jahrhundert und die Neuzeit   

Von diesen beiden Kennzeichen unseres Ausgangspunkts her erscheint die Neuzeit als eine Epoche, die tatsächlich in der Mitte des 20. Jahrhunderts endete: Ihr Epochenbewusstsein zerbrach an Auschwitz und fand sich danach im Anthropozän des möglichen Menschheitsendes wieder.

Das ist so ziemlich das Gegenteil dessen, was seit der Aufklärung von der Zukunft erwartet wurde. Im Jahr der französischen Revolution 1789 schrieb Friedrich Schiller: "Die europäische Staatengesellschaft scheint in eine große Familie verwandelt. Die Hausgenossen können einander anfeinden, aber nicht mehr zerfleischen.“26 Das war die große humane Hoffnung seiner Zeit. Die Folter sollte verschwinden – die es als staatliches Befragungsmittel kurzzeitig tatsächlich nicht mehr gab(27) – schließlich auch der Krieg, überwunden durch bürgerliche Vernunft und Freiheit. Adorno und Horkheimer nannten diese Zeit der großen Hoffnungen das "kurze Zwischenspiel des Liberalismus, in dem die Bürger sich gegenseitig in Schach hielten."(28)

Doch statt seiner Universalisierung bestimmte schon bald mit den totalitären Ideologien organisierte Unvernunft die Weltpolitik, die zu einem permanenten – zeitweise heiß, zeitweise kalt geführten – Weltkrieg wurde. Was tatsächlich unangefochten weiterlief, war der Fortschritt des technisch-industriellen Komplexes. Darin wurde das 20. Jahrhundert zur Vollstreckung aller auf es zulaufenden Planungen. Am Ende dieses monströsen Jahrhunderts, als die Totalitarismen sich weitgehend ausgekämpft zu haben schienen, stand nun wieder der technisch-industrielle Komplex mit sich allein da, seiner Ideale entkleidet – und nun zugleich universale Grundlage und Existenzbedrohung der Zivilisation.

Gibt es zwischen beidem, den Erwartungen und dem Bruch unserer Zivilisation, einen nicht nur zeitlichen Zusammenhang – einen Zusammenhang, der dann allerdings in Frage stellt, was die "Begriffe <Zivilisation> und <Moderne>“ überhaupt bedeuten?(29)

Durch diese Frage wird die Analyse der Neuzeit zu unserem ersten Schritt in eine vergangene Epoche.

Günther Anders hat die Frage nach den Zusammenhang zwischen beiden Zivilisationsbrüchen der Gegenwart gewissermaßen "vordergründig“ schon 1956 gestellt, als er die Entwicklung der Atombombe als Antwort auf den Vernichtungswillen Hitlers bezeichnete, eine Antwort, die sich „am Feind infiziert“ habe.30

Dieser Zusammenhang im Ursprung setzt sich fort in der irgendwie doch analogen Unfähigkeit, Auschwitz   .... 

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