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4 - Ist der Tod notwendig? 

Taylor-1968

1 Ewige Jugend  —  2 Der aufgeschobene Tod  —  3 Der Tiefkühlmensch  —  4  Soziale Konsequenzen  — 
5 Klinischer und biologischer Tod  —  6 Menschliche Symbiose  —  7 Abgetrennte Köpfe  —  8 Unsterblichkeit?

 

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Im Jahre 1940 stürzte ein britischer Lokomotivführer aus dem Führerstand seiner Lok und fiel auf den Boden. Durch den Sturz erlitt er keinerlei äußere Verletzungen, doch wurde, wie er selbst meinte, alles um ihn herum sehr verschwommen.

Der vierzigjährige Mann, zuvor von kräftiger Körperstatur, wurde in kurzer Zeit so schwach, daß er nicht einmal mehr allein essen oder sich selber anziehen konnte. Er verlor sowohl sexuelles Verlangen als auch seine Potenz und fühlte sich wie ein alter Mann. Nach dem Unfall litt er eine Zeitlang unter Weinkrämpfen und schüttelfrostartigen Anfällen. Er war appetitlos und schlief sehr schlecht, wurde leicht reizbar und streitsüchtig. Dann fielen ihm die Haare aus, bis er schließlich, sechs Monate nach seinem Unfall, eine völlige Glatze hatte. Es ist keine Übertreibung, wenn man sagt, daß dieser Mann beinahe über Nacht gealtert war.

Nach Erholung und Krankenhausaufenthalt besserte sich sein Zustand ein wenig: obwohl weiterhin ohne sexuelle Bedürfnisse, kam seine Potenz zurück, und ein spärlicher Haarwuchs stellte sich ein. Dennoch blieb er kraftlos, ängstlich und wehleidig; der einst kräftige und starke Mann war zu einem Wrack geworden.

Diese Geschichte zeigt mit ungewöhnlicher Deutlichkeit, daß der Alterungsprozeß, wenn man ihn als ständiges Abnehmen der körperlichen und geistigen Vitalität und Kraft auffaßt, nicht einfach das Ergebnis des fortschreitenden Alters ist. Man erkennt dies an den üblichen Redewendungen, wenn man zum Beispiel von einem Mann spricht, der »für seine Jahre zu alt erscheint« oder von einer Frau, »die sehr jung ist für ihr Alter«.

Wovon hängt nun das Alter wirklich ab? 

Wenn wir diese Frage genau beantworten könnten, würden wir wahrscheinlich auch einigen Einfluß auf den Prozeß haben. Und wenn der Alterungsprozeß beschleunigt werden kann, liegt die Vermutung nahe, daß er auch verzögert werden kann, vielleicht läßt er sich sogar anhalten oder rückgängig machen.

Diese verlockende Aussicht fesselt in wachsendem Maße die wissenschaftliche Forschung. Meiner Meinung nach gibt es zur Zeit kein anderes Forschungs­gebiet in der Biologie, das unmittelbarere und dramatischere Auswirkungen auf die menschliche Existenz haben könnte.

Die Auffassung vieler Gerontologen (Spezialisten für Alterserscheinungen) ist sehr optimistisch. Dr. Alex Comfort, Direktor des medizinischen Forschungsrates der Gerontologengruppe in England, sagte: »Es besteht wirklich die Möglichkeit eines Durchbruchs, der entweder die menschliche Kraft im hohen Alter oder die menschliche Lebensdauer oder sogar beides beeinflußt. Selbst wenn dies eine Spekulation bleibt, so sollten Öffentlichkeit und Regierung erkennen, daß die Möglichkeit besteht und daß eine große Anzahl von Wissenschaftlern damit beschäftigt ist, dies zu verwirklichen.« Und er fügte warnend hinzu: »Wie in der Vergangenheit durch die Bombe, so laufen wir jetzt Gefahr, von vielen anderen lebensverändernden Entwicklungen überrascht zu werden, die zwar weniger aufregend, aber ebenso grundlegend sind. Die Biologie von morgen wird sie uns bringen.«

Prof. A. L. D'Abreu, Spezialist für Herzchirurgie und Direktor der chirurgischen Abteilung der Universität Birmingham, ist ebenfalls optimistisch. In einer 1966 an der Königlichen Hochschule für Chirurgen gehaltenen Vorlesung sagte er seinen Hörern, daß einige unter ihnen wahrscheinlich bis zu 180 Jahre alt würden als Folge der gegenwärtigen Umwälzung in Naturwissenschaft und Medizin.

Die Anzahl der mit diesem Problem beschäftigten Wissenschaftler ist groß, sehr viel größer als vor dreißig Jahren. Man hat errechnet, daß allein über tausend wissenschaftliche Teams in den Vereinigten Staaten an derartigen Projekten arbeiten. Dennoch habe ich den Eindruck, daß Dr. Comfort zu optimistisch sein könnte, wenn er erklärt: »Wir werden in höchstens 20 Jahren in der Lage sein, die Natur des vorherrschenden Alterungsprozesses im Menschen zu verstehen.« Wie ich die momentane Situation in der Forschung beurteile, so ist das Schiff sozusagen klar zum Gefecht, die Problematik ist sehr viel eindeutiger umrissen als früher, obwohl im Grunde noch nichts zur Lösung getan wurde. In solchen Momenten pflegt Optimismus zu herrschen, aber oft sind die physiologischen Probleme sehr viel komplizierter, als man erwartet.

Die Prophezeiung Dr. Comforts, als Beispiel oben angeführt, veranschaulicht, daß die Schwierigkeit eine doppelte sein könnte. Einerseits hoffen wir, die ganze Lebensspanne auszudehnen, so daß wir anstelle der durchschnittlichen Lebenserwartung von 70 Jahren alle wie Methusalem Hunderte von Jahren leben werden, vorausgesetzt, wir bleiben von Unfall und Krankheit verschont. Andererseits — und dies ist im Augenblick vielleicht die wahrscheinlichere Aussicht — könnten wir herausfinden, wie man den Verfall der Vitalität und Elastizität bekämpft, der in den zwanziger Jahren beginnt, in mancher Hinsicht sogar schon mit der Geburt. 


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Auf diese Weise bliebe man »jung« bis ins hohe Alter, ohne daß man dabei die durchschnittliche Lebenserwartung ausdehnen müßte. Aber ob dies wirklich zwei Probleme sind oder einfach Variationen eines Problems, ist noch ungewiß. Um genauere Vorstellungen über die Beherrschung des Alters zu gewinnen, werden wir uns ein wenig näher mit dem eigentlichen Alterungsprozeß befassen.

 

   1 Ewige Jugend   

 

Es ist keine sehr reizvolle Aussicht, als Graubart fortzuleben, immer schwächer, immer verkalkter, mit nachlassendem Verstand und mit schwindenden Kräften. Für die meisten Leute hat die Erhaltung der Körperkraft bis an das Ende der normalen Lebensdauer eine weit größere Anziehungskraft. Es ist etwas allgemein Wünschenswertes, die Lebensenergie und Spannkraft der Jugend zu erhalten. 

Der berühmte Holländer Dr. Boerhaave, dessen Ruf so groß war, daß sogar chinesische Kaiser nach ihm schickten, um ihn zu konsultieren, kleidete vor mehr als zwei Jahrhunderten den Tatbestand in folgende Worte: »Eine nie versagende körperliche Gesundheit, eine stetige Geisteskraft und Gemütsruhe, diese Güter gilt es zu bewahren bis zu einem blühenden Greisenalter, bis schließlich Körper und Seele ohne Krankheit und Todeskampf auseinander­gehen.« Dies sei viel wünschenswerter als der Stein der Weisen, der Blei in Gold verwandelt.

Die Wirklichkeit sieht anders aus:


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Wie schon oft gesagt worden ist, stirbt der Körper jeden Tag ein wenig. Was ist der Grund hierfür? 

 

In den letzten Jahren wurde erkannt, daß die Ursache mit ziemlicher Sicherheit auf den wahllosen Verfall und letzten Endes auf das Absterben einzelner Zellen zurückzuführen ist. Dieser Verfall des gesamten Körpergewebes hat eine besonders schädliche Auswirkung dort, wo Zellen die Fähigkeit verlieren, sich durch Teilung wieder zu ergänzen: also besonders bei den Nerven- und Muskelzellen. Die häufigste Todesursache bei den Menschen ist das Versagen des Herzens und nicht das Versagen eines anderen Organs wie z.B. der Leber, denn das Herz besteht überwiegend aus Muskelgewebe. 

Sterben nun die Zellen des Herzmuskels ab, so werden sie nicht mehr erneuert. Sie können im Gegenteil die verbleibenden gesunden Zellen vergiften. Leberzellen verlieren dagegen nicht die Fähigkeit der Zellteilung; operiert man ein Stück Leber heraus, so wird dieses sowohl bei alten als auch bei jungen Menschen wieder ersetzt. Bevor ein Mensch durch das Versagen der Leber stirbt, muß er unter einem ernsthaften Leberschaden leiden (hervorgerufen etwa durch Viren oder übermäßigen Alkoholkonsum).

Die Theorie des »Zelltodes« beim Altern wurde durch Dr. Nathan Shock begründet, Direktor der Gerontologischen Abteilung des Nationalen Gesundheitsinstitutes in Bethesda, Maryland, und Amerikas führender Experte für Altersfragen. Im Jahre 1958 begann er in seinem Labor im Städtischen Krankenhaus in Baltimore mit der Untersuchung von 400 Patienten. Diese Untersuchung soll 20 Jahre lang anhalten, aber sie wirft schon jetzt ein neues Licht auf das Problem des Alterns. 

Es besteht kein Zweifel, daß die Funktionsfähigkeit der Zellen bis zu ihrem Absterben immer mehr abnimmt; diese Tatsache erklärt auch den Kräfteschwund mit fortschreitendem Alter. Mehrere Erklärungen untermauern die Theorie des Zelltodes. Eine der wahrscheinlichsten stammt von John Bjorksten, einem finnischen Chemiker, der heute in den USA lebt. Vor etwa 20 Jahren postulierte er, daß die langkettigen Moleküle (DNS), denen in der Zelle die bedeutendsten Aufgaben zukommen, wie wir später sehen werden, buchstäblich verknäult werden. Einzelne Moleküle oder deren Bruchstücke werden wahllos irgendwo an die Ketten angeknüpft. 


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Die angeknüpften Moleküle verbinden sich untereinander, so daß zwei entfernte Stellen innerhalb der Kette miteinander verbunden sind. Ebenso können sich manchmal durch Strahlungseinflüsse zwei entfernte Glieder der Kette aneinanderheften. Wie Chemiker gezeigt haben, erscheinen in der Zelle unlösliche Produkte, die aus Proteinen bestehen. Elektronenmikroskopische Untersuchungen ergeben den Beweis für diese »Alters-Pigmente«, wie einige Autoren sie genannt haben. Ein passender Vergleich wäre vielleicht Leim, der in ein feines Uhrwerk gerät.

Frühere Vermutungen, daß Zellen absterben, weil ihnen wesentliche Bestandteile verlorengehen (die »Substanzverlust«-Hypothese), oder daß ihre Funktion durch die eigenen Verfallsprodukte gehemmt würde (die Theorie der Schlackenbildung), sind nicht beweiskräftig. Plausibler ist der Gedanke, daß die DNS in den Zellen durch Strahlung beschädigt wird, wobei Mutationen verursacht werden, die dann wahrscheinlich letal wirken oder keinen Sinn bei der Vererbung ergeben. 

Kürzlich erschienene Arbeiten scheinen aber zu zeigen, daß Mutagene (chemische Substanzen, die Mutationen hervorrufen) keinen Einfluß auf Mäuse haben. Größere Untersuchungen bei Mäusen und anderen Versuchstieren ergaben, daß durch Strahlung keine Verkürzung oder Verlängerung der Lebensdauer erreicht wird, wenn die angewandte Strahlungsdosis ein gewisses Maximum nicht überschreitet, das beträchtlich höher liegt, als es den natürlichen Lebensbedingungen entspricht. Vorausgesetzt, die Theorie der »chemischen Querverbindungen« von Bjorksten ist richtig, so stellt sich die Frage nach der praktischen Nutzanwendung, um den Zelltod beim Altern zu vermeiden.

Bjorksten ist von seiner Theorie überzeugt und glaubt, daß es Bakterien geben muß, die die Bindungen zwischen den langkettigen Molekülen lösen können. Sein Argument ist, daß wir in Fossilien nur sehr wenige Proteine dieser Art finden. Sie müßten aber vorhanden sein, wenn ihre Bindungen untereinander nicht aufgelöst worden wären. Er schließt daraus, daß wir nicht nur in der Lage sind, das Altern zu verzögern, sondern daß wir tatsächlich den gesamten Zelltod verhindern können und auf diese Art Unsterblichkeit erreichen werden. 

Nicht alle Gerontologen stimmen damit überein. Dr. Comfort lehnt Bjorkstens Prognose kategorisch ab: »Es gibt in der vorhersehbaren Zukunft keine vernünftige Aussicht, für irgend jemanden eine wirksame persönliche Unsterblichkeit zu erlangen...« Die Theorie von Bjorksten erklärt den Kräfteschwund und Alterstod mit demselben Mechanismus: Der Tod tritt ein, wenn zu viele Zellen abgestorben sind. So ist es erklärlich, daß viele Leute an Herzkrankheiten sterben, wenn wir uns erinnern, daß das Herz der wichtigste Muskel ist und Muskelzellen nicht erneuert werden können.


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Erleiden Menschen dagegen andere schwere Organschäden, oder werden Organe durch Infektionen geschwächt, so kann auch das Versagen dieser Organe primär zum Tode führen. Deshalb würde ein Heilmittel gegen den Zelltod die jugendliche Kraft bewahren und die Lebensspanne verlängern, vorausgesetzt, Bjorksten hat recht. Mit Sicherheit gibt es aber — leider — andere Befunde, die diese Theorie nicht erklärt — z. B. das Phänomen des »Alterns über Nacht«, das zu Beginn dieses Kapitels beschrieben wurde. Deshalb müssen wir die Frage der Lebensspanne ein wenig näher untersuchen. 

 

   2  Der aufgeschobene Tod   

 

Die Tatsachen, die jede Theorie des Alterns erklären muß, sind vielfältiger Natur. Zunächst gibt es den Befund, daß jede Tierart einer unterschiedlichen Lebensdauer unterliegt, die sehr weit differieren kann: von den 24 Stunden einer Eintagsfliege bis zu den 150 Jahren großer Schildkröten. Wenn es stimmt, daß die Zellen der Eintagsfliegen lebensnotwendige Substanzen verlieren oder durch ihre eigenen Zellzerfallsprodukte in einem Tag lebensunfähig werden, wie sollten dann die Zellen der Schildkröten ihre Funktion 150 Jahre (50.000mal so lang) ausüben können? Dann scheint eher die alte Regel — mit einer Ausnahme — zu gelten, daß die Lebensdauer in etwa proportional dem Körpergewicht ist; je größer der Körper, desto länger das Leben. (Der allgemeine Glaube, daß Karpfen ein hohes Alter erreichen, scheint falsch zu sein.)

Die Ausnahme findet sich beim Menschen selbst. Er lebt dreimal so lange, wie er nach dieser Theorie leben dürfte. Dies hat zur Vermutung geführt, daß die Lebensdauer abhängig ist von dem Gewicht des Gehirns.

Trotz der manchmal auftauchenden Geschichten von Menschen, die über 150 Jahre alt geworden sind, gibt es keine verläßlichen Indizien, daß jemand annähernd so lang gelebt hätte. England führte schon 1834 die allgemeine Meldepflicht für Geburten 2in, und dort wurde bislang noch kein Fall bekannt, der 109 [ahre überschritten hat. Der älteste Mensch, über den genügende Beweise durch Dokumente vorliegen, ist wahrscheinlich Pierre foubert, ein Schuhmacher aus Quebec, der im Jahre 1701 geboren wurde und 1814 starb — also 113 Jahre und 120 Tage lebte.

Die Diagramme für die Alterssterblichkeit zeigen ein Maximum: die durchschnittliche Lebensdauer liegt bei etwa 70 Jahren. Wenn nan sich zu niedrigerem oder höherem Alter bewegt, so sinkt die Anzahl der Sterbefälle stetig ab. Krankheiten und Unfälle sind bei dieser Statistik ausgeschlossen worden.


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Dies entspricht genau den Erwartungen der Zelltodtheorie, des Substanzverlustes oder der Schlackenbildung. Für andere Arten des Ab-sterbens scheint jedoch dieses Schema nicht gültig zu sein. Zum Beispiel werfen viele Pflanzen ihre Blätter ab, nachdem ihre Blüten erschienen sind und der Samen sich gebildet hat. Wenn man aber die Blüten nach ihrem Erscheinen entfernt, so wächst die Pflanze mit ihren Blättern noch monatelang weiter und bildet erneut Blüten. Deshalb kann die Ursache für das Verdorren und Absterben der Blätter nicht in deren Zellen gelegen haben: die Instruktion für das Abfallen der Blätter zu einem Zeitpunkt, der durch einen biochemischen Prozeß in den Blüten bestimmt wurde, muß vielmehr einen anderen Ursprung haben. Gibt es dann also einen »Alterungsfaktor« oder ein »für den Tod verantwortliches Protein«?

Pflanzen sind nicht die einzigen Organismen, die ein solches Verhalten zeigen. Gewisse Lebewesen im Wasser, etwa das Rädertierchen, sterben zu 90 Prozent innerhalb weniger Stunden, nachdem sie ihre Eier gelegt haben. Was ist der Grund für ihren Tod? Wenn sich die Kaulquappe zu einem Frosch entwickelt, wird ihr Schwanz resorbiert — das gleiche Phänomen. Die einzelnen Zellen in dem Schwanz sterben ab, sie werden durch die kleinen Vesikel zerstört, die als Lysosomen bekannt sind und die von ihrem Entdecker, Christian de Duve, »Selbstmord-Pakete« genannt wurden. Ähnliche Erscheinungen kennt man auch bei der Entwicklung der Embryos — menschliche Embryos inbegriffen —, wo gewisse Strukturen eine zeitlich begrenzte Rolle spielen. Wenn sie nicht mehr gebraucht werden, nekroti-sieren sie und sterben ab. Weiterhin gibt es gewisse Motten, die nach einem »programmierten« Plan zu sterben scheinen, genau wie die roten Blutkörperchen, die nur ein kurzes Leben von einigen Tagen haben.

Der Salm stirbt nach dem Laichen, und in diesem Fall kennen wir den Grund. Er bekommt plötzlich die »Cushing'sche Krankheit«, eine Krankheit, die durch eine vermehrte Produktion des Hormons ACTH verursacht wird. Offenbar besitzt der Salm ein inneres Uhrwerk, das eine Hypophysenfunktion in der Zeit des Schwärmens anregt, und die stimulierte Hypophyse verursacht dann die Überproduktion von ACTH. Wir wissen noch sehr wenig von diesen biologischen Uhren. Schließlich gibt es bei unserer eigenen Spezies das erwähnte Phänomen des »vorzeitigen Alterns«. Dies läßt vermuten, daß Altern nicht einfach das Ergebnis von Zerfallserscheinungen ist, sondern das Vorhandensein eines festgelegten Selbstmord-Kontrollmechanismus widerspiegelt. Man mag sich vorstellen, daß ein Defekt in diesem Mechanismus zu der Art des Alterns über Nacht führt. Umgekehrt könnte ein Defekt auch das Ausbleiben des Todes bedeuten, bis er sich schließlich aus anderen Ursachen, Krankheit oder Unfall, einstellt.


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Dieser Tatbestand läßt vermuten, daß die Zellen einen bestimmten Selbst-Vernichtungs-Mechanismus enthalten: es sieht so aus, als ob die Lysosomen die Zerstörungsinstrumente bergen. Das Wesen der Uhr, die die Zerstörung auslöst, ist noch unbekannt. Die Vorstellung eines »programmierten Todes« ist von einigen Wissenschaftlern postuliert worden. Sie glauben, daß Zellen einem Lebensprogramm gehorchen und absterben, wenn ihr Programm abgelaufen ist; ebenso wie ein Computer zu arbeiten aufhört, wenn er die ihm eingefütterten Befehle ausgeführt hat. Wenn dies der Fall ist, so könnte man von der fortschreitenden Entwicklung erwarten, daß sie die Programme so auswählt, daß für jede Spezies die vorteilhafteste Lebensspanne erzielt wird.

Wenn der Gedanke eines eingebauten Reglers für die Lebensdauer richtig ist, wäre zu erwarten, daß die Menschheit eines Tages entdeckt, wie sich diese Kontrolle manipulieren oder das Programm verlängern beziehungsweise ersetzen läßt. Im Moment aber — und dies muß nochmals betont werden — kennt niemand die Lösung der Probleme: eine Verlängerung der Lebensspanne bleibt eine reine theoretische Möglichkeit. Vor einigen Jahren richteten Kosmetik-Hersteller ihre Aufmerksamkeit auf Berichte eines »Peter-Pan-Hormons«, das von Insektenphysiologen entdeckt wurde. 

Einige Insekten durchlaufen ein Larvenstadium, bis sie sich schließlich in die Erwachsenenform verwandeln — Schmetterlinge sind ein gutes Beispiel. Der britische Physiologe Sir Wigglesworth entdeckte, daß diese Verwandlung durch ein spezielles Hormon, das er Ecdyson nannte, reguliert wird. Er lokalisierte bei dem blutsaugenden Insekt Rhodnius die Drüsen, die es absondern. Wenn man die Drüsen der jungen Larven in eine andere Larve implantiert, die sich gerade im Stadium der Umwandlung befindet, so bleibt diese eine Larve und wächst weiter. Wenn sie sich schließlich doch umwandelt, so entsteht ein riesenhaftes Insekt.

Es ist deshalb vorstellbar, daß auch beim Menschen das Ende des Wachstums und das Einsetzen der sexuellen Reife durch ein spezielles Hormon reguliert wird. (Das Einsetzen der Pubertät wird hingegen mit Sicherheit durch das Gehirn reguliert; wenn zum Beispiel in bestimmten Gehirnzonen Tumoren vorliegen, so beobachtet man das Eintreten der sexuellen Reife schon im Alter von zwei Jahren.) Aber man kann sich vorstellen, daß es nur wenige junge Leute gibt, die sich die Möglichkeit eines geringfügig verlängerten Lebens mit dem Preis einer um Jahre hinausgezögerten Reife erkaufen würden: zehn Jahre oder länger in der Rolle eines Teenagers zu verweilen, nur in der Aussicht, sich zu einem Riesen zu entwickeln.


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Außer diesem besonderen Fall gibt es noch eine bekannte Methode, mit der Wissenschaftler tatsächlich die Lebensdauer verlängern konnten.

In den Jahren um 1930 führte C. M. McCay an der Universität Cornell ein Experiment aus, an dem Gerontologen sich seit langem versucht hatten. Er nahm einige 300 Tage alte Ratten, setzte sie auf minimale Diät, die gerade zum Leben ausreichte, und verglich sie mit einer Gruppe, die so gut gefüttert wurde, daß sie ihre maximale Wachstumsrate erreichte. Nach 1115 Tagen gab er der ersten Gruppe wieder die normale Nahrung. Nun wartete er ab, bis alle Ratten gestorben waren. Die mit Diät gefütterte Gruppe lebte doppelt so lange wie die gut ernährte Gruppe. Eine nähere Analyse zeigte dann, daß die Ursache des längeren Lebens in der späten Reife lag. Die Zeitspanne, die sie nach ihrer Reife überlebten, war nicht länger als gewöhnlich. Frederick Hoelzel und Prof. A. J. Carlson aus Chicago variierten diesen Versuch und ließen die Ratten nurjeden3.Tag fasten. Sie stellten bei ihnen danach eine Lebensverlängerung um 20 Prozent fest. (Hoelzel war dadurch so beeindruckt, daß er ebenfalls zum Fasten überging.)

Aber die Schlußfolgerung, die man damals allgemein zog, Altern sei das Ergebnis des aufhörenden Wachstums, wird durch andere Befunde, die man seitdem entdeckte, nicht unterstützt. Zum Beispiel können Fische, die niemals zu wachsen aufhören, durch Diät ebenso zu einem längeren Leben veranlaßt werden. Überdies litten die Ratten, die McCay benutzte, an Osteoporose (Knochenbrüchigkeit, eine verbreitete Krankheit bei alten Leuten) und anderen Gebrechen. Die Verlängerung des Lebens bedeutet eben nicht nur einfach die Verlängerung der Kindheit, was vielleicht ganz gut ist.

Die Theorie von Dr. Bjorksten versucht jedoch, diese Befunde zu erklären: er glaubt, daß McCays Ratten länger lebten, weil sie weniger der »klebrigen« Moleküle verbrauchten, die die Querverknüpfungen zwischen den großen Protein-Molekülen hervorrufen, von denen das Leben der Zelle abhängig ist. Es gibt noch andere Merkmale des Alterns, die einer Erklärung bedürfen. Das klassische Symbol des Alterns ist das Ergrauen der Haare, und der Name »Graubart« wird als Synonym für »Greis« benutzt. Die ausfallenden Zähne und das nachlassende Sehvermögen sind ebenso charakteristisch für das Alter. Die Augenlinse wird normalerweise durch Muskeln bis zu einer passenden Krümmung zusammengepreßt, so daß ein scharfes Bild auf der Netzhaut entsteht (Akkommodation). Die Anpassungsfähigkeit der Linse wird um so schwieriger, je schlaffer die Muskeln und je starrer die Linse selbst werden. Das Ergrauen der Haare und das Ausfallen der Zähne waren bis vor kurzem noch nicht zu erklären.


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Dr. Philip Burch vom medizinischen Forschungsrat für Strahlenforschung an der Universität Leeds ordnet diese Erscheinungen dem Bereich der Autoimmu-lität zu. Wie ich früher schon erwähnt habe, besitzt der Körper äinen Mechanismus, der Fremdgewebe erkennt und zerstört, leshalb auch transplantierte Zellen abstößt. Manchmal ergibt sich ein Fehler in diesem Mechanismus, und eigenes Körpergewebe wird abgestoßen. Dies ist in der Medizin als Auto-mmunität bekannt. Dr. Burch hat auf Grund mathematischer Berechnungen gezeigt, daß die statistische Altersverteilung der Autoimmun-Krankheiten erklärt werden kann, wenn man eine :rerbte Empfänglichkeit und eine geringe Anzahl von zufälligen Krankheitserscheinungen (hier könnte man an Strahlungsschäden denken) zugrunde legt und miteinander kombiniert, seiner Ansicht nach paßt die Altersverteilung der Menschen mit ergrauenden Haaren und ausfallenden Zähnen in das gleiche Vlodell. 

Diese Erklärung wird jedoch von vielen Gerontologen angegriffen, was meinen Eindruck bekräftigt, daß das Problem sich noch in einem sehr verworrenen Zustand befindet.

 

Schließlich gibt es noch eine Alterserscheinung, die wir durch wachsende Erstarrung und besonders durch weitverbreitete Beschwerden über Bandscheiben­schäden wahrnehmen. Die Ursache lierfür ist eine Verhärtung des knorpeligen Bindegewebes in den Knochen, das vorwiegend aus Kollagenen besteht. Kollagne sind außer im Bindegewebe noch in Sehnen und Bändern, m Knorpel und unter der Haut verteilt und machen 40% des gesamten Eiweißes im Körper aus. Sie verhärten sich mit der Zeit wie Kautschuk, und zwar wiederum durch Querverknüpfungen zwischen den langen Molekülen, aus denen Kollagen lusammengesetzt ist. Damit nimmt auch die freie Beweglichkeit lieser Moleküle ab, und das Gewebe verliert seine Elastizität.

(Kollagen besteht aus mehreren Proteinarten, und es gibt Beweise, daß sich ihr Verhältnis untereinander innerhalb der Lebensdauer eines Menschen ändert.)

Der Elastizitätsschwund des Gewebes erklärt auch, warum Bandscheibenschäden im Alter zwischen vierzig und fünfzig verbreitet sind und Belastungen verursachen, lie in einem früheren Alter leichter zu ertragen sind. 

In Laborversuchen mit Bindegewebeextrakten hat sich herausgestellt, daß denaturiertes Kollagen möglicherweise wieder in lie native Form übergeführt werden kann. Obwohl dies eine wirkliche Verjüngung darstellt — die einzige echte Verjüngung, lie je erreicht wurde —, müßte zunächst eine völlige Auflösung des Kollagens erreicht werden. Es ist bis jetzt aber noch inklar, wie man dieses Experiment am lebenden Gewebe anwenden kann. Man müßte hierzu ein Lösungsmittel finden, welches den betreffenden Wirkstoff in zeitlich geringen Abständen zu den kollagenen Fasern transportiert, ohne den Patenten dabei in eine gallertartige Masse zu verwandeln.


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Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich beim Altern nicht um ein »klinisches Symptom«. Ebenso wie bei Krebs oder Rheumatismus liegen mehrere Krankheitserscheinungen vor, die gewöhnlich zusammengefaßt werden, da die äußerlich sichtbaren Merkmale in etwa die gleichen sind.

Es ist zum Beispiel ziemlich sicher, daß mit dem Altern emotionale Faktoren verbunden sind und daß Gemütsbewegungen den Tod hervorrufen können. Jeder Arzt weiß von Patienten zu berichten, die jegliche Lebenshoffnung aufgeben, wenn man ihnen mitteilt, daß sie an einer unheilbaren Krankheit leiden. Der britische Chirurg Sir Heneage Ogilvie sagte einst, er könne bei einer Versammlung von fünfzigjährigen Menschen an den Gesichtern erkennen, welcher unter ihnen an Krebs sterben wird. Seit wir wissen, daß die Hormonausscheidung der Gemütskontrolle unterliegt, findet man es nicht mehr überraschend. Es ist nicht außergewöhnlich, wenn ein Mensch nach dem Tod seines Ehepartners jegliche Lebensfreude verliert und bald darauf ebenfalls stirbt.

Wenn nun Emotionen beim Altern eine Rolle spielen, dann wäre es denkbar, daß die Lebensverlängerung durch die Psychotherapie bewirkt werden kann, oder durch Euphorika (Drogen, die einen Zustand der Euphorie hervorrufen) oder was sonst die Zukunft an neuartigen Vorbeugungsmitteln entwickeln mag. Wenn umgekehrt die allgemeine Lebensweise in der Gesellschaft von morgen immer anstrengender und unbefriedigender wird, so könnte eine Verlängerung des Lebens erschwert werden.

Wissenschaftler beschreiben die Krankheiten, die sich im späteren Leben manifestieren, im weitesten Sinne als »Degenerations-Krankheiten«. Wenn Infektionen, an denen früher Menschen in der Kindheit oder Jugendzeit starben, bewältigt worden sind, dann nehmen diese Degenerations-Krankheiten, die die fortschreitenden Ermüdungserscheinungen des Körpers und das Versagen von Körperteilen darstellen, immer mehr an Bedeutung zu. Zu ihnen gehört natürlich auch der Krebs, eine ungehemmte Zellteilung, die mit dem »Rennen einer Uhr«, deren Kontrollmechanismus falsch eingestellt ist, verglichen werden kann.

Die einzigen bedeutsamen Maßnahmen, die Auswirkungen des Alterns möglichst gering zu halten, sind gegenwärtig nur Transplantationen, also der Ersatz krankhafter Organe durch neue. Die Aussicht auf Organtransplantationen wird in den kommenden Jahren den größten Beitrag zu einer Verlängerung des Lebens liefern. Aber neben dem Versagen von Organen gibt es noch weitere, weniger ausgeprägte Formen der Degeneration. Besonders bedeutungsvoll ist die nachlassende Produktion von Hormonen, die so viele Tätigkeiten des Körpers steuern. Gerontologen haben mit Hormontherapien in kurzer Zeit große Erfolge erzielt.


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Betrachten wir die Frage der Muskelkraft. Ein siebzigjähriger Mann hat normalerweise nur noch die Kraft, die er mit zwölf oder dreizehn Jahren hatte — und die etwa nur halb so groß ist wie die eines Zwanzigjährigen. 

Muskelkraft hängt von der Gesamtmenge des Muskelproteins ab, und die Fähigkeit des Körpers zur Proteinsynthese ist eng verknüpft mit seiner Versorgung am männlichen Sexualhormon Testosteron. Injiziert man alten Menschen eine Zusammensetzung aus Cortison und Testosteron, so stellt man bei ihnen einen körperlichen Kräftezuwachs um 47 Prozent fest. Testosteron hat aber leider den Nachteil, daß es bei Frauen eine Virilisierung hervorrufen kann (bei Männern ein Prostata-Leiden), aber es gibt heute neue synthetische Hormone, die allein proteinsynthetisierende und keine virilisierende Wirkung haben. 

Diese sogenannten Anabolika haben wertvolle Nebenwirkungen. Sie steigern das Gewicht und hemmen den Schwund der Knochensubstanz, die sich in einer als Osteoporose bekannten Krankheit offenbart. Einige der Anabolika verbessern die Elastizität der Haut und haben deshalb zweifellos ihre Zukunft in der Kosmetikindustrie. Bei einigen Menschen wurde auch eine Zunahme ihrer Vitalität beobachtet. Jedoch müssen diese Substanzen unter strenger medizinischer Überwachung eingenommen werden, da sie ein latentes Prostata-Leiden aktivieren können, was mit Hormonandrang, Insuffizienz der Blase und anderen unliebsamen Nebenwirkungen verbunden ist.

Unter den Steroidhormonen gibt es nur eine Gruppe, deren Produktion mit fortschreitendem Alter nachläßt. (Chemiker kennen sie unter dem Namen: n-Desoxy-17-Keto-Steroide.) Vor kurzem ist nachgewiesen worden, daß alle Verbindungen dieser Gruppe im Körper aus einer einzigen Substanz entstehen. Dieser chemische Umwandlungsprozeß in differenzierte Substanzen beginnt beim Altern zu versagen. Deshalb erforschen die Gerontologen die Reaktionen des Körpers, wenn man ihm die fehlenden Substanzen anbietet.

Es wird zweifellos bald möglich sein, Drüsen zu implantieren, die solche Hormone absondern, so daß Injektionen überflüssig werden.

Aber wie lange und in welchem Ausmaße Zellen durch die direkte Hormonbehandlung in die Lage versetzt werden, dem fortschreitenden Zelltod die Stirn zu bieten, bleibt Spekulation. Trotz des Optimismus vieler Gerontologen könnte der Beweis erbracht werden, daß diese das verglühende Feuer nur anfächeln. Man erreicht vielleicht nur vorübergehende Besserung und Wohlbefinden, die man mit einem früher eintretenden Zusammenbruch bezahlen muß.


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Es gibt jedoch zwei mögliche Methoden, um die Lebensspanne zu verlängern. Die eine ist der Tiefschlaf, der über einen größeren Zeitraum hin Leben verlängert, obwohl dadurch keine zusätzlichen wachen Stunden gewonnen werden; das Gegenteil könnte eher der Fall sein. Ein anderer, vor kurzem vieldiskutierter Vorschlag ist die Tiefkühlkonservierung des Menschen. Befassen wir uns zunächst mit diesen beiden Vorstellungen, bevor wir uns anderen Gesichtspunkten im Kampf gegen den Tod zuwenden.

 

  3  Der Tiefkühlmensch   

 

Der Plan, Menschen durch Unterkühlung am Leben zu erhalten, bedeutet eine Chance für unheilbare Kranke, die Entdeckung eines Heilmittels abzuwarten. Eine Person, die zum Beispiel 1920 noch an einer Lungenentzündung gestorben ist, wäre mit großer Gewißheit gerettet worden, wenn man sie bis heute am Leben erhalten hätte.

Erweist sich diese Methode als risikolos, so könnte man den Wunsch hegen, sich eine Zeitlang aufbewahren zu lassen, um die Welt der Zukunft zu sehen oder zu erfahren, was aus den eigenen Kindern geworden ist (obwohl man vielleicht enttäuscht würde, weil man sie auch eingefroren vorfände!), oder halt nur, weil man leidenschaftlich daran interessiert ist, die Lösung eines wissenschaftlichen Problems zu erfahren. Sollte man mit der vorgefundenen Welt nicht einverstanden sein, so könnte man sich schließlich ein zweites Mal einfrieren lassen. 

Die sozialen Schlußfolgerungen aus jedem dieser Vorschläge sind offensichtlich so phantastisch und weitreichend, daß es sich lohnt, ihre praktische Anwendung sehr sorgfältig zu überprüfen. 

Eine der entstehenden Schwierigkeiten ist die Vererbung des Vermögens. Kinder, die eine Erbschaft erwarten, sähen verärgert ihr Vermögen dahinschwinden; andere, die das Geschäft während der elterlichen Gefrierzeit führten, würden sich nicht gern bei der Rückkehr der Eltern wieder hinauswerfen lassen. Ein Sohn, der die Leitung des Betriebes seines eingefrorenen Vaters übernommen und ihn erweitert hat, möchte nicht durch den »kalten Herrn« verdrängt werden. Vermögen, Prestige und sozialer Status wären dahin, oft könnte das Streben des Sohnes darauf ausgerichtet sein, die Wiederbelebung des Vaters unter diesen und jenen Ausflüchten hinauszuzögern.

Die staatlichen Finanzämter wiederum müßten durch die Abnahme der Erbschaftssteuern einen beträchtlichen Verlust an Steuereinnahmen erleiden und vielleicht versuchen, solche Vorhaben durch eine Steuer für abwesende Eigentümer oder deren Besitz zu verhindern. 


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Gesetzesentwürfe sind zu überlegen, inwiefern ein eingefrorener Mensch, der vor dem Gericht als Zeuge erscheinen muß oder gegen den eine Anklage läuft, wieder aufzutauen ist. Welche Schadenersatzansprüche sind an den zu stellen, der einen Eingefrorenen gegen dessen Willen auftaut? Wer haftet, wenn der Mann während seines unfreiwilligen Aufenthaltes im Lande der Nicht-Eingefrorenen stirbt oder verletzt wird?

Die politische Lage bleibt ziemlich unklar: Hat ein Eingefrorener (irgend jemand muß endlich einmal einen Namen dafür erfinden) Stimmrecht? Wenn ja, kann er seine Stimme einer einzelnen politischen Partei auf unbeschränkte Dauer geben? Abgesehen von diesen Einzelproblemen würden sich bei einer allgemeinen Verbreitung der Unterkühlung enorme wirtschaftliche Schwierigkeiten ergeben. Die Aufrechterhaltung des Tiefschlafs oder Gefrierschlafs (oder wie immer man ihn nennen will) mit allen Vorsichtsmaßnahmen gegen Infektionen, die regelmäßige Inspektion der Eingefrorenen durch das Ärztepersonal und so weiter wird nicht billig sein. 

Mit der Zeit wäre gewiß nur noch ein kleiner Kreis von aktiven Leuten bereit, die ständig wachsende Zahl von Tiefschlafenden zu betreuen. Obwohl der Gefrierkandidat die finanziellen Auslagen vorher zu regeln hätte, bedeutet ein hohes Bankkonto noch lange nicht die Garantie für Arbeitskräfte. Eine Inflation könnte die von dem Eingefrorenen für seine Betreuung gesparten Geldbeträge entwerten, und vermutlich würde er dann — mit oder gegen seinen Willen — aufgetaut werden. Die Rückkehr einer großen Anzahl von Menschen aus dem Tiefschlaf bringt jedoch große Schwierigkeiten mit sich, da diese hilflos einer Gesellschaft gegenüberstünden, deren Entwicklung weiter fortgeschritten ist. Zumindest benötigen sie Umschulungskurse im Gebrauch neuer technischer Geräte, und es würde eine Zeitlang dauern, bis sie wieder ihre rechtmäßige Position erreicht hätten. (Vielleicht würden sie auch von einem beträchtlichen Stapel ungeöffneter Briefe, Rechnungen, Mahnungen und anderen Überraschungen begrüßt werden.)

Sie könnten den Markt völlig aus dem Gleichgewicht bringen, indem sie das Schema von Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt in einer Weise veränderten, die sich nur schwer voraussagen läßt. Natürlich würden sie neue Kleider benötigen und zahllose Kleinigkeiten, heutzutage etwa Federhalter, elektrische Rasierapparate und Armbanduhren, wären sie vor vielen Jahren eingefroren worden.

Diese Zukunftsperspektiven werden von einigen Leuten so ernst genommen, daß man in den Vereinigten Staaten eine Reihe von Vereinen gegründet hat, die die Entwicklung beschleunigen wollen, zum Beispiel der <Verein zur Lebensverlängerung> in Washington, die <Gesellschaft zur Erforschung der Unsterblichkeit> in Kalifornien und das <Institut für Weiterentwicklung und Verlängerung des Lebens> in New York. 


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Außerdem haben Leute für die Konservierung ihrer Leichen Geld vorausbezahlt, im Glauben, daß eine Wiederbelebungsmethode binnen kurzem entdeckt wird.

Dr. James H. Bedford, ein im Ruhestand lebender Professor der Psychologie, bezahlte 4200 Dollars zu diesem Zweck, bevor er letztes Jahr in Kalifornien im Alter von 73 Jahren an Krebs starb. Dr. B. Renault Able führte unter Anleitung der Gesellschaft für Kältetechnik in Kalifornien das Eis-Begräbnis, wenn man so sagen darf, aus. Der erste Schritt war die Injektion der Substanz Heparin, die die Blutgerinnung hemmt; danach wurde der Brustkorb geöffnet und das Herz massiert, damit das Gehirn im durchbluteten Zustand bleibt. 

Gleich danach wurde Dr. Bedford an eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen und die Körpertemperatur durch Eispackungen auf 8° C erniedrigt. Zu diesem Zeitpunkt wurde das meiste Blut entnommen und durch eine Salzlösung ersetzt, die das »Wunder-Lösungsmittel« DMSO enthielt, das ich bereits in Verbindung mit Hautaufbewahrung erwähnte. Dann wurde die Körpertemperatur auf —79° C gesenkt und der Körper nach Phoenix in Arizona geflogen, um bei —1900 C in flüssigem Stickstoff aufbewahrt zu werden. Die Kosten, um die Leiche bei dieser Temperatur zu halten, belaufen sich jährlich auf etwa 1000 DM.

Dr. Bedford nahm nicht an, daß er keinen Gefrierschaden erleiden könnte; aber er glaubte, daß in kurzer Zeit Wissenschaftler eine Methode finden würden, solche Schädigungen zu heilen und aufbewahrte Leichen wieder zu beleben. Hinzuzufügen ist noch, daß er 200 000 Dollars hinterließ, um damit die >Bedford-Stiftung für Gefrierbiologische Forschung< zu gründen. Da jedoch DMSO viele nachteilige Wirkungen hat, die sich bis jetzt noch nicht analysieren lassen, sind seine Chancen gering; ganz abgesehen von dem Problem der Schädigung durch die Konzentrierung der elektrisch geladenen Sekretionen in seinen Körperzellen. 

Dr. Stanley Jacob, außerordentlicher Professor für Chirurgie an der Universität von Oregon, machte zu jener Zeit die Bemerkung: »Das Kapital des alten Mannes ist vergeudet worden, was seine eigenen Chancen anbelangt.« Experten im Gefrieren von Zellgewebe sind jedoch geteilter Meinung über die technische Durchführbarkeit eines solchen Prozesses. Dr. Audrey Smith vom »Nationalen Medizinischen Forschungsinstitut in Mill Hill in der Nähe von London ist durch Arbeiten bekannt geworden, in denen sie die Unterkühlung der Hornhaut des Auges zum Zwecke der längeren Aufbewahrung beschreibt; sie gehört zu den führenden Experten der Welt und ist der Ansicht, daß für die Aufbewahrung von Organen Hoffnung besteht. (Sie selbst hat schon mit Lungen experimentiert.)


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Professor A. S. Parkes, mit dem sie früher zusammenarbeitete, hat vorausgesagt, daß die Organaufbewahrung vielleicht schon im Jahre 1971 erreicht werden kann. Aber es bestehen sehr große Unterschiede zwischen der Aufbewahrung von inertem Gewebe wie Hornhaut oder Haut und der längeren Lagerung von aktiven Zellen, die dem Stoffwechsel unterliegen. Man weiß, daß gewisse Zellmembranen nur durch einen Prozeß der ständigen Erneuerung am Leben bleiben und absterben, wenn die Zelle zu einem Stillstand gebracht wird. Frühere Versuche, einzelne Organe oder sogar ganze Tiere einzufrieren, schlugen fehl, weil sich innerhalb der Zellen Eiskristalle bildeten, die die Zellwände zerstörten. Die Entdeckung, daß man Zellen in ein Lösungsmittel wie Glycerin eintauchen und so die Gefrierrate sorgfältig kontrollieren kann, hat diese Gefahr beseitigt und führte zur erfolgreichen Unterkühlung einzelner, oben beschriebener Organe.

Gewisse Fälle, wo Menschen unter natürlichen Bedingungen eingefroren waren, lassen den Eindruck entstehen, daß die Unterkühlung von Menschen möglich ist. So ist im Jahre 1960 der russiche Traktorführer Vladimir Kharin, der sich in einem Schneesturm verirrte, bewußtlos, steif- und blaugefroren aufgefunden worden, aber ohne irgendwelche Erfrierungserscheinungen und Anzeichen einer Verwesung. Es stellte sich heraus, daß er 3 Stunden lang unter dem Schnee gelegen hatte, und man nahm an, daß er durch das Kohlendioxyd seines eigenen Atems narkotisiert worden war. Nach einem kurzen Krankenhausaufenthalt erholte er sich und fing wieder an zu arbeiten. In Tulsa (Oklahoma) wurde von einem ähnlichen Vorfall berichtet: eine Negerin, die man in einer kalten Winternacht steifgefroren auffand, wurde trotz Erfrierungen an Händen und Füßen wieder zum Bewußtsein gebracht. Es ist sicher, daß die Körpertemperatur dieser Leute nicht auf o° C abgefallen ist. Die niedrigste Körpertemperatur, die man je bei einem lebenden Menschen gemessen hat, war 90 C. Dies geschah während einer Operation mit Unterkühlung. Normalerweise finden solche Operationen bei 250 C gegenüber der normalen Körpertemperatur von 370 C statt.

Im augenblicklichen Stand läßt sich ein Säugetier ohne nachfolgende Schädigung wiederbeleben, wenn man es maximal bis zu einer Stunde unterkühlt — in dieser Zeit sind dann 50%) des Wassers im Körper zu Eis erstarrt. Wenn das Wasser gefriert, so nimmt die Salzkonzentration im verbleibenden Wasser stark zu, und dies hat besonders auf die Zellmembranen eine zerstörende Wirkung; überdies werden die vielfältigen zellulären Prozesse durch die große Salzkonzentration verlangsamt, so daß daraus eine biochemische »Anarchie« entsteht. 


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Nicht nur Mäuse und Ratten, sondern auch Hunde und Affen sind wiederbelebt worden, nachdem ihre Körpertemperatur etwa eine Stunde lang unter o° C gehalten worden war. Insekten und Bakterien unterscheiden sich hierin ganz wesentlich. Professor H. E. Hinton von der Universität Bristol hat Fliegen in ihrem Larvenstadium 10 Jahre lang eingefroren und danach wieder aufgetaut, ebenso können Bakterien unendlich lange unter solchen Bedingungen leben. Fledermäuse halten Temperaturen unter dem Gefrierpunkt aus — sie sind natürlich Winterschläfer. Kaltblüter vertragen dagegen keine lange Unterkühlung. Eine Dehydrierung des Körperfettes (Entzug von Wasserstoff) scheint Winterschlaf haltende Tiere zu begünstigen. Deshalb könnte dies auch anderen Säugetieren helfen, vorausgesetzt, es würde ein Mittel entdeckt, das solch eine Dehydrierung bewirkt.* Wahrscheinlich muß sich der »Einfrier-Kandidat« vorher einer sorgfältig vorbereiteten Überprüfung der chemischen Reaktionen in seinem Körper unterziehen.

Man sollte noch darauf hinweisen, daß ein Tier klinisch tot ist, wenn Herzschlag und Atmung aufgehört haben, und daß somit, medizinisch gesehen, Wiederbelebungsversuche Experimente sind, jemanden vom Tod zum Leben zurückzubefördern. Der Biologe entweicht diesem Widerspruch, indem er jesuitisch den Tod als den Zustand definiert, »aus dem eine Wiederbelebung des Körpers als Ganzes durch ein gegenwärtig bekanntes Verfahren unmöglich ist«.

Wenn er wieder zum Leben erweckt wird, dann war er nicht wirklichtot! Aber da Menschen, die lange eingefroren sind, möglicherweise einen irreversiblen Gehirnschaden erlitten haben, taucht die Frage auf, ob man diese Erfrorenen tatsächlich wiederbeleben sollte.

Russische Forscher haben das Verfahren weiterentwickelt, ohne jedoch die nachteiligen Auswirkungen auf die Gehirnfunktion ausmerzen zu können.

Die Russen begannen mit ihrer experimentellen Arbeit vor etwa zwölf Jahren in dem Laboratorium der Experimentellen Physiologie für Wiederbelebung<, das von der russischen Akademie für Medizin unterhalten wird. Sie entzogen ihren Versuchstieren, nämlich Hunden, das ganze Blut, und belebten sie zunächst nach 5—6 Minuten wieder, später wurde dieser Zeitraum nach und nach auf eine Stunde ausgedehnt.

* Viele Öle können Wasserstoff binden und werden dadurch fest, wie z. B. die Margarine, die aus pflanzlichen Ölen durch Hydrierung hergestellt wird. Der gegenteilige Vorgang findet z. B. beim Ranzigwerden der Butter statt. Das Fett wird dehydriert und dadurch ölig. Allgemein läßt sich sagen, daß tierische Fette in hydriertem Zustand (also fest] und pflanzliche Fette in teilweise dehydriertem Zustand (flüssig) vorliegen.


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Experimente mit Pavianen am >Institut für Experimentelle Pathologie und Therapie< in Sukhumi im Kaukasus sind meines Erachtens erhellender. Die Körpertemperatur dieser Tiere wurde zunächst auf 240 C gesenkt und ihr Blut entnommen. Einer dieser Paviane hieß Kefa. Vier Stunden nach seiner Wiederbelebung öffnete er seine Augen. Sechs Stunden danach ergriff er schon eine Spritze und rannte mit ihr im Operationssaal umher. Kefa hielt an ihrem früheren Lieblingsessen fest, was dafür spricht, daß Gedächtnis und Geschicklichkeit beibehalten werden. Aber nicht alle Tiere überlebten, und in einigen Fällen dauerte es drei Monate, bis die gesteigerte Nervosität der Tiere nachließ, die dreißig Minuten »tot« gewesen waren. 

Dies ist ein sehr großer Fortschritt, denn Tiere, die nur zwei bis vier Minuten ohne Unterkühlung »tot« waren, brauchten sieben bis neun Monate, um ihren Normalzustand wieder zu erreichen. In späteren Experimenten wurde die Temperatur auf io° C gesenkt und der Zeitraum des »Todes« auf zwei Stunden ausgedehnt. Nach diesem Versuch dauerte es zwanzig Stunden, um das Hörvermögen und drei Tage, um das Sehvermögen wiederherzustellen. Nach sieben Tagen war die vollständige Genesung eingetreten. Bei einigen Tieren stellte man aber ein Flimmern der Herzkammern fest (ein unregelmäßiges Zucken der Herzmuskelfasern auf Grund von Störungen der elektrischen Impulse, die den Herzschlag regeln), das als ein drohendes Zeichen auf ein baldiges Herzversagen schließen ließ.

Wenn man an die beschränkte Leistungsfähigkeit der Neuronen denkt, so ist bemerkenswert, daß der Körper alle Verbindungen wiederherstellen kann, die vorher total zusammengebrochen waren. Dennoch sind die Aussichten, mit den heute verfügbaren Techniken einen verlängerten »Tod« ohne größere Schäden zu überleben, äußerst gering, und es wird einen sehr tapferen Mann erfordern, der als erster dieses Erlebnis riskiert. Da das Gehirn die empfindlichste Stelle zu sein scheint, sollten wir vielleicht daran denken, das Gehirn zu entfernen und es getrennt vom Körper unter anderen Bedingungen aufzubewahren. An der Medizinischen Universität in Kobe haben japanische Forscher unter der Leitung von Professor I. Suda vor kurzem über einige Ergebnisse auf diesem Gebiet berichtet. Ein isoliertes Katzengehirn wurde in einem Glyzerinbad bei —200 C sieben Monate lang aufbewahrt. Vor der Operation hatte man beim narkotisierten Tier das Blut durch eine Glycerinlösung ersetzt. Nach der Wiederbelebung der Katze ließen sich »annähernd normale« elektrische Impulse messen, und die Gehirnzellen erwiesen sich unter dem Mikroskop als »beinahe normal«.

Wir brauchen also die Hoffnung nicht aufzugeben. Professor A. S. Parkes erklärt: »Schließt man Zukunftsromane aus, so ist die Aussicht eines unbegrenzten Scheintodes durch Unterkühlung beim Menschen weit entfernt.« 


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Aber an anderer Stelle betonte er mit allerdings großem Vorbehalt: »All dies klingt natürlich fantastisch, aber wir haben gelernt, das Wort >unmöglich< mit Vorsicht zu benutzen. Vor zehn Jahren konnte noch keine normale Säugerzelle bei so niedrigen Temperaturen unterkühlt werden, daß eine längere Aufbewahrung möglich war. Heute ist dieses Verfahren alltäglich.« 

Wenn etwas in dieser Richtung erreicht werden kann, so meiner Meinung nach mittels eines eingeleiteten Winterschlafs, das heißt eher durch eine Verlangsamung der Körperprozesse als durch ihren völligen Stillstand. Schließlich wissen wir, daß dies möglich ist: die Natur praktiziert es regelmäßig. Seltsamerweise kennt man den Mechanismus des Winterschlafes immer noch nicht, und bis vor kurzem ist nur wenig Arbeit auf diesem Gebiet geleistet worden. Einige Spezies halten Winterschlaf, andere Artverwandte wiederum nicht, wie es zum Beispiel bei den Hamstern unterschiedlich praktiziert wird. Dr. R. R. J. Chaffee von der Zoologischen Abteilung der Universität Missouri hat kürzlich einige Fortpflanzungsexperimente ausgeführt; er züchtete die überwinternden Hamsterarten während mehrerer Generationen. 

Bald darauf hatte er zwei Populationen an Hamstern: eine, in der nur 22% der Tiere Winterschlaf hielten, während es in der anderen 74% der Tiere taten. Bevor er die beiden Stämme trennte, hatten 57°/o seiner Hamster ihren Winterschlaf gehalten. Damit zeigte er, daß diese Gewohnheit der genetischen Kontrolle unterliegt. Wüßten wir, wie man die genetischen Erbanlagen verändert — nach den im Kapitel 6 diskutierten Grundsätzen —, so ließe sich der Winterschlaf in das menschliche Repertoire aufnehmen. Aber wir brauchen vielleicht gar nicht auf solch einen drastischen Kunstgriff zu warten. Denn die Gene synthetisieren Enzyme, und diese regulieren wiederum die Proteinsynthese. Wenn wir also auf dieser Ebene die Enzyme und Proteine, die beim Winterschlaf eine Rolle spielen, identifizieren könnten, wären wir auch in der Lage, den Winterschlaf durch Injektionen der geeigneten Substanzen einzuleiten.

Der Winterschlaf unterscheidet sich vom normalen Schlaf: die Körpertemperatur sinkt, in einigen Fällen sogar wenige Grade, über den Gefrierpunkt des Wassers. Der Herzschlag verlangsamt sich auf etwa drei Schläge pro Minute, und die Atmung kann auf einen Atemzug in drei Minuten herabsinken. Man stellt sich leicht vor, daß so etwas auch bei der Raumfahrt Anklang finden würde. Auf einer jahrelangen Reise zum Mars oder auf einer noch längeren zum Jupiter hätten die Astronauten wenig Arbeit; sie würden sich langweilen und einsam fühlen. Ihre Langeweile hätte ein Ende, wenn man bei ihnen den Winterschlaf einführen würde; außerdem wären für diese Zeit nur geringe Mengen an Nahrungsmitteln, Wasser und Sauerstoff erforderlich.


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Noch bei einer relativ hohen Körpertemperatur von 2o° C (gegenüber der Normaltemperatur von 370 C) sinkt die Stoffwechselrate auf 25% des Normalwertes. Aber es gibt noch interessantere Möglichkeiten als diese; es ist vorgeschlagen worden, den gewöhnlichen Schlaf durch einen nächtlichen Winterschlaf zu ersetzen. Das menschliche Herz pumpt täglich 10 Tonnen Blut gegen einen Widerstand, der einer 1,5 m hohen Wassersäule entspricht. Wenn die Herztätigkeit herabgesetzt werden könnte, sagen wir auf 10% des normalen Betrages von 70 Schlägen pro Minute in der Nacht, so würde das Herz viel langsamer ermüden. Der nächtliche Winterschlaf könnte dann in hohem Ausmaße zu einer Lebensverlängerung beitragen. Andererseits würde man sich vielleicht beim Erwachen nicht voll erholt und kräftig fühlen, da viele Regenerationsprozesse im Körper ebenso verlangsamt würden.

Es kann von Bedeutung sein, daß viele Kolibris, deren Körpertemperaturen nachts abfallen, beträchtlich länger leben als Spitzmäuse, die eine ebenso hohe Stoffwechselrate besitzen, aber diese Eigenart nicht erworben haben. Der Sauerstoffverbrauch der Kolibris sinkt von 24 Kubikzentimeter pro Gramm des Körpergewichts auf 1 ccm/g. Sie leben normalerweise acht Jahre lang — es sind aber auch zwölfjährige Kolibris bekannt. Die Spitzmaus lebt dagegen im Durchschnitt nur sechs Monate und selten länger als drei Jahre. Einige Fledermausarten, die Winterschlaf halten, leben sogar zwanzig Jahre lang — eine beträchtliche Zahl, wenn wir uns erinnern, daß die Lebensdauer mit der Körpergröße in Beziehung steht. Bedeutet Tiefschlaf vielleicht die Antwort?

In seinem eindrucksvollen Buch »Im höchsten Grade phantastisch« wählt Arthur Clarke das Jahr 2050 als Zeitpunkt, an dem der Scheintod verwirklicht wird. Vielleicht war er zu pessimistisch.

Der Winterschlaf ergibt gleichzeitig neue soziale Aspekte. Da die Nahrungsaufnahme des sich im Winterschlaf befindenden Tieres gering ist, hat man den Vorschlag gemacht, in Zeiten der Hungersnot ganze Bevölkerungen in Winterschlaf zu versetzen und erst wieder aufzuwecken, wenn ihre Ernährung gesichert ist. Aber die Kosten, Winterschlafquartiere zu bauen und zu erhalten, wären sehr hoch, wenn nicht gar unerschwinglich, und in einem von Hungersnot heimgesuchten Land wie Indien könnte man kaum hoffen, fünfzig oder hundert Millionen Menschen für die Dauer eines Jahres unterzubringen. Wenn überdies die Frage der Beendigung eines solchen Massenwinterschlafs aktuell würde, zögen es vielleicht einige der sich nicht im Tiefschlaf Befindenden vor, lieber die Nahrungsmittelvorräte für sich selbst zu behalten, anstatt eine Unzahl Hungriger aufzuwecken.


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Der Kampf: »Wiederbelebte gegen Lebende« könnte eines Tages zur bitteren politischen Wahrheit werden. Der Tiefschlaf wäre weiterhin ein wirksames Mittel gegen die Schäden nuklearer Strahlen bei einer Atombombenexplosion. Da kleine Mächte mit der Zeit ebenfalls die Kenntnisse für den Bau nuklearer Waffen erlangen, mag zwar ein Atomkrieg nur lokalen Charakter haben, aber der radioaktive Niederschlag wird trotzdem die Nahrungsmittel auf der ganzen Welt ungenießbar machen. Tiefschlaf würde die Notwendigkeit umgehen, verseuchte Lebensmittel verzehren zu müssen. (Gibt es eine grausamere Ironie des Schicksals, als daß ein Mensch, um dem Hungertod zu entgehen, Lebensmittel essen muß, von denen er weiß, daß sie verseucht sind und ihn töten werden?) Wenn die Anzahl der Winterschlafquartiere — oder die Vorräte der Substanzen, die den Winterschlaf verursachen — nur begrenzt sind, könnte ein grausamer Konkurrenzkampf einsetzen. Bleigeschützte Tiefschlafquartiere könnten ebenfalls dazu dienen, der kurzzeitigen Strahlung eines nuklearen Krieges im eigenen Land zu entkommen. Im ganzen gesehen bedeutet Tiefschlaf also ein Wort, bei dem man nicht aus seinem Sessel hochspringen muß, wenn man es in den Zeitungen entdeckt.

 

  4  Soziale Konsequenzen   

 

Die sozialen Auswirkungen dieser Untersuchungen hängen von der Entwicklung ab. Wenn das Leben verlängert werden kann, ist folgendes Modell zu erwarten: eine längere Kindheit und ausgedehntere Jugend, die zu einem verlängerten Erwachsenendasein und hinausgezögerten Altern führen. Wünschenswert wäre zweifellos eine verlängerte Zeit der Reife bei normaler Jugend, verkürzter Kindheit und verkürztem Alter. Aber gerade eine zeitliche Ausdehnung des mittleren Lebensabschnittes dürfte nur schwierig zu erreichen sein.

Das andere ebenso wahrscheinliche Schema ist das einer Ausdehnung des ersten Lebensabschnittes wie bei den Ratten des Herrn McCay. Eine längere Schulzeit ohne den Einschnitt des physischen Höhepunktes zwischen 20 und 30 Jahren könnte von großem Nutzen sein. Eine verlängerte Kindheit würde uns zumindest mehr Zeit für die Ausbildung lassen, obwohl es in der Praxis eine Tendenz geben könnte, die Menschen in weniger reifem Alter zur Arbeit heranzuziehen, weil sie dazu neigen könnten, weiterhin den Eintritt in die Arbeitswelt zum üblichen chronologischen Alter zu vollziehen. Nach unseren heutigen Zeitbegriffen wären sie nämlich schon alte Menschen. Für die Gesellschaft wäre es wertvoll, wenn man die Erwachsenenphase ausdehnen könnte. 


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Schon eine Verlängerung um 10 Jahre würde das Verhältnis zwischen Ausbildungszeit und der Zeit, in der man das Gelernte ausübt, wesentlich günstiger gestalten. Da die Ausbildungszeit immer länger und kostspieliger wird, erhält dieser Aspekt eine wachsende Bedeutung. Schon die Ärzte brauchen etwa 30 Jahre ihres Lebens, um sich die in der Praxis erforderlichen Kenntnisse anzueignen, und sie haben dann meistens nur noch weitere 30 Jahre, um sie anzuwenden.

Ein etwas entmutigender Gesichtspunkt ist die Wahrscheinlichkeit des fortschreitenden geistigen Alterns, selbst wenn das körperliche Altern aufgehalten wird.

Auch wenn wir die vielen Zellarten, die als Folge des Alterns die Körperfunktionen schwächen, konservieren könnten, so ist doch nicht zu erwarten, daß sich die Neuronen oder Gehirnzellen auf die gleiche Weise erhalten lassen. Gehirnzellen können sich nicht teilen (und Hunderttausende sterben täglich ab). Die großen Leistungsreserven des Gehirns mit einem enormen Überschuß an unverbrauchten Zellen werden schließlich einmal aufgebraucht sein, und das könnte bei einer Lebensverlängerung bedeuten, daß die Bevölkerung aus körperlich gesunden Menschen mit altersschwachem Verstand besteht. Dies ist zumindest die Argumentation einiger Wissenschaftler, obgleich diese Lage vermutlich nicht entstehen würde, wenn das absterbende Gehirn den Tod hervorruft.

Professor Donald McKay hat ferner die These aufgestellt, daß sich auch unser Nervensystem den Gesetzmäßigkeiten der Lebensdauer angepaßt hat; so könnten die für das Erinnerungsvermögen verantwortlichen Moleküle nur eine begrenzte Lebensdauer ähnlich der des Körpers haben. Wir würden also die Welt bevölkern mit jungaussehenden Menschen, die aber in Wirklichkeit zunehmend altersschwach würden. Professor Ko-prowski, Direktor des Wistar Institutes in Philadelphia, hat darauf hingewiesen, daß diese Menschen auch anfälliger für Infektionen wären.

Sir George Pickering, Professor der Medizin in Oxford, vertritt die gleiche Ansicht. »Das Ziel der Medizin«, sagte er kürzlich bei einem Symposium über die Zukunft der Medizin, 

»ist die Verwirklichung eines unbegrenzten Lebens, am Schluß vielleicht mit Herz, Leber oder Arterien, aber niemals mit dem Gehirn eines anderen. Sollte ich recht behalten, so werden die Menschen mit altersschwachem Verstand und greisenhaftem Benehmen einen ständig wachsenden Teil der Erdbevölkerung ausmachen. Ich finde dies eine schreckliche Aussicht.« 

Und er fügte hinzu: »So sollten wir uns fragen, ob es nicht an der Zeit ist, das Forschungsprogramm und die Entwicklung aufzuhalten, die solch einen Zustand verwirklichen könnten ... Wir müssen den möglichen Folgen unserer Ideen und Vorstellungen ins Gesicht sehen und notfalls bereit sein, sie abzuändern.«


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Selbst wenn die geistige Altersschwäche verhütet werden kann, bleibt immer noch die Tatsache, daß die Denkart der Alten zunehmend starrer wird; ihre Entscheidungen beruhen meistens auf Erfahrungen, die in wachsendem Maß veralten. Es wird zum Beispiel behauptet, daß Generäle in Friedenszeiten sich darauf vorbereiten, wieder die Verhältnisse des letzten Krieges anzutreffen. Und wie ein Sprichwort sagt, kann man einem alten Hund keine neuen Kunststücke beibringen. Es wird tatsächlich mit dem Alter schwieriger, weitsichtig zu denken und neu zu lernen — das zeigt das Problem der Umschulung älterer Arbeiter. Das Land, das die durchschnittliche Lebensdauer seiner Bevölkerung ausdehnt, muß Richtlinien entwickeln für das Pensionierungsalter der in der Industrie, in der Verwaltung und in der Wissenschaft beschäftigten Menschen sowie für andere intellektuell tätige Gruppen. Heutzutage findet man gerade unter diesen Gruppen die Menschen, die am längsten in ihrem Beruf ausharren.

Eine andere wahrscheinliche Folge der Lebensverlängerung wäre der Anstieg des Frauenüberschusses in den höheren Altersgruppen der Bevölkerung. Schon in dem Alter zwischen 65 und 69 kommen auf 100 Männer 119 Frauen (laut Gesundheitsministerium der Vereinigten Staaten); der Überschuß bei noch höherem Alter nimmt allerdings ab. Die Tendenz zur Frauenherrschaft, der wir schon entgegensehen, würde erhöht werden. Die Alten neigen nicht nur zu Starrsinn, sondern auch zu Streit-und Herrschsucht; und die alte Großmutter, die ihre Kinder beherrscht, indem sie deren Erwartungen auf eine Erbschaft und ihre natürliche Zuneigung ausnutzt, stellt schon ein kleines Problem dar. Eine Gesellschaft mit einem großen Prozentsatz solcher »Drachen« wäre völlig unerträglich. Während in der westlichen Gesellschaft heute noch die Jugend im Mittelpunkt steht und die Alten vernachlässigt werden, würden solche Entwicklungen eine Altenherrschaft hervorbringen — eine Gesellschaftsform, in der die Alten im Mittelpunkt stehen; es ist kaum vorstellbar, daß diese ebenso lebendig sein sollte wie die unsere.

Dr. Irving Wright aus New York erklärte Ende 1967 vor der amerikanischen Medizinischen Gesellschaft, daß durch die Entdeckung eines Heilmittels gegen Arteriosklerose (Arterienverkalkung), der wesentlichsten Ursache für Schlaganfälle und Herzattacken, die Prognose, um wieviel älter die Menschen würden, nur schwer zu treffen sei. Schon heute gibt es mehr als 20 Millionen Amerikaner über 65 Jahre und sogar 12 000 über 100 Jahre. Wie er betonte, bewegen wir uns auf eine Lage zu, in der ein immer kleinerer Teil der Bevölkerung bereit sein muß, sich die Unterhaltslasten für alle »bis zu einem unerträglichen Ausmaß« aufzubürden. Nach Ansicht Dr. Wrights sollte das Pensionierungsalter verschoben und nicht ständig herabgesetzt werden. Sehr bald werden 65 Jahre nur ein mittleres Alter bedeuten.

Aber die Wissenschaftler nehmen nicht nur die Probleme des Alterns in Angriff, sie stellen sogar den Tod selbst in Frage.


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    5  Klinischer und biologischer Tod   

 

Im Jahre 1966 starb ein kleines Mädchen von elf Jahren in einem Krankenhaus in Liverpool. Sechs Jahre zuvor, mit fünf, wurde sie von einem Auto überfahren. Während all dieser Jahre hatte ein Team erfahrener Leute die lebensnotwendigen Funktionen mit Ausnahme des Bewußtseins auf rechterhalten. Schließlich mißlangen die kostspieligen Anstrengungen, die Folgen der Körperschwächung hinzuhalten, und das Mädchen »starb«. Ein Jahr vorher hatte ein Meuchelmörder dem algerischen Außenminister, Herrn Khemisti, den Kopf durchschossen. Die Atmung versagte, und das Gehirn erlitt eine irreversible Schädigung durch Sauerstoffmangel. Später im Krankenhaus wurde Khemisti für klinisch tot erklärt. Man schloß ihn trotzdem an eine Herz-Lungen-Maschine an, seine Körperfunktionen kamen einigermaßen wieder in Gang — zumindest setzte keine Verwesung ein — und er »lebte« noch drei weitere Wochen und trotzte dem Ruf des Todes.

Der russische Nobelpreisträger Lev Landau »starb« viermal an der Herz-Lungen-Maschine, nachdem er bei einem Autounfall schwer verletzt worden war. Nach beinahe viermonatiger Bewußtlosigkeit war er schließlich wieder zu einem Wesen hergestellt, das einem Gesunden ähnelte, obwohl berichtet wird, daß seine geistigen Fähigkeiten sehr beeinträchtigt waren. Solche Vorfälle werden mit Sicherheit alltäglicher und die Zeitspanne bei dem Aufschub des Todes verlängert sich mehr und mehr. Was wir hier sehen, ist das frühe Stadium einer Entwicklung, die dazu führt, Menschen, die früher an Verletzungen gestorben wären, beliebig lange am Leben zu erhalten. Die Herz-Lungen-Maschine ist nur eine Waffe aus dem Arsenal. Große Bluttransfusionen retten jene, die sonst an Blutverlust gestorben wären. Intravenöse Nahrung erhält Patienten am Leben, die im Koma liegen (tiefe, andauernde Bewußtseinsstörung) und sonst verhungern würden. Bei manchen Autounfällen und häufig bei Motorradunfällen werden die Nervenstränge zum Gehirn durch die plötzliche Geschwindigkeitsverminderung bei einem Zusammenstoß durchschnitten. Das Opfer hat sich sozusagen das Genick gebrochen, obwohl die Wirbelsäule und die Muskeln noch in Ordnung sein können. 


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Solche Menschen sind über drei Jahre lang am Leben erhalten worden. Da die Nerven zu den Augen- und Gesichtsmuskeln nicht durchtrennt wurden, können diese Patienten oft noch zwinkern, ihre Augen verdrehen und andere Lebenszeichen von sich geben. Sie sterben häufig an Schwächezuständen — es ist schwierig, bei den bewegungslosen Patienten den Stuhlgang aufrechtzuerhalten, und die Muskeln verlieren im allgemeinen ihre Spannkraft. Durch elektrische Stimulatoren wird man diese Schwierigkeiten wahrscheinlich überwinden können, und bald wird es möglich sein, solche Menschen lebend auf unbegrenzte Zeit, vielleicht sogar für immer, in ihrem Gefängnis »aufzubewahren«. 

Im günstigsten Falle verspüren sie eine verzweifelte Langeweile und kommen sich unnütz vor, im ungünstigsten Fall durchleben sie eine Art Hölle. Ihr unvollständig gereinigtes Blut kann — obwohl es niemand wirklich weiß — enorme Kopfschmerzen oder tiefe Depressionen hervorrufen. Sie können Schmerzen erleiden, die von verschiedenen Körperteilen auszugehen scheinen, die aber ihre Ursache in den geschädigten Nervenendigungen haben. Wenn sie in das Koma verfallen, werden sie vielleicht — niemand weiß es genau—von Angstträumen und Wahnzuständen geplagt. Ihr Leben aber dennoch zu beenden, wäre ein Verbrechen, eigentlich sogar Mord.

Vor einigen Jahren beschrieb ein britischer Arzt in einer medizinischen Zeitschrift eine Operation an einer älteren Dame. Wenn sie die Operation überstanden hätte, wäre sie vielleicht noch weitere zehn Jahre am Leben geblieben, aber hoffnungslos gelähmt, eine Last für sich selbst und für andere — denn die Pflege eines Patienten im Koma erfordert den vollen Einsatz von zwei oder drei Schwestern. In diesem Fall überlebte die Patientin — nach Meinung des Autors glücklicherweise — die Operation nicht. Die Frage jedoch, die er seinen Kollegen stellte, lautete: »Ist es wirklich meine Pflicht, Leben unter solchen Umständen zu erhalten?«

Diese Situation wird alltäglicher werden: die menschliche Gesellschaft befindet sich plötzlich in der Lage, immer mehr Menschen über immer längere Zeiträume in einem Zustand bewahren zu müssen, für den der Ausdruck »aufgeschobener Tod« angemessener ist als »Leben«.

Tatsächlich ist der uralte Unterschied zwischen »tot« und »lebendig« zusammengebrochen. Wie es Tote gibt, die eigentlich lebendig sind — wenn »lebendig« mit dem Begriff des Herzschlags definiert ist —, so gibt es andererseits Menschen, die eigentlich tot sind, da ihr Herz nicht mehr schlägt, und die dennoch dem Leben nicht verloren sind, da sie wiederbelebt werden können. Chirurgen unterscheiden heute zwischen »klinischem Tod« und »biologischem Tod«. Die Termini sind nicht glücklich gewählt. Genauer und klarer würden die Unterschiede mit den Begriffen »reversibler Tod« und »irreversibler Tod« zum Ausdruck kommen.


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Viele Ärzte glauben, daß die Gehirnfunktion ein besseres Kriterium des Todes ist als die Herzfunktion und daß der Tod mittels EEG (Elektroenzephalograph)-Aufzeichnungen der Gehirnströme diagnostiziert werden sollte. Dr. Hannibal Hamlin, ein Nervenarzt aus Boston, drückte es so aus: »Obwohl das Herz ein Leben lang als geweihter Kelch des Lebensblutes auf den Thron gehoben wurde, so ist doch der menschliche Geist das Erzeugnis seines Gehirns und nicht seines Herzens.« Aber in der allgemeinen Rechtsauffassung ebenso wie im Alltag wird das Versagen des Herzens als das Anzeichen für den Tod gehalten.

Die Franzosen, berühmt wegen ihrer scharfen Logik, haben diesen Sachverhalt schon angegriffen. Im Mai 1966 hat die französische Medizinische Akademie einstimmig entschieden, daß ein Mensch, dessen Herz noch schlägt, für tot erklärt werden kann. Die Entscheidung der Akademie, die sich auf den vier Monate alten Bericht einer Sonderkommission stützte, hatte den Sinn, den Ärzten zu erlauben, lebende Organe zu Transplantationszwecken aus jenen Menschen operativ zu entfernen, die keine Überlebenschance mehr haben. Die Akademie empfahl gleichzeitig, das Ableben durch den Elektroenzephalograph zu bestätigen: zeigt das Gehirn 48 Stunden lang keinerlei Aktivität mehr, so nimmt man an, daß das Gehirn und damit der Patient tot sind.

Diese Versuche einer Definition des Todes, nützlich im Falle tödlich verletzter Menschen, geben dem Arzt keine Hilfe bei »dahinvegetierenden« Patienten, bei denen zumindest Teile des Gehirns noch funktionieren, oder bei langsam dahinsiechenden Patienten, deren Ende mittels der modernen Technik unbarmherzig hinausgezögert werden kann. Solch ein Patient kann mehrmals gewaltsam vom Rande des Grabes zurückgeholt werden, bevor er wirklich stirbt.

Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, daß der mit solchen Methoden hinausgezögerte Tod meistens offensichtlich schmerzvoller ist, als wenn der Patient die Behandlung verweigert hätte. Charles F. Zukosi III, Chirurg an einem Krankenhaus in Nashville in Tennessee, stellt fest: »Dies ist eine qualvolle Art des Todes. Wir können die Verlängerung des sogenannten Lebens auch zu weit treiben.« Und ein anderer Arzt äußerte: »Lassen wir sie doch mit Würde sterben!« Abgesehen von der Situation des Patienten bedeutet der Aufschub des Todes eine enorme Belastung für die Angehörigen. Die Familie des Patienten leidet nicht nur auf grausame Weise, sie muß auch, sofern sie keine öffentliche Unterstützung erhält,


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täglich etwa DM 1000 für die Benutzung der Instrumente bezahlen. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen mit dem Mangel an technischen Geräten und Instrumenten ist es ein Dilemma für die Ärzte: »Wann zieht man den Stecker heraus und macht die teuren Instrumente einem anderen zugänglich, der ebenfalls leben möchte?« fragte Dr. Robert S. Schwab von der Harvard Universität.

Dieses Problem ist natürlich nicht völlig neu: bei Patienten, die sich im Endstadium eines Krebses befinden, unter großen Schmerzen leiden und deren Tod nur noch eine Frage von Tagen ist, fühlen sich nur wenige Ärzte verpflichtet, ihre medizinischen Hilfsmittel daranzusetzen, um ihr Leiden zu verlängern. Viele Ärzte lösen dieses ethische Problem, indem sie sich selbst Untätigkeit zubilligen und positiven Handlungen entziehen. Sie geben zum Beispiel keinem Patienten eine Arznei, die seinen Tod beschleunigt, aber sie nehmen sich die Freiheit, eine medizinische Behandlung im Falle einer Atemlähmung auf dem Höhepunkt seines Todeskampfes zu versagen. Vielen mag dies moralisch fragwürdig erscheinen, selbst wenn es erfahrungsgemäß in der Praxis nützlich ist. Und es ergibt auch wenig Sinn in der Sprache der neuen automatischen Apparate: hat man sich einmal entschlossen, den Respirator anzuwenden, so kann man niemals den Stecker wieder herausziehen, denn dies ist eine positive Handlung.

Das soeben behandelte ethische Problem ist vielleicht das bedeutungsvollste, das bislang in der modernen Biologie aufgetaucht ist. Aus diesem Anlaß gab der Papst am 24. November 1967 eine Erklärung vor einem Auditorium aus Klinikern, Chirurgen und Wissenschaftlern ab. Die wesentlichsten Punkte wurden von Hochwürden Fulten J. Sheen, dem römisch-katholischen Weihbischof von New York, zusammengefaßt: »Das Leben kann entweder durch gewöhnliche oder außergewöhnliche Hilfsmittel verlängert werden, zum Beispiel durch eine Apparatur aus Glasröhren und Schläuchen oder durch Geräte bei der Endphase des Krebses. Niemand ist dazu verpflichtet, solche außergewöhnlichen Hilfsmittel zu verwenden, und es gibt keine moralischen Schwierigkeiten bei der Frage, wann sie entfernt werden sollen.« Solch ein Hinweis läßt allerdings Zweifel darüber offen, was alles als »außergewöhnlich« bezeichnet werden darf. Die außergewöhnlichen Hilfsmittel von heute sind die gewöhnlichen Mittel von morgen.

Andrerseits sagt Dr. Immanuel Jacobovits, Ober-Rabbiner des Britischen Commonwealth, die jüdische Religion »lehne es ausdrücklich ab«, daß ein Arzt das Recht hat, seinen Patienten in Frieden sterben zu lassen; seine Sünden werden ihm erst vergeben durch das biblische: »Du sollst ihm zum Heil verhelfen.« 


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Aber er schränkt diese bewundernswert klare Darstellung ein, indem er hinzufügt, daß das jüdische Gesetz nicht vom Arzt verlangt, die Leiden des Patienten durch »künstliche« Mittel zu verlängern. Das Wort »künstlich« bleibt unbestimmt. 

Abgesehen von den religiösen Anschauungen wünschen sogar jene, die eine völlig sachliche Haltung einnehmen, die Sicherheit, daß die neue Gewalt der Ärzte über Leben und Tod nicht mißbraucht wird und gründlich diskutiert werden muß. Im Jahre 1967 stellte ein englischer Fernsehregisseur fest, daß während seines Krankenhausaufenthaltes eine Anweisung an das Krankenhauspersonal gegeben wurde, die den Gebrauch der Wiederbelebungsapparatur betraf. Ganze Kategorien von Menschen, besonders ab einer bestimmten Altersgrenze, waren automatisch von einer Wiederbelebungsbehandlung ausgeschlossen. Er veranstaltete daraufhin ein Fernsehprogramm, das Schlagzeilen machte. Diese Art von Propaganda, die Befürchtungen und Vorurteile hervorruft, erschwert das Verständnis für eine »Sterbe mit Würde«-Politik, aber sie gibt uns einen Vorgeschmack von der Art der Streitfragen, die in Zukunft alltäglich sein werden. Es zeigt sich immer wieder, wie unerläßlich es ist, annehmbare Grundregeln aufzustellen. 

Gerade die ziemlich einfach erscheinende Entscheidung, die Maschine abzuschalten, wenn die Gehirnströme aufgehört haben, kann zu Mißverständnissen und Alarmrufen führen. Im Allgemeinen Krankenhaus in Massachusetts ist es beispielsweise eine Erfahrungsregel, die Geräte abzuschalten, wenn die Gehirnströme vierundzwanzig Stunden lang ausgesetzt haben und selbst durch laute Geräusche nicht stimuliert werden können und wenn der Patient keinen Herzschlag und keine Atmung mehr zeigt. Jetzt kann er für tot erklärt werden. Aber als Dr. Clarence Crafoord aus Schweden, einer der führenden Herz-Lungen-Chirurgen der Welt, im Mai 1966 einen ähnlichen Vorschlag machte, protestierte die Öffentlichkeit. Wahrscheinlich nahm man an, er wolle die Apparate abschalten, um die Organe der betroffenen Patienten für Transplantationszwecke zu verwenden. Er bezog sich natürlich nur auf hoffnungslose Fälle, aber es zeigt sich, daß ein gewisses Maß an Öffentlichkeitsarbeit notwendig ist.

Vor über einem Jahrhundert schrieb Arthur Hugh Clough mit bitterer Ironie: »Du sollst nicht töten. Du darfst selbst aber nicht darum kämpfen, am Leben zu bleiben.«

Er wollte damit die Zustände geißeln, die es erlaubten, daß Menschen an Unterernährung und mangelnder ärztlicher Hilfe starben. Heute sind seine Worte sehr viel wörtlicher zu nehmen. Dr. Gould, früherer Herausgeber der Zeitschrift <World Medicine> und jetzt Herausgeber des <New Scientist> erklärte: »Der bisherige Fortschritt in der medizinischen Technologie läßt vermuten, daß wir in nicht allzulanger Zeit verordnen müssen, die verschiedenen Pumpen, Arzneimittel und Prothesen, die einen Menschen auch nach seiner natürlichen Lebensspanne am Leben erhalten können, zu entziehen, wenn der Patient eine gewisse Altersgrenze erreicht hat.«


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   6  Menschliche Symbiose   

 

Eine vor kurzem gemachte Entdeckung wird sicherlich besondere ethische Probleme aufwerfen. 1967 wurde die These aufgestellt, daß man Leben erhalten kann, wenn man den Blutkreislauf eines kranken Organismus mit dem eines gesunden verbindet. Am Bio-Forschungsinstitut in Cambridge vereinigten drei Forscher den Blutkreislauf von gesunden Hamstern mit dem von syrischen Hamstern, die an einer vererbten Herzkrankheit litten. Die kranken Tiere gehörten einem Inzuchtstamm an, der unter dem Namen BIO 14,6 bekannt ist, und der im Alter von 90 Tagen sich durch Blutstauungen einen Herzfehler zuzieht und nur 150 Tage alt wird. Bei der Autopsie stellte man Sekretionsansammlung und Blutandrang in Leber, Lunge und anderen Organen fest, genau wie bei menschlichem Herzversagen. Überdies läßt sich der Sekretionsandrang genauso behandeln wie menschliche Herzfehler, woraus man schließt, daß man durch Untersuchung dieser Tiere auch etwas über menschliche Herzleiden lernen kann.

Die Forscher entdeckten, daß die kranken Tiere, die mit den gesunden zusammengekoppelt waren (man nennt diese Vereinigung Parabiose), sehr viel länger lebten als sonst. Insbesondere fanden sie keine Anschwellungen mehr infolge des Blutstaus. Die Krankheit selbst konnte nicht geheilt werden, aber diese Experimente lassen vermuten, daß das gesunde Tier in der Lage ist, die Symptome im kranken Tier zu unterdrücken.

Mehrere kanadische Ärzte unternahmen schon frühzeitig Versuche, ein ähnliches Verfahren auch in der Humanmedizin anzuwenden. An der medizinischen Fakultät der Washington University in Seattle wurde 1965 eine nierenkranke Frau mit einem an Krebs leidenden Mann verbunden, um zu untersuchen, inwiefern einer dem anderen helfen konnte. Die gesunden Nieren des krebsleidenden Mannes sollten dazu beitragen, die Giftstoffe zu zerstören, die die erkrankten Nieren des anderen Patienten nicht mehr zu entfernen vermochten. Umgekehrt sollte das Immunsystem der Patientin Antikörper gegen den Krebs ihres Leidensgefährten herstellen. Tatsächlich aber starben beide Patienten kurz hintereinander. 


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Dennoch konnte der Nieren-Patientin zunächst geholfen werden: sie war während der 50 Stunden des Verbundkreislaufes aus ihrem Koma aufgewacht, starb aber während der Gesundung an einem Blutgeschwür. Der krebsleidende Patient zog sich durch die Giftstoffe der Leber des anderen Patienten eine Gelbsuchtzu. Bei einem anderenFall einer Nierenpatientin wurde eine derartige Besserung ihres Zustandes erreicht, daß eine Transplantation möglich war (obwohl sie später an einer Infektion der Wunde starb). Hier war der Parabiose-Partner ein Leukämie-Patient; in einem analogen Fall hatte der Nieren-Patient nach einem Jahr keine Anzeichen einer Leukämie gezeigt; allerdings konnte der Leukämie-Patient nicht gerettet werden. 

Die ethische Seite solcher Experimente muß im heutigen Stadium der medizinischen Kenntnis dubios sein, denn es scheint zumindest wahrscheinlich, daß ein Patient den anderen schädigt. Der allgemeine Gesundheitszustand des Krebs-Patienten ist sicher durch die Anwesenheit der zusätzlichen Giftstoffe des anderen in seinem Blut verschlechtert worden. Da man die Anwesenheit von toxischen Substanzen im Blut von Krebs-Patienten nachgewiesen hat, ist es noch wahrscheinlicher, daß er selbst seinen Partner geschädigt hat.

Hier scheint die Parabiose zweier kranker Leute nur in einigen speziellen Fällen Vorteile zu bringen: z.B. könnte eine Person mit einer niedrigen Hormonausscheidung eine Zeitlang an eine Person mit übermäßig hoher Hormonproduktion angeschlossen werden, zum Vorteil beider. Dies könnte helfen, einen vorübergehenden Rückschlag zu überwinden, wie z. B. einen post-ope-rativen Schock. Die Parabiose eines Kranken mit einem Gesunden ist etwas völlig anderes, obwohl es einige Parallelen gibt zu dem Fall, daß ein Gesunder eine seiner beiden Nieren zur Verfügung stellt. In vielen Beziehungen liefert die Natur einen Überschuß, und es ist wahrscheinlich, daß ein Gesunder genug Hormone, Antikörper oder andere physiologische Substanzen produzieren kann, um den Mangel in einer kranken Person zu überwinden. Auf diese Weise könnte ein Gesunder den Tod eines Kranken unendlich lange hinauszögern — zweifellos aber zu dem Preis, daß er dauernd neben seinem Parabiose-Partner im Bett bleiben muß.

Ich kann mir keinen Arzt vorstellen, der von jemandem unter normalen Umständen solch ein Opfer verlangt, obwohl ich mir einige Menschen denken kann, deren starkes Pflichtgefühl eine solche Hilfe zu leisten fordert. Ich bin überzeugt, daß eines Tages entsprechende Heilmittel gefunden werden, um den Tod aufzuschieben. In Kriegs- oder Krisenzeiten gäbe es sicherlich starke Beweggründe, das Leben eines großen Politikers oder eines Wissenschaftlers, der an einem wichtigen Projekt arbeitet (man denke an die Atombombe während des letzten Weltkrieges), zu erhalten. 


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In einem autoritären Staat würde man es dem Bürger als nationale Pflichtübung auferlegen, einen Monat seines Lebens dem Diktator zu opfern, per Arzt oder Chirurg, der die Parabiose als eine zeitlich begrenzte Maßnahme einführt, wird moralisch vor dem Dilemma stehen, daß er dieses Unternehmen nicht mehr beenden kann, ohne den schwächeren Partner gleichzeitig zum Tode zu verurteilen. Gibt es dann eine Berechtigung für ihn, den Schwächeren zum Nutzen des Stärkeren zu opfern? Sollte er den Sachverhalt mit dem Opfer besprechen und sich dessen Einwilligung holen? Und was wäre, wenn dieses die Einwilligung ausdrücklich verweigert? Wiederum könnte der Stärkere dem Arzt die Verantwortung versagen, seinen Bluts-Bruder zu opfern. Auch kann man sich wohlhabende Leute vorstellen, die für einen solchen Dienst finanzielle Verlockungen bieten; wenige würden wohl — nur auf eigenes Interesse bedacht — ihre Freiheit dem Geld opfern; anders verhält es sich, wenn Kindern oder Verwandten Hilfe zu leisten ist.

Bis jetzt sind solche Fragen kaum diskutiert, geschweige denn beantwortet worden. Es gibt jedoch eine Methode, das Leben zu verlängern — vielleicht sogar auf begrenzte Zeit —, die alles bisher Beschriebene bei weitem übertrifft.

 

   7  Abgetrennte Köpfe   

 

Erst im Jahre 1963 wurde die Welt von Experimenten unterrichtet, die Dr. Robert J. White vom Städtischen Allgemeinen Krankenhaus in Cleveland zusammen mit seinen Mitarbeitern ausführte — Experimente, die zwanzig Jahre zuvor in Zukunftsromanen standen und die man als absurde und unmögliche Übertreibungen verspottete

Diesem medizinischen Team war es nach fünfjähriger Arbeit gelungen, das Gehirn eines Affen aus seinem Schädel zu entfernen und es sieben Stunden lang mit einem künstlichen Blutkreislauf am Leben zu erhalten. Die Aufzeichnungen der Gehirnströme waren zunächst annähernd normal, und die Tatsache, daß Sauerstoff verbraucht und Kohlendioxyd an den Blutkreislauf abgegeben wurde, schien zu beweisen, daß das isolierte Gehirn noch lebte. 

Kurz danach berichteten drei Chirurgen aus Wisconsin von ähnlichen Experimenten, bei denen 15 Hunde enthauptet und ihre Gehirne am Leben erhalten wurden. Schon in diesem Stadium wurden Befürchtungen über die ethische Seite dieser Arbeiten laut. Die Zeitschrift: >New Scientist< bemerkte, die Ärzte hätten die Möglichkeit in Erwägung gezogen, daß die überlebenden Gehirne dieser Tiere Schmerzen wahrnehmen könnten, und hätten bei dem freiliegenden Gewebe am Hals ein lokal-wirkendes Betäubungsmittel angewendet.


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Die Zeitschrift fügte hinzu: »Aber die physischen Schmerzen, die ein vom Körper losgelöstes Gehirn erleiden könnte, sind nicht die einzigen Qualen. Es gibt für die Biologen die dringende Notwendigkeit, eine Regelung zu treffen, die solche Experimente überwacht.« Im Jahre 1966 waren diese Experimente schon ein oder zwei Grade weiter fortgeschritten. Zunächst entdeckte das Team aus Cleveland, daß das Blut durch die Herz-Lungen-Maschine, die sie benutzten, sehr leicht geschädigt wurde. Sie entwickelten ein neues Verfahren, um Gehirne zu isolieren, indem sie sie mehrere Stunden lang auf 2° bis 3°C abkühlten und danach an das Blutkreislaufsystem eines zweiten Hundes anschlössen. Durch Überwachung ihrer Gehirnströme und des chemischen Gasumsatzes konnten sie nachweisen, daß die Gehirne lebten. Sie hielten die Köpfe über einen Zeitraum von zwei Tagen am »Leben«.

In der nächsten Phase entfernte das Team den gesamten Kopf und hielt ihn auf die gleiche Art am Leben. Sie bemerkten, daß sich bei Lichteinwirkung die Pupillen der Augen kontrahierten, und stellten ein »regelmäßiges Keuchen« fest. Sie schlossen daraus: »Diese Befunde zeigen, daß nicht nur die einzelnen Nervenzellen im Gehirn lebten, sondern daß auch, zumindest zum Teil, das Gehirn als ganzes Organ gesehen funktionierte.« Die elektrischen Impulse dieser Gehirne konnten sechs Stunden lang aufrechterhalten werden; nach zwölf Stunden wies man in keinem Fall mehr Gehirnströme nach.

Bei diesen Experimenten wurden die Tiere »entweder in einem leicht narkotisierten Zustand oder bei vollem Bewußtsein gehalten«. Waren ihre Gehirne bei vollem Bewußtsein? Dr. White weist darauf hin, daß der Zustand des Bewußtseins mit großer Sicherheit davon abhängt, ob die Signale aus den verschiedenen Teilen des Körpers vom Gehirn wahrgenommen werden, und daß es unwahrscheinlich ist, bei abgetrenntem Körper Bewußtsein im herkömmlichen Sinne zu empfinden. Dies ist aber keineswegs die allgemeine Ansicht der Psychologen. 

Dr. Peter Stubbs, der diese Arbeiten im >New Scientist< rezensierte, vertritt die Meinung, daß »diese Art von Mutmaßungen nur schwer zu vertreten ist. Der Mechanismus und der Charakter des Bewußtseins sind überhaupt noch kaum verstanden, und die Alptraum-Situation, die — selbst wenn nur schwach angedeutet — in einem vom Körper abgetrennten Gehirn entstehen könnte, läßt wenig Spielraum für solche Experimente.«

Dr. White besuchte 1966 England, und während seines Aufenthaltes hatte er im Fernsehen ein Interview mit Dr. Donald Gould, dem Herausgeber der Zeitschrift >World Medicine<. Er verriet, daß die Dauer dieser Experimente durch ihr neues Verfahren nun auf mehrere Tage ausgedehnt worden sei. 


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Der Blutkreislauf eines Tieres ernähre dabei das isolierte Gehirn eines anderen. Dr. Gould stellte ihm die Frage, die wahrscheinlich für den interessierten Zuschauer die größte Bedeutung haben mußte: »Würde es möglich sein, ein menschliches Gehirn auf diese Weise am Leben zu erhalten?« Dr. White antwortete: »Es steht außer Frage, daß dies im Rahmen der Leistungsfähigkeit unseres Labors möglich ist.« Er fügte hinzu, daß dies tatsächlich leichter wäre, als das Gehirn von Affen zu erhalten, denn für Menschen gibt es schon die vollständig entwickelten Herz-Lungen-Maschinen. Auf die Frage, ob dies nicht ein schreckenerregender Gedanke sei, entgegnete er: »Nachdem ich über dieses Thema mit religiösen Gruppen gesprochen habe, war ich überrascht, daß sie diese Experimente nicht stärker verurteilten. In den neunziger Jahren oder am Ende unseres Jahrhunderts«, fuhr er fort, »wird dieser Gedanke nicht mehr so abschreckend sein.«

Donald Gould kam vor Interviewschluß nochmals auf die Kernfrage zurück, und Dr. White antwortete: »Es besteht ganz sicher die Möglichkeit, ein menschliches Gehirn am Leben zu erhalten«, doch würde er selbst keine solchen Experimente in Betracht ziehen aufgrund der damit verbundenen »gesellschaftlichen Verwicklungen«. Er erklärte nicht, ob er damit die Kritik meinte, die er auf sich ziehen könnte, oder eigene Gewissensbisse oder vielleicht sogar die Erwägung, ob es eine moralische Verpflichtung gibt, die Persönlichkeit eines Menschen so lange wie möglich zu erhalten, wenn sein Körper vom Tode bedroht ist.

Wenn auch die erste Reaktion auf solche Experimente ein allgemeines Entsetzen ist, so sollte man dabei bedenken, daß sich daraus vielleicht bedeutende Folgen für die Gehirnchirurgie ergeben könnten. Die Versuche lassen klar erkennen, daß das Gehirn ein weit weniger empfindsames Organ ist, als man gewöhnlich vermutet, und daß tiefgreifendere Gehirnoperationen als bisher ausgeführt werden könnten. Vielleicht kann man sich im Geiste schon den Tag vorstellen, an dem ganze Teile des Gehirns, die durch einen Tumor oder eine Embolie beschädigt wurden, erneuert werden — besonders deshalb, weil es im Gehirngewebe keine Immunreaktion gibt. Der Gebrauch von Tieren zu experimentellen Zwecken ist alltäglich, obwohl einige Länder darauf bestehen, den Tieren keine Schmerzen zuzufügen. Es ist allzu menschlich, stets das Komplizierteste aufzugreifen. Sollte die geschilderte Technik eingeführt werden, so gibt es sicherlich Menschen, die nach einer derartigen Form des Überlebens verlangen, wenn sie kurz vor dem Tod, vor einer Lähmung oder vor unerträglichen Schmerzen stehen. Man könnte geradezu argumentieren, daß für Ärzte die Verpflichtung entsteht, auch auf diese Weise Leben zu verlängern.


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Überdies stellt sich die Frage, ob ein Arzt nicht zum Mörder wird, wenn er ein Gehirn, das er einst am Leben erhielt, plötzlich absterben läßt. Wüchse die Anzahl der so am Leben erhaltenen Gehirne beträchtlich an, sähen sich die öffentlichen Behörden eines Tages der neuen Belastung ausgesetzt, ihre Unterhaltung garantieren zu müssen.

Der >New Scientist< bemerkte hierzu: »Wir sollten innehalten und zunächst einmal erwägen, welche Folgerungen sich in absehbarer Zeit aus den bemerkenswerten technischen Verbesserungen ergeben, von denen Dr. White berichtet. Welche Träume, welche Schmerzen könnte ein vom Körper abgetrenntes Gehirn empfinden, ohne daß das stumme Organ fähig wäre, sie auszudrücken? Wie lange dauern Bewußtsein und Individualität auf diesem Weg noch an, und an welchem Punkt wird der Eigentümer des Gehirns für tot erklärt?«

Gleichzeitig wurde die Frage nach der Fortsetzung derartiger Experimente gestellt: »An welcher Stelle zwischen den gegenwärtigen Experimenten und den weitreichenden Entwicklungsmöglichkeiten der Versuche, aktiven menschlichen Verstand in einer Flasche aufzubewahren, sollten wir Einhalt gebieten? Wir sollten uns auch erinnern, daß es sich hierbei nur um ein weiteres Beispiel der auf vielen Gebieten bemerkenswert aufblühenden Technik handelt, die von Prothesen bis zu chromosomalen Manipulationen reicht und die ungeheure Möglichkeiten für das Wohl der Menschheit bietet, aber auch eine Verhöhnung der Natur zuläßt.«

Gerade diese Vergewaltigung der Natur ist das naheliegende Ergebnis solcher Experimente. Durch verbesserte Techniken in der Zellkur könnte es möglich werden, vollständige Gehirne aus Bruchstücken von nervigem Gewebe zu entwickeln, und der Fortschritt der Elektronik und der Prothesentechnik versieht sie vielleicht sogar mit Sprachorganen. Oder es wäre denkbar, Sprachorgane zusammen mit dem Gehirn zu transplantieren, zum Beispiel bei Kopftransplantationen. Noch einfacher wäre es, Augen und Ohren hinzuzufügen. Eines Tages würden wir uns mit einem Gehirn unterhalten, das aus rein künstlichen Mitteln erhalten wurde, und wir könnten herausfinden, ob es sich in wesentlichen Punkten von unserem eigenen unterscheidet. 

 

    8  Unsterblichkeit?   

Wieviel Gewicht können wir unter Berücksichtigung all dieser Tatsachen auf die Aussicht nach wirklicher Unsterblichkeit legen? Der Gedanke ist keineswegs lächerlich, obwohl viele Menschen zu diesem Urteil neigen. Der Tod ist eher eine durch die Entwicklung als durch die Biologie bedingte Notwendigkeit. Es gibt einige primitive Lebewesen, die im Grunde genommen unsterblich sind. Ein Beispiel für ein unsterbliches Lebewesen findet sich unter den uns allen bekannten Quallen

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Die Qualle entsteht aus einem Stummel, der unter dem Namen Ephyra-Larve bekannt ist, und dieser Stummel scheint, obgleich jedes Tier nur ein beschränktes Leben hat, unendlich lange weiterzuleben. Der Zelltod ist also nicht unvermeidlich. Der Tod wurde nur deshalb ein Bestandteil im Lebensablauf, weil die Entwicklung Geschöpfe begünstigte, die wieder sterben, nachdem sie ihr Fortpflanzungsalter überschritten haben; denn nur so können die Spezies durch die natürliche Selektion modifiziert werden, um sich veränderten Umweltsbedingungen anzupassen.

Lebewesen, die ewig leben würden und sich nicht fortpflanzen könnten, erreichten mit der Zeit einen nur unvollkommenen Entwicklungsstand. Sir George Pickering drückt dies so aus: »Es ist eine Folge des Todes, wenn der Mensch — soweit dies zutrifft — eine Fortentwicklung der Affen ist... Eine neue Spezies, ob besser oder schlechter, kann nur mit einem neuen Leben beginnen.« Selbst wenn der Zelltod nicht ganz verhindert werden kann, böte der Ersatz der erschöpften Teile durch Transplantate eine unbegrenzte Möglichkeit der Lebensverlängerung. Die Verhinderung der Altersschwäche stellt also das eigentliche Problem dar, wie wir gesehen haben.

Die sich aus der Unsterblichkeit ergebenden Folgen wären jedoch für die Gesellschaft so gefährlich, daß es zu verheerenden Auswirkungen käme, wenn man solch eine Errungenschaft — außer in seltensten Fällen — anwenden würde. Wenn die Menschen ewig lebten (oder auch nur sehr lange lebten), stiege die Bevölkerungszahl explosionsartig an, es sei denn, jegliche Zeugung hörte auf. Es ist jedoch unvorstellbar, daß die menschliche Rasse den Zeugungsvorgang abschaffen wollte, bedeutet er doch eine Gewohnheit, zu der die Menschheit instinktiv getrieben wird und von der sie eine Bereicherung ihrer Gefühlswelt erfährt. Der wirkliche Zusammenhalt der Gesellschaft hängt vielleicht tatsächlich von den Lehren ab, die man durch das Kind-Eltern-Verhältnis vermittelt bekommt. Im Grunde genommen wissen wir überhaupt nichts über die Soziologie einer Gesellschaft oder auch nur einer großen Gesellschaftsgruppe, die vorwiegend und in zunehmendem Maße aus alten Menschen zusammengesetzt ist — alt in Hinsicht auf Erfahrung, Zynismus, Blasiertheit, alt aber auch in Hinsicht auf Gewebe und Stoffwechsel.

Erteilen wir dem Menschen einmal die Macht, das Leben unbegrenzt ausdehnen zu können, so erteilen wir ihm auch umgekehrt die Macht, das Leben zu beenden. 

Als junger Mann besuchte ich einmal eine alte Dame, die 108 Jahre alt war. Sie war schon 23 Jahre lang bettlägerig und lebte von der Mildtätigkeit eines Enkelkindes, dessen einziges kleines Zimmer sie mitbewohnte. Nachdem wir eine Weile miteinander geplaudert hatten, brach es aus ihr hervor: »Warum kann ich nicht sterben? Warum nimmt mich Gott nicht endlich zu sich? Ich bin eine Last für meinen Enkel und eine Last für mich selbst. Ich liege die ganze Zeit nur hier und bete, daß ich sterbe.« 

Es gibt andere, die mit 60 Jahren oder etwas später damit anfangen, das Leben fade und langweilig zu finden. In der Vergangenheit wurde dem ewigen Juden die Strafe der Unsterblichkeit auferlegt.

Wer weiß, was es für jemanden bedeutet, 150 Jahre alt zu werden?

Solange die Langlebigkeit nur durch Spezialbehandlung erreicht wird, kann ein Lebensüberdrüssiger diese Behandlung unbeachtet lassen. Die Lebensverlängerung als Folge der medizinischen Vermittlung dagegen ist nicht außer Kraft zu setzen, denn wir haben schon gesehen, wie diese »Lebens-Maschinen« eine Art »erzwungenes Weiterleben« aufbürden können. 

Ich schließe daraus, daß wir unsere Haltung zum Selbstmord und zur Euthanasie ändern müssen. 

Das bedeutet natürlich nicht, daß wir Selbstmord und Euthanasie uneingeschränkt gutheißen. Die Möglichkeit, daß man sich um eine amtliche Sterbegenehmigung bewerben muß, könnte ins Auge gefaßt werden. Gewissen Menschen müßte eine natürliche Vorzugsstellung eingeräumt werden, wie Dr. Murray Tondon von der Universität Stanford betont hat. Der Staat wird vielleicht nur widerwillig erlauben, daß seine hervorragendsten Wissenschaftler, Verwaltungsfachleute oder sogar Künstler aus dem Leben scheiden. 

Durch die Anstrengungen, Leben um jeden Preis erhalten zu wollen, könnte der Versuch zu sterben zu einem der schrecklichsten Dramen werden, und das Recht auf Tod muß vielleicht eines Tages als eines der fundamentalsten Menschenrechte verteidigt werden.

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Gordon Rattray Taylor   Die Biologische Zeitbombe