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5 - Die manipulierte Seele 

 

1 Gemütskontrolle  -  2 Wie funktioniert das Gedächtnis?   3 Intelligenz für jedermann   4 Leben ohne Schmerz    5 Psyche nach Wunsch

 

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»Jedermann beklagt sein schlechtes Gedächtnis, aber niemand regt sich ernsthaft über seine mangelnde Urteilskraft auf.« Dieser Ansicht war jedenfalls der französische Moralist La Rochefoucauld. Wahrscheinlicher ist, daß man beides gern verbessern würde, und es sieht heute so aus, als ob das auch möglich sei. Ob die Menschheit dann wesentlich glücklicher sein wird, davon bin ich allerdings weniger überzeugt. 

In der Erforschung unserer Gehimfunktionen stehen wir jedenfalls an der Schwelle einer neuen Ära, und mehrere Forscher vertreten die Meinung, daß während der nächsten fünfzig Jahre die tiefgreifendsten Entdeckungen auf dem Gebiet der Neurophysiologie zu erwarten sind. 

Unter den zahllosen Forschungsrichtungen auf diesem Gebiet ragen drei durch ihre aufregenden Ergebnisse besonders heraus. Dazu gehören vor allem die wachsenden Möglichkeiten, die unwillkürlichen Funktionen unseres Gehirns zu beeinflussen: es ist uns gelungen, Stimmungen und Gefühle zu verändern. Diese Entwicklung wurde überhaupt erst möglich, nachdem man erkannt hatte, daß unser Gehirn kein einfaches computerähnliches Gebilde, sondern ein mindestens ebenso komplexes chemisches System darstellt. 

Weiter hat man sich mit viel Optimismus auf die Erforschung der mit dem Gedächtnis zusammenhängenden Probleme gestürzt, und schließlich besteht begründete Hoffnung, den Intelligenzquotienten künftiger Generationen beträchtlich anzuheben, wobei jedoch einzuschränken ist, daß die »Intelligenzpille«, die uns alle innerhalb einer Woche zum Genie macht, ein Hirngespinst bleibt. 

Bereits vor zehn Jahren ahnte Professor Jean Rostand die außerordentliche Bedeutung der ersten Versuche, die Seele zu manipulieren, wie wir es einmal nennen wollen. Mit gallischem Scharfsinn erläuterte er seine Vorstellungen: »Besondere Hormone oder andere chemische Verbindungen werden die geistige Kapazität des Menschen vergrößern, seinen Charakter stärken und ihn zu Höchstleistungen befähigen. Vielleicht wird man schon bald Denkschärfe oder Demut und Keuschheit beim Apotheker kaufen können, etwa so, wie der Schönheitssalon schon heute Frauen zu einer geraden Nase oder einem tiefen Blick verhilft.« 

Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich die neuen ethischen Probleme vorzustellen, die mit der Regulierung des moralischen Empfindens durch Pillen verknüpft sind. 

Sämtliche Lebensbereiche, angefangen bei der Politik über die Wirtschaft bis hin zu einem möglichen Krieg, würden tiefgreifend beeinflußt werden, selbst wenn wir Mißbrauch ausschließen. Allein eine Hebung des Intelligenzquotienten bedeutet eine Veränderung der tief verwurzelten Schemata zwischenmenschlicher Beziehungen. Wenn etwa alle Leute intelligenter wären, könnten wir uns sämtliche gegen den menschlichen Unverstand getroffenen Maßnahmen ersparen. Käme dagegen nur eine Minderheit in den Genuß höherer Intelligenz, so würde eine Elite gezüchtet, die mit unserem Verständnis von Demokratie nicht zu vereinbaren ist. Eine Steigerung der Gedächtniskapazität oder die Entwicklung gefertigter Gedankenspeicher machte die Umstrukturierung unseres ganzen Unterrichtssystems erforderlich, das sich bislang wesentlich auf das Einpauken von Fakten beschränkt.

Die Erforschung der seelischen Regungen, das Problem der künstlichen Intelligenz und das Funktionieren des Gedächtnisses sind heute Forschungszweige von höchster Aktualität. Ferner gibt es Gebiete, die noch im Stadium des Faktensammelns sind, die aber schon in naher Zukunft in ähnlich dramatischer Weise auf unser Leben einwirken können.

Wenn uns bereits die Fortschritte verwirren, die auf dem Gebiet der biologischen Funktionsweise unseres Körpers gemacht werden, in welchem Maße muß uns erst ein detailliertes Verständnis der Vorgänge im Gehirn beunruhigen. Unsere Gesellschaft hat sich eher irrational auf eine bestimmte geistige Kapazität des Menschen eingestellt. Jede Änderung eines ihrer Parameter wie Intelligenz, Gedächtnis, Gefühlstiefe oder Urteilsfähigkeit, wirft nie dagewesene Probleme auf. Würde der Mißbrauch dieses Wissens über Beeinflussung und Kontrolle anderer nicht logischerweise zu einer Diktatur führen? Wir sollten uns vor allem nicht allein mit dem Stand der Forschung auf einem bestimmten Gebiet befassen, sondern prüfen, ob der Optimismus (wenn das der richtige Ausdruck ist) der Wissenschaftler überhaupt gerechtfertigt ist. Wenn wir allerdings diesen Optimismus teilen, dann stellt sich die Frage: wie wird die Gesellschaft auf diese Umwälzungen vorbereitet?

Im Mittelalter konnte man sich überhaupt nicht vorstellen, daß unser Gehirn, diese Handvoll schwabbeligen Gelees, etwas mit unseren Gedanken, Gefühlen, Entscheidungen und dem Gedächtnis zu tun haben könnte. Es war einfacher, dort nur den Sitz der unsichtbaren Seele oder des Geistes anzunehmen. Von hier sollten die Befehle in den Körper weitergeleitet werden, der dann entsprechend reagiert. 


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Einige meinten indessen, das Gehirn habe damit überhaupt nichts zu tun; sie verlegten den Verstand in den Magen. Daß Gefühle vom Herzen ausgehen, bezweifelte eigentlich niemand ernsthaft, und in Form vieler Redewendungen ist diese Ansicht überliefert.

Vielleicht kann man die Einsicht, daß unser Gehirn so etwas wie eine Denkmaschine darstellt, als die größte Entdeckung dieses Jahrhunderts betrachten; wie unsere Gefühle entstehen oder die Speicherung eines Begriffs vor sich geht, ist damit zwar nicht geklärt, aber daß der Anstoß vom Gehirn erfolgt, ist ganz sicher.

Welche Beziehungen zwischen den Hirnstrukturen und ihren Funktionen bestehen, muß nun im einzelnen untersucht werden.

Die Erfindung des Computers ließ uns das Funktionieren des Gehirns besser verstehen. Hier haben wir eine Maschine vor uns, die aus vielen identischen Bauelementen besteht, die durch Drähte miteinander verbunden sind. Im frühen neunzehnten Jahrhundert zeigten Anatomen wie der Spanier Ramon y Cajal, daß unser Gehirn nicht nur aus tausenden, sondern aus mehreren hundert Millionen Neuronen besteht, die untereinander verbunden sind und die, wie sich später herausstellte, die Schaltfunktionen ausführen. Die Art und Weise, wie elektrische Signale durch dieses System weitergeleitet werden, ist damit klarer geworden, wobei man allerdings einschränkend bemerken muß, daß wir gerade erst begonnen haben, dieses komplexe Netzwerk zu entwirren. 

Das Gehirn ist in erster Linie als ein außerordentlich komplizierter Computer anzusehen, oder wie sich W. Nata ausdrückte, handelt es sich hier um die Kombination von vier Computer-Arten: Einer registriert die Signale, die von der Umwelt stammen, und legt gleichzeitig die Wichtigkeit der .Information fest. Man bezeichnet das als Eingabeeinheit. Eine zweite Einheit ist für das Funktionieren des Körpers verantwortlich, und schließlich gibt es noch eine Recheneinheit, die wegen ihrer Wichtigkeit gleich in doppelter Ausführung zur Verfügung steht, ähnlich wie bei Fluggesellschaften, die das Ausschreiben von Flugkarten von zwei Leuten besorgen lassen, die sich gegenseitig kontrollieren. In diesem Teil des Gehirns scheint auch das Gedächtnis lokalisiert zu sein. Schließlich gibt es noch einen Computer, der für unsere Gefühle sowie für das Triebleben (Hunger, Durst oder Sex) verantwortlich ist.

Vertieft wurde unser Verständnis vom Funktionieren des Gehirns durch Forschungsergebnisse, die kaum älter als zehn Jahre sind. Es konnte nämlich gezeigt werden, daß auch chemische Vorgänge eine große Rolle spielen. Bestimmte Teile reagieren sehr genau auf Instruktionen, die in Form chemischer Verbindungen mit den Körperflüssigkeiten herangebracht werden. Darüber hinaus werden Substanzen wie Ganglioside, Cerebroside und Sphingomyelin gebraucht, deren Funktion noch weitgehend ungeklärt ist.


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Die Hirnzellen ihrerseits geben Verbindungen ins Blut ab, die sogenannten Neurohormone, die andere Teile des Gehirns stimulieren oder deren Aktivität hemmen. Für den berühmten Neurophysiologen Sherrington, der 1952 starb, war das Gehirn nichts anderes als ein sehr komplexes elektrisches Relaissystem, und dementsprechend beschäftigte man sich in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen ausschließlich mit der Erforschung von Analogien zur bekannten elektrischen Spaltungstechnik. Man reizte etwa bestimmte Zentren und registrierte die dadurch ausgelösten Spannungsdifferenzen und die elektrischen Ströme. Heute beschäftigen sich die Physiologen weitgehend mit den biochemischen Mechanismen, die für diese Phänomene verantwortlich sind. Sie injizieren etwa irgendwelche Verbindungen, um Wirkung und Verteilung im Körper zu studieren. In zunehmendem Maße werden Substanzen synthetisiert, die erst mit dem Blutstrom zu ihrem Wirkungsort, dem Gehirn, transportiert werden.

Jede neue Entdeckung gibt uns ein immer komplexeres Bild von den Gehirnfunktionen, und es kann noch fünfzig oder mehr Jahre dauern, bis wir alle Details verstanden haben. Aber schließlich muß man eine Sache nicht vollständig kennen, um sie zu beeinflussen, und die ersten Früchte der Gehirnforschung werden bald reifen; andere wurden bereits geerntet. Die vielleicht noch etwas tastenden und oberflächlichen ersten Unter­suchungen brachten neue Methoden hervor, die ihre praktische Bedeutung auf dem Gebiet der Bewußtseinskontrolle bereits bewiesen haben.

 

    1   Gemütskontrolle   

 

Daß man die Gemütslage eines Menschen durch Chemikalien beeinflussen kann, ist eine alte Erfahrung. Schon früh hat man diese Eigenschaft bei Alkohol sowie bei Efeu und anderen Pflanzen entdeckt. Möglicherweise war das auch die Ursache der sagenhaften Berserkerwut. Aphroditisch wirkende Düfte und Tränke müssen schon sehr früh verwendet worden sein; ebenso Drogen mit erotisierender Wirkung, die aus Pflanzen gewonnen wurden. Im Jemen etwa wurde aus Knospen und Blättern einer Pflanze mit dem Namen Catha edulis ein Präparat gewonnen, mit dem man einen schwunghaften Handel trieb. Diese Droge regt das Zentralnervensystem an, erzeugt ein Glücksgefühl und unterdrückt den Hunger. Gleichzeitig macht sie aber apathisch, und bei häufigem Genuß kommt es zu Herzbeschwerden. 


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In Gabun kaut man Iboga aus der Pflanze fabernanthe iboga, um die Müdigkeit zu vertreiben. Sie enthält zwei Alkaloide unbekannter Struktur {Ibogain und Iboganin), die noch nicht genauer untersucht worden sind. 

Möglichkeiten, das Gemüt zu beeinflussen, sind also schon lange bekannt, und es ist wirklich erstaunlich, daß sich die Wissenschaft dieser Sache erst jetzt annimmt. 

Im Jahre 1947 bat der berühmte englische Chemiker Robert Robinson die Schweizer Arzneimittelfirma CIBA, für ihn Ajmalin herzustellen, das von der CIBA nach Kriegsende neu isoliert und im Oktober 1946 als biologisches Prüfungspräparat abgegeben worden war. Man wußte nämlich, daß die pulverisierte Wurzel einer Rauwolfia-Art (Sarpaganda) in Indien gegen Herzkrankheiten gegeben wird, und man konnte zeigen, daß Ajmalin die eigentliche Wirksubstanz ist. Neben einer blutdrucksenkenden Wirkung schien diese Verbindung allgemein den Patienten zu beruhigen. 

Schon bald versuchte Dr. Nathan Kline vom >Rockland State Hospital< in New York, Gemütskranke mit diesen Substanzen zu behandeln, und erzielte gute Ergebnisse. Anfangs wurden seine Veröffentlichungen milde belächelt. Die Schulpsychiatrie war damals der Ansicht, daß Geisteskrankheiten die Folge frühkindlicher Erfahrungen sind und daher nicht mit Medikamenten behandelt werden können. Aber schließlich stellte sich heraus, daß Dr. Kline die ersten Beruhigungsmittel eingeführt hatte, die heute allgemein unter dem Namen >Tranquilizer< bekannt sind.

In den letzten zwanzig Jahren haben sich im wesentlichen drei Gruppen von Drogen bewährt, die auf irgendeine Weise das Gehirn beeinflussen: Die Analeptika oder Stimulantia, wie etwa Pipradrol, das gegen Depressionen verordnet wird. Man kann damit beim Patienten oft euphorische Zustände und Glücksgefühle auslösen, ohne den Appetit oder die normalen Schlafgewohnheiten zu beeinflussen. Ferner wurden Muskelrelaxantien und Tranquilizer wie Megaphen und Meprobamat sowie Halluzinogene entdeckt, von denen das LSD-25 nur allzu beliebt ist. Daneben kennen wir heute Antiepileptika, mit deren Hilfe man die von Krämpfen begleiteten Anfälle mildern und die Häufigkeit ihres Auftretens vermindern kann. Anfälle von Petit-mal-Charakter behandelt man mit Tridione, während bei den sogenannten Grand-mal-Anfällen Diphenylhydantoin gegeben wird.

Man sollte vielleicht hinzufügen, daß Tranquilizer nicht nur die überreizten Nerven von Managern beruhigen. In hohen Dosen verordnet, kann man Tobsüchtige zur Ruhe bringen, während bei niedriger Dosierung ältere Patienten unternehmungslustig und kontaktfreudiger werden. Favistan beispielsweise zügelt die motorische Unruhe von Hyperthyreodikern (Leute mit Schilddrüsenüberfunktion), und Verbindungen wie Azacycloriol blockieren psychotische Erlebnisse, die etwa von LSD-25 ausgelöst wurden.


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Natürlich ist damit die Entdeckung von Psychopharmaka nicht beendet. Erst wenn die Chemie unseres Gehirns besser aufgeklärt ist, kann eine intensivere und gezieltere Untersuchung unserer Psyche in Angriff genommen werden. Heute ist die Wirkung dieser Drogen oftmals nicht zu reproduzieren. Es kommt vor, daß sie bei wenigen Patienten aufsehenerregende Wirkung haben; bei der Mehrzahl dagegen ist die Wirkung schwach, und bei einigen überhaupt gleich Null. Woran das liegt, ist noch unbekannt. Auch wirken sie auf normale Leute anders als auf Psychopathen. Eine bestimmte Dosis eines Tranquilizers, zum Beispiel Megaphen, kann vielleicht einen Schizophrenen beruhigen, sein Denken anregen und die Halluzinationen verdrängen, während es bei einem normalen Menschen Betäubung, Müdigkeit und Unwohlsein hervorruft. 

Wir sind heute noch nicht in der Lage, Drogen zu synthetisieren, die nur die gewünschten Effekte zeigen; das ist das Ziel, dem die Forschung auf diesem Gebiet zustrebt. Vielleicht sind wir schon auf dem besten Wege, um Geisteskrankheiten wirksam zu bekämpfen. Erfolge, die man bei der Behandlung von Schizophrenie und Depressionen erzielen konnte, werden vom Laien kaum gewürdigt. Bis vor etwa zwölf Jahren nahm die Zahl der Geisteskranken laufend zu. Die Einführung neuer Psychopharmaka führte erstmals zu einer Abnahme dieser Patientengruppe.

Inwieweit die Schizophrenie rein chemische Ursachen hat, ist auch heute noch Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen. Es gibt Wissenschaftler, wie etwa Dr. H. Osmond vom >Prince-ton Neuropsychiatric Service's Divisional Research Center<, die davon felsenfest überzeugt sind. Die älteren Fachkollegen sind dagegen skeptischer, doch fand man erst kürzlich eine neue Substanz, Huphenazinenanthat, die man alle zwei bis vier Wochen injizierte, um auf diese Weise die Symptome der Schizophrenie bis zu vier Wochen lang unter Kontrolle zu halten. Es sieht so aus, als ob wir mit der Zeit in der Lage sein werden, den Menschen mit den Psychopharmaka nicht nur verrückt zu machen, sondern ihn auch zu heilen.

Menschen werden nicht länger lustig oder traurig, liebenswürdig oder aggressiv, faul oder fleißig, ruhig oder ängstlich sein, bloß weil diese Eigenschaften ererbt oder durch besondere Umstände erworben wurden. In Zukunft werden derartige Merkmale auftreten, nachdem man die entsprechende Pille genommen hat. Die Humanisten werden dagegen einwenden, daß mit dem Ausschalten verschiedener unerwünschter Stimmungen und Umweltserfahrungen ein Faktor zur Formung der Persönlichkeit verlorengeht. 


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Der Mensch könnte seelisch verarmen, wenn man ihn vor unverfälschten und elementaren Emotionen schützt. Doch besitzen gerade zurückgezogen lebende Menschen mit wenig Abwechslung eine besondere Gefühlstiefe und Erlebnisfähigkeit, die sie auf andere Weise nie erfahren hätten — ein Versinken in die Nachtseite unserer Seele, vergleichbar dem Entzücken, als erster einen neuen Ozean zu erblicken. Solche Menschen sind möglicherweise innerlich reicher und eher in der Lage, die Gefühle anderer nachzuvollziehen, da sie ähnliche Erfahrungen durchmachten. Für die Gesellschaft mag es vielleicht verwirrend sein, nicht mit Sicherheit zu wissen, ob eine Person wirklich sie selbst ist. 

Es ist irgendwie unangenehm, sich mit einem Betrunkenen oder, was noch schlimmer ist, mit einem Geisteskranken abzugeben, denn die Gesellschaft hält für solche Situationen keine verbindlichen Verhaltensmuster parat. Beleidigungen, die wir einem nüchternen Menschen verübeln, sehen wir einem Betrunkenen nach. Wenn uns ein Geistesgestörter zu irgend etwas überreden will, nehmen wir es nicht sonderlich ernst. Wollen wir dagegen einen Geisteskranken überzeugen und müssen erkennen, daß unsere Argumente gerade das Gegenteil bewirken, so sind wir irritiert und fühlen gleichzeitig unsere Schwäche. Wahrscheinlich ist das der ausschlaggebende Faktor bei der Beurteilung von Drogen, die das Verhalten der Menschen verändern. Wenn man die Erfahrungen der letzten Jahre zum Maßstab nimmt, so wird die Gesellschaft auch in Zukunft den Gebrauch der meisten Drogen verbieten, außer sie werden vom Arzt verschrieben. Die bereits erwähnten Tranquilizer, die früher frei verkäuflich waren, sind heute wieder verschreibungspflichtig. Die relativ harmlosen Halluzinogene wurden ebenfalls verboten.

Als Argument für das Verbot wird die damit verbundene Veränderung der Verhaltensweise angeführt, die zum Beispiel zu Verkehrsunfällen führen kann. Aber das trifft natürlich auch für Alkohol zu, und trotzdem verbieten wir ihn nicht. Wir schränken den Verkauf an Jugendliche ein und erlassen besondere Vorschriften für Autofahrer, da die Sicherheit anderer mitbetroffen ist. Die Bereitwilligkeit, mit der die Gesellschaft gegen Drogen vorgegangen ist, die wohl persönlichkeitsverändernd wirken, aber nicht süchtig machen, spiegelt eine tiefverwurzelte, unbewußte Angst wider. Daß man sich wesentlich mehr Zeit läßt, wenn es um ein Verbot von weit gefährlicheren, gar lebensgefährlichen Substanzen geht, zeigt, daß unsere Motive weniger selbstlos sind, als sie im ersten Moment scheinen. Kürzlich sagte Dr. Heinz Lehmann von der McGill University die Entdeckung einer Droge voraus, die Aggressionen abbaut, also eine Anti-Aggressionspille. Eine derartige Pille würde eine ganze Reihe von ethischen und sozialen Problemen aufwerfen. 


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Er dachte dabei wahrscheinlich an die Arbeiten von Seegmiller, Rosenbloom und Kelly am National-Institut zur Bekämpfung von Arthritis und Geisteskrankheiten. Dieses Wissenschaftlerteam zeigte, daß eine Überproduktion von Harnsäure durch das Fehlen eines Enzyms (Hypoxanthin-Guanin-Phosphoribosyl-Transferase) verursacht wird, das jedoch nur beim Manne auftritt. Es ist bereits nachgewiesen, daß eine Überproduktion von Harnsäure zwangsläufig zu Aggressionsverhalten und gleichzeitig zu einer Verminderung der Aktivität des Gehirns führt. Wahrscheinlich sind noch andere Veränderungen im Stoffwechsel mit einer erhöhten Reizbarkeit verknüpft — die Reizbarkeit eines Gichtkranken ist bereits sprichwörtlich.

Natürlich kann man nicht ohne weiteres Reizbarkeit mit Aggression gleichsetzen. Aggression wird gewöhnlich definiert als ein Versuch, andere zu unterdrücken, und zwar zur eigenen Sicherheit, oder auch als eine Art Vergeltung für zugefügte Beleidigungen oder Verluste materieller Art. (Die Frage ist ziemlich komplex, aber es ist nicht nötig, daß wir hier das Wesen der Aggression im einzelnen analysieren.) Um so verschiedene Formen der Aggression zu behandeln, wird man nicht mit einer einzigen Therapie auskommen, ähnlich wie bei der Behandlung der altersbedingten Gedächtnisschwäche, wie sie im nächsten Kapitel diskutiert werden soll.

Doch ist anzunehmen, daß man wenigstens in einigen Fällen Aggressionslust erfolgreich behandeln kann. Hinzu kommen die ethischen Probleme, etwa der Art, ob die Gesellschaft überhaupt das Recht hat, irgend jemand zu einer solchen Behandlung zu zwingen. Handelt es sich hier nicht um eine Form von Gehirnwäsche? Die Antwort lautet: ja. Aber man muß bedenken, daß die Dinge bei der Elektroschocktherapie oder der Lobotomie bei manisch-depressiven Patienten ganz ähnlich liegen. Die Gesellschaft hat zu entscheiden, wann ein Mensch für seine Umgebung so gefährlich ist, daß man ihm eine solche Behandlung auferlegt. Bis jetzt hat man es vermieden, irgend jemand zu behandeln, der nicht gerade gemeingefährlich ist. Leute, die ihre Aggressionen in kleinen Portionen abreagieren, waren und sind davon ausgenommen.

 

Die moralische Seite dieses Problems hat Anthony Burgess in seinem ungewöhnlichen Roman <The Clockwork Orange> aufgezeigt. In diesem Buch wird ein Mensch geschildert, der Gewalttätigkeit, Zerstörungswut und Notzucht als sexuellen Anreiz brauchte und den man derart verwandelte, daß er Gewalttätigkeiten verabscheute. Aus ihm wird ein lammfrommes, schmeichlerisches Wesen, das auch noch die zweite Wange hinhält, wenn es geschlagen wird. 


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Burgess wirft hiermit die Frage auf, ob tugendhaftes Verhalten, das nicht durch einen Prozeß der Läuterung und auf Grund einer freien Entscheidung zustande kam, überhaupt erstrebenswert ist. Der Junge wurde zu einem Uhrwerk, dem schemenhaften Abbild seines früheren Ichs, das nun von einem groben Mechanismus gesteuert wird. 

Wissenschaftler, die im organischen Leben nur ein Funktionieren der Mechanik sehen und als den einzigen Unterschied zu einem Uhrwerk seinen höheren Grad an Komplexität betrachten, werden von dieser Vorstellung kaum beeindruckt sein. Aber man sollte nicht die Folgen außer acht lassen, wie sie Burgess aufgezeigt hat. Selbst wenn man von irgendwelchen mystischen oder vitalistischen Annahmen über das Wesen des Menschen absieht, so ist es immer noch gerechtfertigt zu sagen, daß der Mensch um so vieles komplizierter funktioniert, als es uns Burgess in der Gestalt seines verwandelten Antihelden nahebringen will. Man kann deshalb nicht ohne weiteres solche Mechanismen auf den Menschen übertragen.

(Sicherlich gibt es Wissenschaftler, die derartige Einwände ignorieren. Insbesondere hat sich Professor H. I. Eysenck schon vor längerer Zeit für eine verbreitete Anwendung solcher persönlichkeitsverändernden Maßnahmen ausgesprochen. Durch die kürzlich veröffentlichten Arbeiten von Dr. J. Wople und anderen wurde diese Problematik einer breiten Bevölkerungsschicht in den USA zugänglich gemacht.)

Wird jedoch erst einmal das moralische Verhalten kontrollierbar, so ergeben sich für den Gesetzgeber und für die Strafrechtslehre neuartige Probleme. Vor nicht allzu langer Zeit bezeichnete der englische Lordkanzler Lord Gardiner die große Zahl der Strafgefangenen als »Menschen mit mangelndem Urteilsvermögen«. Andererseits zeigte Dr. W. M. Court Brown aus Edinburgh, daß Asoziale eine signifikant höhere Zahl von erblichen Chromo­somen­schäden zeigen. Dementsprechend ist ihr Verhalten wenigstens teilweise die Folge ihrer physischen Unzulänglichkeit und nicht ihre eigene Schuld. Die beiden oben zitierten Feststellungen sind nicht notwendigerweise widersprüchlich, wie man im ersten Moment annehmen könnte. Die meisten Psychologen sind wohl der Meinung, daß moralisches Urteilsvermögen die Folge von frühkindlichen Lernerfahrungen ist und in gewissem Maße von einer entsprechenden Entwicklung der Psyche abhängt. Entzieht man Affenbabys die Phase der »frühkindlichen« Entwicklung, so kann man leicht zeigen, daß auch die geistige Entwicklung stagniert, was schließlich zu asozialem Verhalten führt.

Es ist heute bereits klar, daß soziales Verhalten auf einsehbare Mechanismen zurückgeht. Damit ergeben sich aber auch Möglichkeiten der Kontrolle. Die landläufige Meinung, daß Verbrechen nur allzu leicht durch psychologische Ursachen entschuldigt werden, hält sich nur so lange, bis es die Gesellschaft leid ist, Verbrechen durch Strafen zu bekämpfen, statt die Bedingungen zu verändern, die eine solche psychische Entwicklung, nämlich mangelndes moralisches Urteilsvermögen, verursacht haben.


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Weitere moralische Probleme kämen auf uns zu, wenn ein Gesetzgeber oder ein Staatsmann sich dieser Psychopharmaka aus politischen Gründen bedienen würde. So könnte er etwa Soldaten und Bomberpiloten mit »Aggressionspillen«, diejenigen, die ihn von der Macht entfernen wollen, mit Euphorika und Anti-Aggressionspillen füttern lassen. (Wenn es möglich ist, Anti-Aggressionspillen herzustellen, wird es auch keine Schwierigkeiten bereiten, aggressionssteigernde Pillen zu produzieren.) Daß die Polizei eines Tages mit Anti-Aggressionsspray ausgerüstet sein wird anstatt mit Tränengas und Wasserwerfern, kann man mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen. 

Die Möglichkeiten, unsere Psyche zu beeinflussen, scheinen sich unvorhersehbar schnell auszudehnen. So wurde schon vor Jahren behauptet, daß Angstzustände etwas mit der Anwesenheit von Natriumlactat im Blut zu tun haben. Wenn das zutrifft, werden sich neurotische Angstzustände auf diese Weise kontrollieren lassen. Das bringt gleichzeitig die Gefahr mit sich, solche Angstzustände auszulösen, etwa im Zusammenhang mit den Praktiken der Gehirnwäsche oder als neue Waffe der psychologischen Kriegsführung. Es wäre durchaus im Sinne der Militärs, wenn man etwa einen feindlichen Spähtrupp nervös machen könnte. 

Im März 1968 sagte Dr. K. E. Moyer von der Universität Pittsburg auf der UNESCO-Konferenz für Gehirnforschung, daß die Gehirnforscher heute vor einem ähnlichen Durchbruch stehen wie die Atomphysiker im Jahre 1940. Er beschrieb Gehirnoperationen, chemische und auch elektrische Behandlungen, mit deren Hilfe man bei einem Menschen aggressives oder anti-aggressives Verhalten induzieren kann. »Es ist eine unfaßliche Vorstellung, daß man nur unser Trinkwasser mit spezifisch wirkenden Drogen versetzen muß, um uns in friedliebende Menschen zu verwandeln. Das ist in der Tat eine schreckliche Vorstellung«, fügte er hinzu.

Bevor wir jedoch die Anwendungsmöglichkeiten diskutieren, sollten wir noch einige andere Aspekte einer kontrollierten Psyche betrachten. Das ist erst möglich, seit wir das Funktionieren des Gedächtnisses und das Wesen der Intelligenz etwas besser kennen.


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   2 Wie funktioniert das Gedächtnis?  

 

Der heutige Stand der Forschung über die Funktionsweise unseres Erinnerungsvermögens ist außerordentlich widersprüchlich. Trotzdem zeichnen sich Möglichkeiten ab, das Gedächtnis zu verbessern oder bestimmte Gedächtnis­inhalte auszulöschen. Diese Hoffnungen gründen auf jene geheimnisvollen Versuche, wo man tatsächlich »Erinnerung« injiziert hat oder wo es gelang, auf diese Weise Gedächtnisinhalte von einem zum anderen zu übertragen.

Was wir hier als Gedächtnis bezeichnen, umfaßt drei klar unterscheidbare Vorgänge, wie man sie auch von der Computertechnik her kennt, nämlich Einlesen, Speichern und Abrufen. Eine Information muß über eine Eingabeeinheit eingelesen werden, wobei die Information im System nicht verlorengehen oder zerstört werden darf. Bei Bedarf muß sie sofort abrufbar sein. Jeder, der schon einmal einen Computer bedient hat, weiß, daß die meisten Schwierigkeiten beim Abrufen der Information entstehen. Wenn wir von unserem schlechten Gedächtnis reden, so heißt das meistens, daß wir nicht in der Lage sind, etwas vom Speicher abzurufen, obwohl wir ganz genau wissen, daß wir es eigentlich wissen; wenn es zu spät ist, erinnern wir uns plötzlich wieder.

Bei einer Gehirnerschütterung kommt es vor, daß man das Gedächtnis verliert; das Erinnerungsvermögen kehrt erst sehr viel später zurück. Dabei macht man die eigenartige Feststellung, daß man sich in umgekehrter Reihenfolge wieder erinnert, wie die einzelnen Fakten ursprünglich ins Gedächtnis aufgenommen wurden. Erlebnisse, die zeitlich am wenigsten weit zurückliegen, fallen uns auch am ehesten wieder ein. Es ist fast so, als ob sie schichtweise begraben wären. Verständlicherweise ist dabei das Speichersystem intakt geblieben, während die wesentlich leichter verletzbare Sucheinheit zuerst ausfällt. Zur Zeit sind die auf diesem Gebiet arbeitenden Wissenschaftler mit der Frage, wie Gedächtnisinhalte gespeichert werden, mehr als ausgelastet. Doch ist heute schon klar, daß es einfacher sein wird herauszufinden, wie eine Information eingelesen und abgerufen wird. Der heute verbreitete Optimismus gründet allein auf dem Glauben, daß die Antwort auf die Frage der Speicherung in Sicht ist. Dieser Optimismus verschleiert allerdings die Tatsache, daß auch über den Mechanismus von Eingabe und Abruf einer Information praktisch nichts bekannt ist. Als man vor einigen Jahren das Gehirn primär als eine elektronische Maschine betrachtete, war man fast überall der Meinung, daß Speicherung durch ein elektrisches Phänomen zustande kommt. Da man bei den ersten Computern kleine Schwingkreise als Speichereinheiten verwendete, glaubte man, im Gehirn müsse das ähnlich funktionieren.


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Eine Folge von Stromstößen, die eine bestimmte Information beinhalten, wie wir das vom Morse-Alphabet her kennen, sollte nach dieser Vorstellung in einer endlosen Schleife umlaufen; die so gespeicherte Information sollte dann bei Bedarf abrufbar sein. Als die weitere Entwicklung der Molekularbiologie zeigte, daß eine Information auch in einem langkettigen Molekül gespeichert werden kann, zog man die Vorstellung vor, daß Gedächtnisinhalte in Form ebensolcher Moleküle vorliegen. Es war Professor Holger Hyden von der Universität Göteborg in Schweden, der als erster die Meinung vertrat, daß die RNS das Molekül sei, das dafür in Frage kommt. Als er das Gehirn von Ratten analysierte, die vorher ein bestimmtes Lernprogramm absolviert hatten, fand er nicht nur eine größere Menge an RNS, sondern auch eine veränderte Zusammensetzung. Die Vorstellung, daß die Speicherung letztlich eine Angelegenheit der Chemie ist und nichts mit elektrischen Phänomenen zu tun hat, zeigt schon die Tatsache, daß unser Gedächtnis nicht verlorengeht, wenn wir die Gehirnströme zeitweilig durch Kälte, Drogen oder andere Streßsituationen unterdrücken.

Wir haben jedoch außerdem ein Kurzzeitgedächtnis, das wir benützen, wenn wir eine Telefonnummer im Gedächtnis behalten, während wir wählen. Es ist durchaus möglich, daß diesem Kurzzeitgedächtnis elektrische Phänomene zugrunde liegen. Den größten Teil all dessen, was wir erleben, vergessen wir ziemlich schnell; dieser sinnvolle Mechanismus ermöglicht es uns, aus der Vielzahl unbedeutender Einzelheiten eine wichtige Information zu finden, die wir gerade suchen. Es gibt eine Anzahl von Tierexperimenten, die uns zeigen, daß immerhin einige Stunden gebraucht werden, bis eine solche flüchtige Wahrnehmung in die Form des Langzeitgedächtnisses umgeschrieben ist. Man nimmt darüber hinaus an, daß die erste Gedächtnisspur durch irgendwelche elektrischen Vorgänge festgehalten wird, die dann in Form eines Gedächtnismoleküls im Dauerspeicher fixiert wird.

Nur die Speicherung auf molekularer Ebene kann die ungeheure Kapazität des Gehirns für irgendwelche Daten erklären. Man hat festgestellt, daß ein Computer, der bezüglich der Gedächtnisleistung mit dem Menschen konkurrieren wollte, eine so ungeheure Menge an Magnetbändern benötigt, daß man damit die ganze Erdoberfläche bedecken könnte. Molekularneurologie ist der noch ungebräuchliche Name, den Francis O. Schmitt vom MIT (Massachusetts Institute of Technology) für diesen neuen Wissenschaftszweig eingeführt hat. Die Theorie der Ge-dächtnisspeicherung auf chemischer Ebene wurde in den frühen fünfziger Jahren durch Experimente gestützt, die zwei junge Wissenschaftler der Universität Texas, Robert Thompson und James V. McConnell, durchführten.


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Ihre berühmt gewordenen Untersuchungen gaben der Erforschung des Gedächtnisses neue Anregungen. Sie wählten als Forschungsobjekt weder Menschen noch Säugetiere wie die meisten ihrer Vorgänger, sondern eine langsame, wurmähnliche Kreatur, die man in Abwässern findet und die unter dem Namen Planarie bekannt ist. Innerhalb der Entwicklungsgeschichte der Tiere sind Planarien die einfachsten Lebewesen, die so etwas haben, das man als Gehirn bezeichnen kann — ein Netzwerk von etwa 400 Zellen. 

Zugleich gehören aber die Planarien zu den kompliziertesten Tieren, die sich noch durch Spaltung vermehren können. Zerschneidet man einen solchen Wurm in zwei Hälften, so wächst am Schwanz ein neuer Kopf nach und am Kopf ein neuer Schwanz. Thompson und McConnell beleuchteten eine der Planarien mit einer hellen Lampe; wenige Sekunden später erhielt sie einen leichten elektrischen Schock. Bei Lichteinwirkung streckt sich der Wurm, während der elektrische Schock eine lebhafte Kontraktion des gesamten Körpers der Planarie zur Folge hat. Nach über hundert solcher Licht/Schock-Erfahrungen kontrahierten sich die Planarien bereits, wenn sie nur dem Licht ausgesetzt wurden. Offensichtlich hatten sie gelernt, daß Licht soviel bedeutet wie: der Schock wird gleich folgen. 

Die wissenschaftliche Welt war skeptisch: ein so einfaches Tier konnte sicher nicht dazu gebracht werden, irgend etwas zu lernen. Zu beachten ist dabei, daß Tiere, die einer Vielzahl von Reizen ausgesetzt sind, sich in einem hochempfindlichen Zustand befinden. Wie frühere Experimente zum Training von Planarien gezeigt haben, verwirren solche Streßsituationen die Ergebnisse. Thompson und McConnell umgingen diese Schwierigkeit, indem sie forderten, a) daß eine Planarie mindestens in 23 von 25 Experimenten reagieren mußte, und b) daß sie nach einer Pause, in der sie das Gelernte vergessen konnte, es mit weniger Versuchen als vorher wieder erlernte. In einem weiteren Experiment wurden die trainierten Tiere halbiert, und man wartete, bis sich die beiden Hälften regeneriert hatten. Man fand, daß nicht nur die regenerierte Kopf-Hälfte, sondern auch die Schwanz-Hälfte schneller lernte als eine untrainierte Planarie. Auf welche Weise wurde das Erlernte ohne Gehirn gespeichert?

Wie ich bereits erwähnte, hat schon Holger Hyden darauf hingewiesen, daß Gedächtnisinhalte in RNS-Molekülen gespeichert werden können. In ähnlicher Weise kann genetische Information auch von der DNS fixiert werden. William C. Corning machte deshalb folgendes Experiment: Er schnitt trainierte Planarien in zwei Hälften und ließ sie in einer Ribonuklease-lösung (Enzym, das nur die RNS zerstört) regenerieren. 


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Während bei dieser Versuchsanordnung die Kopfhälften ihre vergessene Lektion noch leichter lernten, hatten die Schwanzhälften offenbar alles vergessen. Mit diesem Experiment konnte man noch nicht beweisen, daß RNS der Gedächtnisträger ist. Es hätte sein können, daß die Ribonuklease nicht in die Kopfhälfte einzudringen vermag oder daß in der Schwanzhälfte der Mechanismus zerstört wurde, der das Gedächtnis in den nachgewachsenen Kopf transportiert. Immerhin erschien die RNS auch in diesem Zusammenhang in einem interessanten Licht. Von verschiedenen Teams wurden im folgenden noch andere Versuche ausgeführt, die weitere Schwierigkeiten bei der Interpretation des Verhaltens der Planarien aufdeckten. 

Zur Zeit nimmt man an, daß Planarien durch die Licht/Schock-Therapie erschreckt werden und in ein Stadium erhöhter Reizbarkeit gelangen; legt man strengere Maßstäbe an, so hat das mit Lernen wenig zu tun. Das aufsehenerregendste Ergebnis dieser Versuchsreihe war, daß man einen Planarienstamm, der zum Kannibalismus neigte, mit kleingehackten, trainierten Artgenossen fütterte und dann bei diesen Tieren verbesserte Lernfähigkeit feststellte. Hatten sie wirklich das Gedächtnis von den trainierten Würmern erhalten, indem sie sie auffraßen? Professoren sehen, wohl nicht ganz im Ernst, den Tag kommen, wo Schüler Wissen aufnehmen, indem sie ihren Lehrer auffressen. Daß die Moleküle den Verdauungsprozeß überlebt haben, ist bei den Planarien möglich, nicht jedoch bei höheren Organismen.

Die Zerstörung von Gedächtnis und die Übertragung auf andere Organismen wurden, wenn McConnells Experimente zuverlässig sind, wenigstens an einem niedrigen Organismus demonstriert. Eine kalifornische Arbeitsgruppe wollte diese Ergebnisse mit einer größeren Anzahl von Planarien mit unterschiedlichen Reizmethoden und auch mit längeren Pausen zwischen den einzelnen Konditionierungsversuchen wiederholen. Sie berichteten von negativen Experimenten, aber McConnell wirft ihnen vor, daß sie ungeübt im Umgang mit Planarien seien und daß andere Forscher ihre Experimente erfolgreich wiederholen konnten. Experimente wie die eben beschriebenen können allerdings nicht schlüssig beweisen, daß RNS die Speicherverbindung unseres Gedächtnisses ist. Es scheint eher so zu sein, daß Gedächtnisinhalte in Form von spezifischen Proteinmolekülen fixiert werden. Dafür spräche auch, daß die Nervenzellen Proteine schneller als alle übrigen Zellen synthetisieren können. Die RNS spielt wahrscheinlich nur eine Vermittlerrolle.

Entfernt man bei einem Tier bestimmte Teile des Gehirns, so scheint das Gedächtnis eher allgemein geschädigt, als daß bestimmte Dinge ganz vergessen würden. Dementsprechend ist es nicht sehr wesentlich, welchen Teil des Gehirns man entfernt.


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Vor einiger Zeit wurde vermutet, daß unser Gedächtnis im ganzen Gehirn diffus verteilt ist und von der Betätigung einer Unzahl von Schaltern abhängt. Wenn diese Vorstellung richtig wäre, dann käme den von den Nervenzellen synthetisierten Proteinen die Funktion dieser Schalter zu. Das Gedächtnis würde damit sowohl durch elektrische als durch chemische Mechanismen funktionieren — eine Möglichkeit, die nicht so abwegig erscheint.

In den frühen sechziger Jahren wurden schließlich ähnliche Experimente mit Säugetieren unternommen. Dr. Allan Jacobson (ein früherer Kollege von McConnell) und andere Mitarbeiter der kalifornischen Staatsuniversität (University of California) trainierten eine Anzahl von Tieren, vor allem Ratten und Hamster, auf ein Licht- oder Glockenzeichen hin zum Futternapf zu gehen. Danach wurden die Tiere getötet und die RNS aus dem Gehirn extrahiert. Diese RNS wurde untrainierten Ratten injiziert, die daraufhin ihre Lektion zwar nicht sofort parat hatten, aber die Lernzeit ließ sich auf diese Weise verkürzen. Die Forscher meinten, daß es sich bei dieser RNS nur um ein Stimulans handelt. Auf ähnliche Weise versuchten Unger und Oce-guera-Navano von der Baylor Universität die Toleranz gegen einen erhöhten Geräuschpegel auf andere Ratten zu übertragen. Ein neues Experiment führte Jacobson ein; er isolierte RNS, die aus dem Gehirn von trainierten Hamstern stammte, und injizierte sie nichttrainierten Ratten. Auch hier konnte man ein beschleunigtes Lernvermögen beobachten.

Kann eine gespeicherte Information von einer Tierart auf die andere übertragen werden? Funktioniert das Gedächtnis auf Grund eines universellen Kodes, der für alle Tiere gilt? Es scheint so, als ob im ganzen Tierreich für die Proteinsynthese grundsätzlich die gleichen Kodierungsregeln gelten. Von hier aus betrachtet ist es nicht unwahrscheinlich, daß sie auch für die Kodierung der Gedächtnismoleküle gelten. Ein Spaßvogel könnte fragen, warum wir nach dieser Einsicht noch Kalbshirn essen.

Inzwischen hat man auch auf dem Gebiet der Gedächtnislöschung Fortschritte gemacht. Dr. Bernard W. Agranoff vom >Mental Health Research Institute< der Universität Michigan ging von der Tatsache aus, daß das Antibiotikum Puromycin in der Lage ist, die Proteinsynthese zu verhindern. Man verwendete Goldfische als Versuchstiere, denen man beigebracht hatte zu läuten, wenn sie gefüttert werden wollten — ein Trick übrigens, den Japaner ihren Fischen nur so zum Spaß lehren. Danach wurde ihnen in den verschiedenen Stadien des Lernens Puromycin ins Gehirn injiziert. Wenn die Fische einige Stunden nach dem Konditionierungsprozeß damit behandelt wurden, zeigte sich kein Effekt. Vermutlich waren die Gedächtnisproteine zu dieser Zeit bereits gebildet. Wenn das Antibiotikum allerdings kurz vor dem Lernprozeß oder auch gleich danach appliziert wurde, konnte sich das Tier nichts merken.


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Nun gibt es aber auch Verbindungen wie 8-Azaguanin, die die Synthese von RNS selbst verhindern. Auch diese Substanz beeinträchtigt die Lernfähigkeit, wenn sie kurz vor der Lektion gegeben wird. Leider sind die benötigten Dosen oft so hoch/ daß sie für das Tier tödlich sind. Dennoch zeigen diese Experimente einen Weg, der zur Löschung von Erlerntem führen kann. Der Rest ist nur noch Weiterentwicklung. Die Phantasie braucht nicht weit zu schweifen, um sich vorzustellen, wie solche Möglichkeiten der Gedächtnisauslöschung, das Blockieren der Speicherung einer Information, politisch gebraucht oder mißbraucht werden können. Tatsächlich fragte ein Reporter Dr. Agranoff, ob die Central Intelligence Agency mit ihm noch keinen Kontakt aufgenommen habe. Er antwortete lächelnd: »Ich habe es vergessen.« Doch mußte das Puro-mycin in so hohen Dosen direkt in das Gehirn eingespritzt werden, daß die Tiere oft nicht überlebten, wenn die Behandlung fortgesetzt wurde. Damit ist es für eine Anwendung beim Menschen ungeeignet. Aber ist das Prinzip erst einmal bekannt, so besteht durchaus die Hoffnung, daß eines Tages eine Substanz mit der gleichen Wirkung gefunden wird, die man intravenös oder oral applizieren kann. Das Auslöschen von Gedächtnisinhalten ist also durchaus eine Möglichkeit, die man in Erwägung ziehen muß.

Kann man aus derartigen Experimenten auch ableiten, daß , Erlerntes eines Tages von einem Menschen auf den anderen übertragbar sein wird? Ich nehme an, daß hier kein Wissenschaftler eine verbindliche Voraussage wagt. Nachdem klar scheint, daß Informationen in Molekülen gespeichert werden, besteht durchaus die Wahrscheinlichkeit, daß eines Tages die Übertragung von Erlerntem in irgendeiner Form möglich sein wird. Ich wage allerdings keine Vorhersage, ob Studenten dann vor der Versuchung stehen, ihre Lehrer zu verspeisen, ähnlich gewissen kriegerischen Stämmen, die ihre Feinde auffraßen, um deren Tapferkeit aufzunehmen. Es würde mich überraschen, wenn die gedächtnisspeichernden Moleküle den Verdauungsprozeß überstünden. Noch zweifelhafter ist es, ob sie je das Gehirn erreichen, selbst wenn man sie in den Blutstrom injiziert. Es gibt hier einen noch mangelhaft verstandenen Mechanismus, bekannt unter dem Namen Hirn-Blutschranke, der das Gehirn in gewisser Weise vor herumschwimmenden Molekülen schützt, die hier nichts zu suchen haben. Es konnte bis jetzt noch nicht gezeigt werden, daß RNS auf irgendeine Weise diese Schranke durchbrechen oder umgehen könnte. Mit unseren wachsenden Kenntnissen wird es vielleicht einmal möglich sein, diese Schranke zeitweilig aufzuheben.


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Dann wird man gewiß Gedächtnis, ähnlich wie Suppe, in Dosen verkaufen, portschritte lassen sich auf diesem Gebiet wohl erst dann erzielen, wenn man eine Technik entwickelt hat, die Flüssigkeit direkt ins Gehirn oder wenigstens an die Oberfläche heranbringt. Heute setzt das leider noch das Anbohren der Schädeldecke voraus. Auch ist es nicht sicher, daß Moleküle, die bis zur Oberfläche einer Gehirnzelle vorgedrungen sind, auch in die Zelle aufgenommen werden, um hier ihre Wirkung auszuüben. Außerdem dürfen dabei die bereits vorhandenen Gedächtnismoleküle in keiner Weise beeinflußt werden. Das sind letzten Endes die Voraussetzungen für erfolgreiche Versuche, Gedächtnisinhalte auf molekularer Ebene zu übertragen. Jedenfalls kann man auf weitere Experimente sehr gespannt sein. 

Eine erfolgreiche Gedächtnisübertragung liegt zu weit außerhalb unseres Vorstellungsvermögens, um die Auswirkungen auf die Gesellschaft wirklich abzuschätzen. Zu allererst wäre unser Erziehungssystem davon betroffen. Fragebogen, wo ein Student nach Teilen einer Pflanze oder nach einer Serie von Schlachten in einem Krieg gefragt wird, wären damit völlig überflüssig. Ob ein Student gewisse Fakten kennt oder nicht, hinge ausschließlich davon ab, was ihm seine Eltern oder Lehrer via Injektion übertragen haben. Prüfungen hätten dann allein die Aufgabe, zu zeigen, was ein Student mit seinem Wissen anfangen kann — eine Forderung, die allerdings auch heute schon an eine vernünftige Prüfung gestellt werden sollte.*

Demzufolge wären Vorlesungen und bloßes Auswendiglernen bestimmter Antworten völlig überflüssig. Das erübrigt sich dann aber auch auf Grund der weiten Verbindung von elektronischen Speichern.

Das Erlernen einer Fremdsprache wird zur Banalität, und die Schwierigkeiten der babylonischen Sprachverwirrung wären damit gelöst. Andererseits könnte die Notwendigkeit, sich auf wenige Sprachen zu beschränken, immer drängender werden, allein um die Kosten zu senken, die eine solche Konversation jedes mit jedem verursachen würde.

Anstelle der Klassenzimmer und Hörsäle wird die Schule der Zukunft nur aus einer chirurgischen Abteilung bestehen. Die Schüler werden, anstatt zehn Jahre ihres Lebens in diesen Räumen zu verbringen, nur ab und zu für wenige Tage das Schulkrankenhaus aufsuchen. 

* Examina, wo ein Student alle Bücher benutzen kann, um die gestellten Fragen schriftlich zu beantworten, wurden versuchsweise bereits an einigen Universitäten und Schulen im Westen der USA durchgeführt. In China ist dieses Verfahren bereits allgemein in Gebrauch.


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Wenn man sich auf diese Weise Wissen aneignen kann, dann spricht nichts dagegen, daß man ebenso manuelle Geschicklichkeit erwerben kann, die gleichfalls auf einmal erlernten Tatsachen beruht, etwa wie und zu welcher Zeit man gewisse Gewichtsverlagerungen und Muskelspannungen mit bestimmten Kraftanstrengungen koordinieren muß. Geschicklichkeit beinhaltet aber auch die Fähigkeit, Bewegungen anderer Objekte beurteilen zu können; auch das beruht letzten Endes auf Erfahrung. Ganz offensichtlich würde das den Sport, wie er heute betrieben wird, überflüssig machen, denn von jedem Olympiasieger könnten die Fähigkeiten über Nacht auf einen durchtrainierten Menschen übertragen werden. Dasselbe gilt für Musiker, Tänzer und Akrobaten.

Eine Frage bleibt in diesem Zusammenhang natürlich offen: wer soll der Spender all dieser Fertigkeiten sein? Man müßte, ähnlich wie bei Transplantationen, an das Verantwortungsbewußtsein gutinformierter Leute appellieren, ihr Gehirn den Universitäten zur Verfügung zu stellen. Vielleicht wird es eines Tages möglich sein, bestimmte Informationen zu synthetisieren, indem man einfach die Gedächtnismoleküle einer solchen Molekularbibliothek kopiert. Dann ließe sich jede gewünschte Kombination von Gedächtnisinhalten herstellen, einschließlich solcher, die noch nie erlebt wurden. Geschichtsfälschung aus politischen Gründen erscheint unter einem neuen Aspekt, Gedächtnisfabriken erhalten für die militärische Strategie große Bedeutung, und mit dem Ausspähen unseres Gehirns ändern sich die internationalen Spionageorganisationen völlig. Ein anderer, etwas eigenartiger Gesichtspunkt ist zu beachten. Nach einigen Experimenten von Jacobson gelang es, Informationen, die sich ein Hamster angeeignet hatte, auf eine Ratte zu übertragen. Danach wäre auch der Mensch eines Tages in der Lage, die Gedanken eines Tieres kennenzulernen. Erlebnishungrige, die heute mit LSD-25 oder Psilocybin einen »trip« machen, werden vielleicht das Bedürfnis haben, den Urwald als König der Tiere zu erleben oder zu erfahren, wie man sich als Reptil oder Bandwurm fühlt.

Doch kehren wir zur Realität zurück. Was könnte man tun, um schlichten Bürgern zu einem etwas besseren Gedächtnis zu verhelfen?

Wenigstens für ältere Leute besteht hier Hoffnung. In den frühen sechziger Jahren unternahm der kanadische Arzt Ewen Cameron, Direktor des >AlIen Memorial Institute of Psychiatry< in McGill, Versuche, RNS auf ältere Patienten zu übertragen, die an seniler Gedächtnisschwäche litten. Er konnte anfangs eine gewisse Besserung feststellen, die sich aber nicht bis zum Ende der Behandlung aufrechterhalten ließ. Allein die Schwierigkeiten, reine RNS zu bekommen, begrenzten seine Experimente außerordentlich. 


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Später, im Jahre 1965, kündigte die pharmazeutische Fabrik >Abbot Laboratories of Chicago< die Entdek-kung von Magnesiumpemolin an (Handelsname: Cylert), das Jen Gedächtnisverlust nach Elektroschockbehandlungen kompensiert. Dr. Alvin Glasky fand diese Substanz aus einer großen Anzahl getesteter Verbindungen heraus. Dr. Cameron testete als erster diese »Gedächtnispille« am Menschen (zu dieser Zeit war sie in Amerika noch nicht zugelassen) und veröffentlichte 1966 seine vorläufigen Ergebnisse. Mit diesen Pillen wurden 24 Patienten behandelt, bei denen schwerer Gedächtnisverlust im Zusammenhang mit Vergreisungserscheinungen und präsenilen Psychosen zu beobachten waren. Besondere Vorkehrungen wurden dabei getroffen, um sicher zu sein, daß die Wirkung des Präparates nicht durch bloße Einbildung zustande kam. Man verabreichte gleichzeitig sogenannte Placebo-Pillen (ein unwirksames Scheinarzneimittel), wobei weder Arzt noch Patient wußten, wer das wirksame Medikament und wer das Placebo erhalten hatte.

Eine Woche lang war keinerlei Wirkung feststellbar. Kurz darauf konnte man aber bereits bessere Leistungen im Gedächtnistest bemerken. Auch den Verwandten der Patienten fiel das auf. So berichtete etwa eine Ehefrau: »Mein Mann, der früher ein ausgezeichneter Bridgespieler war, mußte es wegen seiner Gedächtnisschwäche aufgeben; heute jedoch kann er wieder spielen.« Ein anderer Patient, der sich nicht mehr merken konnte, wie man den Fernsehapparat anmacht — sicherlich eine der größten Katastrophen in unserer Zivilisation —, war wieder in der Lage, diesen lebenswichtigen Druck auf den Schalter zu tun.

Experimente, die zeigen sollen, ob Cylert auch gegen Gedächtnisschwund nach einer Kohlendioxydvergiftung, einer zu hoch dosierten Narkose oder einem Autounfall wirksam ist, müssen noch durchgeführt werden.

Selbstverständlich wissen wir wenig darüber, wie es zum geschädigten Gedächtnis älterer Leute kommt; in besonders schweren Fällen fällt das Erinnerungsvermögen völlig aus, was mit der verlorengegangenen Fähigkeit zusammenhängen mag, Information zu speichern oder wieder abzurufen. Das letztere macht uns allerdings schon in jüngeren Jahren zu schaffen. Die Hoffnung scheint nicht unbegründet, daß man zumindest die senile Gedächtnisschwäche lindern kann. Ob die gleiche Behandlung auch bei normalen Leuten wirkt, muß noch gezeigt werden. Dr. Cameron ist optimistisch:

»Vor hundert Jahren wurde es als normal angesehen, daß ein Mann dick ist und daß alle Müllerstöchter schon vor ihrem vierzigsten Lebensjahr falsche Zähne haben. Man fand das natürlich ... Heute, bei besserer Zahnpflege, passiert das nicht mehr. Man muß es deshalb auch nicht als unabwendbares Schicksal ansehen, im Alter unter Gedächtnisschwäche zu leiden.«


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Ohne das Gedächtnis ist Intelligenz im landläufigen Sinne natürlich nicht möglich, denn eine Person, die nichts weiß, kann sich auch nicht intelligent verhalten. Für den Psychologen hat Intelligenz eine wesentlich spezifischere Bedeutung, nämlich die Fähigkeit, sich bestimmter Fakten zu bedienen und zu sehen, in welchem Zusammenhang sie zueinander stehen. Die meisten Leute bewundern Intelligenz, eben weil sie ihr mißtrauen, aber vielleicht mißtrauen sie vor allem einer gefühllosen Intelligenz. Sicherlich sind die meisten Eltern betroffen, wenn ihr Kind in einem Intelligenztest schlecht abschneidet. Die Bemühungen, den Intelligenzquotienten anzuheben, ist daher keine rein akademische Frage.

 

  3  Intelligenz für jedermann  

 

Der große Mathematiker Carl Friedrich Gauß, vielleicht einer der intelligentesten Menschen, die je gelebt haben, war der Sohn eines Maurers. Seine außergewöhnliche Intelligenz zeigte sich bereits in frühester Kindheit. Eines Tages stellte der Lehrer in der Schule den Kindern die Aufgabe, alle Zahlen von eins bis hundert zu addieren. Die übrigen Klassenkameraden kritzelten eifrig auf ihren Schiefertafeln herum, nur Gauß meldete sich gleich und gab die Lösung mit 5050 an. Er hatte sofort erkannt, daß 1 und 99 ein Zahlenpaar ergeben, deren Summe 100 beträgt; analog verhalten sich 98 und 2, 97 und 3 und so weiter. Man erhält auf diese Weise 49 solcher Paare. Zusammen mit den übriggebliebenen Zahlen 50 und 100 erhält man die Summe 5050. Durch einen genialen Einfall reduzierte sich alles auf eine Kopfrechenaufgabe. 

Es wäre ein ungeheurer Fortschritt für die Menschheit, wenn wir alle nur annähernd die Intelligenz von Gauß erreichten. Was war an den Hirnzellen eines Gauß anders als an den unsrigen? Man macht bereits Experimente, um dieses Problem endgültig zu klären.

Intelligenz ist nur sehr lose mit Gewicht und Größe der Gehirnmasse korreliert. Es ist natürlich richtig, daß der Mensch ein größeres Gehirn hat als der Affe, und der wiederum ein größeres als eine Katze; trotzdem zeigen die Gehirnschädel von außergewöhnlichen Menschen Hirngewichte, die durchaus innerhalb der Durchschnittswerte der menschlichen Rasse liegen*.

* Tierexperimente, bei denen große Teile der weiter außen liegenden Hirnteile entfernt wurden, zeigten nur einen geringen Abfall in ihrer Lernfähigkeit, obwohl die entfernte Hirnmasse beträchtlidi ist. Das Gehirn hat offenbar einen großen Überschuß an Speicherkapazität.


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Auch scheint es heute sicher zu sein, daß für die Intelligenz vor allem die Zahl und die Art der Verbindungen zwischen den IVlillionen Gehirnzellen ausschlaggebend ist. pas Gehirn enthält zwei Typen von Zellen: Neuronen, von denen man annimmt, daß sie die eigentliche Arbeit leisten, und Gliazellen, die die Nervenzellen mit Energie und Baustoffen versorgen. Die Gliazellen sind möglicherweise auch die Speicherzellen unseres Gedächtnisses. An Zahl übertreffen sie die Neuronen; etwa zwei Drittel der Gehirnmasse besteht aus diesen Zellen, und wie sich erst kürzlich gezeigt hat, darf man sie nicht einfach als Stützgewebe für die Neuronen ansehen. Wir werden vielleicht noch einige Überraschungen erleben, wenn dieses Problem endgültig gelöst ist.

Neuronen haben wenig mit den übrigen Zellen gemeinsam; sie vermehren sich nicht durch normale Zellteilung. Das Gehirn kann sich deshalb nicht wie etwa die Muskulatur später noch weiterentwickeln. Weiter haben sie die besondere Eigenschaft, Kontakt mit anderen Neuronen aufnehmen zu können. Wenn sich eine solche Querverbindung als nützlich erweist, wird sie fixiert; andernfalls löst sie sich wieder. Ob sie fixiert wird, scheint außerdem davon abzuhängen, ob von Zeit zu Zeit ein elektrischer Strom durch diese Verbindung geleitet wird — das heißt, ein Stromkreis wird benötigt. Auf diese Weise wird jedes Gehirn nach einem anderen Schema verdrahtet, je nach den Erfahrungen des Eigentümers. Das Gehirn eines Tennischampions ist danach verständlicherweise anders verdrahtet als das eines Philosophen, aber in gewissem Sinne ähnlich programmiert wie das Gedächtnis von anderen Tennisspielern. Das konnte natürlich noch nicht direkt gezeigt werden, was teilweise damit zusammenhängt, daß man nur sehr schwer das Gehirn von Menschen des gewünschten Typs erhält. Noch größer aber sind die Schwierigkeiten, das Netzwerk der Verbindungen zwischen den Neuronen zu entwirren.

Jedes Neuron löst einen winzigen elektrischen Impuls aus, wenn es durch einen Stromstoß eines anderen Neurons dazu angeregt wird, vorausgesetzt, der Stromstoß ist groß genug. Was als unterschwelliger Impuls empfunden wird, variiert von Neuron zu Neuron, denn gleichzeitig stellt sich der Schwellenwert bei häufigem Gebrauch immer niedriger ein, während er bei seltener Reizung angehoben wird. Auch deshalb ist jedes Gehirn einmalig. Was ein Neuron noch als unterschwelligen Reiz empfindet, spiegelt die ganz spezifischen Lebenserfahrungen des Eigentümers wider.

Daraus folgt natürlich auch, daß man wahrscheinlich vergeblich auf eine Droge oder auf irgendeine Behandlungsmethode wartet, die plötzlich aus dem mittelmäßigen Gehirn eines Erwachsenen das eines Gauß, eines Beethoven, eines Shakespeare oder gar das eines brillanten Sportlers oder Tennisstars macht.


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Es wäre aber durchaus möglich, daß man einmal Pillen entwickelt, die unseren Energieaufwand senken, den wir benötigen, um an irgendeine Arbeit heranzugehen (Aktivierungsenergie). Die meisten von uns machen sicherlich keinen optimalen Gebrauch von dem, was sie wissen, und es gibt durchaus Stunden, wo wir zum Denken zu müde sind. Drogen wie Amphetamin vertreiben diese Müdigkeit; sie verlängern damit die Zeit, die wir denkend verbringen, sie helfen uns, Informationen anderen Erfahrungen zuzuordnen, aber sie können uns natürlich keine Gedächtnisinhalte vermitteln, die wir nie erlernt haben.

Man hat z.B. festgestellt, daß das Gehirn von »intelligenten« Ratten, die sich etwa besser in einem Labyrinth zurechtfinden als ihre »dümmeren« Artgenossen, eine größere Menge des Enzyms Cholinesterase enthält. Da viele Wissenschaftler der Meinung sind, daß die Gehirnfunktionen mehr von chemischen als von elektrischen Phänomenen abhängen, sind auch Drogen denkbar, die diese Gehirnfunktionen beeinflussen, etwa so, wie wir unsere Ernährung zusätzlich mit künstlichen Vitaminen unterstützen. Professor Jean Rostand meint zu diesem Punkt: »Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum es nicht gelingen sollte, das Gehirn genauso wie unsere physischen Möglichkeiten zu erhöhten Leistungen anzuregen. Auch wenn mit dieser Zukunftsdroge nichts anderes erreichbar würde, als täglich einige Superideen zu haben, lohnte es sich, sie herzustellen. Für diese Geistesblitze würde man sogar eine längere Depressionsphase in Kauf nehmen.«

Wahrscheinlich nützen die wenigsten von uns ihre geistige Kapazität wirklich aus. Die große italienische Pädagogin und Ärztin Maria Montessori ist der Ansicht, daß Kinder die höhere Mathematik bereits mit acht Jahren begreifen können, wenn man sie ermutigt, sich bis an die äußerste Grenze ihrer geistigen Leistungsfähigkeit heranzutasten.

Indessen ist Vorsicht geboten bei dem revolutionären Vorschlag, auch die Reservekapazität des Gehirns auszunützen. Das Gehirn besteht aus zwei symmetrischen Hälften. Bei Rechtshändern verrichtet die linke Gehirnhälfte die Hauptarbeit; man bezeichnet sie als die dominante Seite. Die andere Seite scheint einfach als Reservekapazität zu dienen. Zwischen den beiden Hälften gibt es jedoch zahllose Verbindungen. Beim Durchtrennen eines Sehnervs konnte gezeigt werden, daß jede Hirnhälfte nur für ein Auge zuständig ist und daß irgendeine Lektion, die nur mit einem Auge aufgenommen wird, bald danach auch in die andere Hirnhälfte übertragen wird. Das bestätigt die Erfahrung, daß bei einseitiger Hirnschädigung, etwa durch einen Unfall, der Betroffene seine einmal erlernten Fähigkeiten nach und nach wiedererlangt; die unbenutzte Hälfte übernimmt nun diese Aufgabe.


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Dürfen wir unter diesen Voraussetzungen die Reservekapazität des menschlichen Gehirns ausnützen? Dieser Frage gehen einige Arbeitsgruppen von Psychologen, Pädagogen und anderen Wissenschaftlern nach, die ihre Problemstellung als Institute zur Erforschung der Möglichkeiten des Menschen< koordiniert haben. Sollten sie Erfolg haben, so könnte man einen neuen Stamm von Genies produzieren, die vielleicht gleichzeitig in höherer Mathematik und im Haushalt Experten sind. Zu diesem Thema meinte allerdings Bertrand Russell: »Der Mensch fürchtet auf Erden nichts mehr als Gedanken, und zwar mehr als Verderben und Tod.« Wenn das stimmt, so werden diese Forscher mit ihren Entdeckungen auf wenig Gegenliebe stoßen. 

Während es unwahrscheinlich ist, eine Droge oder irgendeine Therapie zu entdecken, die beim Erwachsenen eine dramatische Verbesserung seiner Intelligenz erzielt, ist die Situation für Kinder, die eben erst mit ihrem geistigen Entwicklungsprogramm beginnen, wesentlich anders. Schon heute ist es möglich, das Wachstum des Neuronennetzwerks anzuregen. So injizierten Professor S. Zamenhof und sein Team an der Universität von Kalifornien trächtigen Mäusen und Ratten das Hypophysenwachstumshormon zu dem Zeitpunkt, da sich das Gehirn der Fetusse entwickelt. Diese Behandlung wurde zwischen der siebten und zwölften Woche nach der Befruchtung durchgeführt. Später wurden die Nachkommen getötet und das Gehirn sorgfältig untersucht. Sie fanden nicht nur eine signifikante Erhöhung des Hirngewichts, sondern auch ein größeres Verhältnis zwischen Neuronen und Gliazellen. 

Von noch größerer Bedeutung war jedoch die Entdeckung, daß die Zelldichte in der Hirnrinde, die Anzahl und Länge der Dendriten — das sind die Verbindungsdrähte zwischen den einzelnen Neuronen —, vergrößert war. Eine andere Gruppe, die ebenfalls auf diesem Gebiet arbeitet, stellte fest, daß die Wahrscheinlichkeit, mit der Verbindungen zwischen den einzelnen Neuronen zustande kommen, sich bei diesen Tieren um fünfzig Prozent erhöht. Eine ähnliche Zunahme der Hirnmasse wurde bei Kaulquappen festgestellt; andere Wissenschaftler konnten zeigen, daß so behandelte Ratten im Standard-Labyrinth-Test besser abschnitten. Während die bisher beschriebenen Ergebnisse aus Tierexperimenten gewonnen wurden, soll nun auf weniger drastische Versuche mit menschlichen Babys eingegangen werden.

An der Universität von Witwatersrand in Südafrika entwickelte der Dekan der medizinischen Fakultät, Professor Heyns, eine besondere Therapie für schwangere Frauen. Dabei schloß er Unterleib und Becken der Frauen luftdicht in eine Plastikkapsel ein und reduzierte den Druck im Innern auf ein Fünftel des Atmosphärendrucks.


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Diese Prozedur nannte er Dekompression oder fetale Oxygenierung. Sie wird während der letzten zehn Tage der Schwangerschaft jeweils eine halbe Stunde lang durchgeführt. Die Druckerniedrigung auf den Uterus wurde vorgenommen, um die Schmerzen während der Geburt zu vermindern und eine bessere Zirkulation des mütterlichen Blutes zu gewährleisten.

Professor Heyns war sehr erstaunt, als er ein Jahr nach den ersten Experimenten die Nachricht von einigen Müttern erhielt, daß die so geborenen Kinder außerordentlich intelligent und auch in ihrer körperlichen Entwicklung überdurchschnittlich weit gediehen seien. Die ersten derartigen Berichte ignorierte man, da alle Mütter annehmen, ihr Baby sei etwas Besonderes. Aber bald stellte sich heraus, daß diese mit reichlich Sauerstoff versorgten Babys tatsächlich außergewöhnlich waren, so wie etwa Katl Oettel, die bereits mit 13 Monaten Telefongespräche beantwortete und mit drei Jahren vier Sprachen beherrschte. (Babys in Südafrika hören gewöhnlich vier Sprachen, die um sie herum gesprochen werden, nämlich Englisch, Deutsch, Zulu und Afrikaans. Normalerweise sprechen Babys die Sprache, in der ihre Mutter mit ihnen spricht.) 

Diese Superkinder langweilten sich natürlich im Kindergarten. Zu dieser Zeit konnten sie sich bereits mit Erwachsenen unterhalten. Ein Wortschatz von 200 Wörtern ist bei diesen Kindern mit achtzehn Monaten nichts Außergewöhnliches. Das Durchschnittskind spricht in diesem Alter nicht mehr als ein Dutzend Wörter. Kritiker wenden ein, daß es unmöglich ist, Intelligenz im zweiten Lebensjahr zu messen und erst einige Jahre verstreichen müssen, bis man sagen kann, ob aus diesen frühentwickelten Kindern auch ungewöhnlich intelligente Erwachsene werden, wie sie unsere Zeit so dringend braucht. Man muß weiter beachten, daß nur die intelligenten Mütter sich dieser Behandlung von Professor Heyns unterziehen, und wenn Intelligenz auch durch Vererbung übertragen werden kann, so würde das die Ergebnisse beeinflussen. Das ist zum Beispiel der Einwand von Dr. Liddicoat gegen derartige Schlüsse.

In den letzten Wochen der Schwangerschaft wächst die Plazenta nicht mehr, und das Herz des Kindes ist dann manchmal nicht in der Lage, den Blutkreislauf aufrechtzuerhalten. Folgerichtig schließt Professor Heyns, daß sich das Gehirn der meisten Fetusse nicht voll entwickeln kann, denn der Bedarf des Fetusses an Sauerstoff übertrifft die Leistungsfähigkeit des mütterlichen Blutkreislaufes. Die Anreicherung des mütterlichen Bluts mit Sauerstoff kann diesen Mangel ausgleichen. Wie sich diese Kinder weiterentwickeln, muß genau verfolgt werden. Diese Experimente könnten zu den wichtigsten unserer Generation zählen. 


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Neben den Arbeiten von Professor Zamenhof und Professor Heyns gibt es noch realistische Möglichkeiten, den Intelligenzquotienten der ganzen Bevölkerung um einen kleinen, aber durchaus merklichen Grad anzuheben, und zwar allein durch eine Verbesserung der Umgebung, in der Kinder aufwachsen.

Viele diesbezügliche Möglichkeiten werden zur Zeit untersucht. Großes Interesse richtet sich vor allem auf bessere Erziehungsmethoden, wie sie etwa Professor O. K. Moore aus Pittsburg vorgeschlagen hat. Ich bin allerdings der Meinung, daß auch hier erst die biologischen Methoden einen wirklichen Durchbruch bewirken können.

Die Tatsache, daß Kinder von intelligenten Eltern im Durchschnitt ebenfalls intelligenter sind, wurde schon sehr früh festgestellt. Lange Zeit hat man das nicht als ein Vererbungsphänomen angesehen, sondern hat den höheren Intelligenzquotienten auf die geistig anregendere Umgebung zurückgeführt. Im Gegensatz dazu hat sich gezeigt, daß eineiige Zwillinge, die nach der Geburt getrennt wurden und in völlig verschiedener Umgebung aufgewachsen sind, ähnliche Intelligenzquotienten erreichen. So brachte man einen Zwilling in die Familie eines Universitätsprofessors in Oxford, während der andere auf einem walisischen Bauernhof aufwuchs; ihre Intelligenzquotienten lagen nur wenige Punkte auseinander. 

Brüder und Schwestern zeigen ebenfalls näher beieinander liegende Intelligenzquotienten, auch wenn sie getrennt heranwachsen, als ein Adoptivkind, das im gleichen Haus aufwächst. Das alles sind Argumente für einen starken Einfluß des Erbguts auf den Intelligenzquotienten der Nachkommen. Wie die Arbeiten von Dr. David Krech und Dr. Edward L. Bennett aus Berkeley gezeigt haben, spielen aber auch die Umweltseinflüsse eine große Rolle. Um das zu zeigen, teilten sie 25 Tage nach der Geburt eine Rattenkolonie, wobei einige in Einzelhaft genommen wurden, während die anderen Ratten in Käfigen mit viel Abwechslung lebten: es gab hier Seile zum Klettern, Laufräder usw. In der fünfzehnten Woche töteten sie alle Tiere und sezierten das Gehirn. Sie fanden bei der privilegierten Gruppe eine stärkere Hirnrinde. Außerdem konnte man das Verhältnis von Hirnrinde zum darunterliegenden Gewebe mit der Zeit korrelieren, die sie brauchten, um zu lernen, wie man am schnellsten aus einem Labyrinth herausfindet. Die Zahl der Neuronen nahm bei diesem Training nicht zu. Dagegen konnte eine vermehrte Bildung von Zwischenverbindungen und ein gewisses Größenwachstum festgestellt werden. Die Zahl der Gliazellen war deutlich erhöht, wie auch der Enzymspiegel an Cholirfesterase und Acetylcholinesterase.

Die englische Zeitschrift <Science Journal> meinte dazu: 


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»Das Aufregende an dieser Forschungsrichtung ist die stillschweigende Voraussetzung, daß Ergebnisse, die bei den Ratten gewonnen wurden, auf das Verhalten des Menschen anwendbar sind. Diese Arbeiten aus dem amerikanischen Arbeitskreis, die durch Untersuchungen am Hirn selbst gewonnen wurden, scheinen die ersten Hinweise dafür zu liefern, daß Intelligenz anerzogen werden kann. Sie stützen damit vor allem die Annahmen einiger Psychologen, daß die Umgebung der frühen Kindheit starken Einfluß auf die Entwicklung im späteren Leben ausübt.« 

Es ist außerdem möglich, daß Unterernährung in früher Kindheit dauernde Schädigungen in der Entwicklung des Gehirns nach sich ziehen kann. Es steht fest, daß die meisten Leute in den westlichen Ländern keine optimale Umgebung in ihrer Kindheit erleben durften, so wie wir es hier erörtert haben. Würde man diese Situation verbessern, dann könnte bei vielen Menschen der Intelligenzquotient um 10 oder 15 Punkte angehoben werden. Wem das nach den aufregenden Möglichkeiten, die früher diskutiert wurden, ein geringer Erfolg erscheint, der möge sich vor Augen halten, daß eine Verschiebung des Intelligenzquotienten der gesamten Bevölkerung um nur 1,5 Prozent eine Verdoppelung der Leute mit einem Intelligenzquotienten von 160 mit sich bringen würde; 160 Punkte ist der Intelligenzquotient, den man im allgemeinen nur genialen Menschen zuspricht. Dabei ist es vielleicht realistischer, das Adjektiv genial gegen hochtalentiert auszutauschen. 

 

  4  Leben ohne Schmerz   

 

Bevor wir uns weiteren Problemen zuwenden, möchte ich auf ein Forschungsgebiet aufmerksam machen, das unser Interesse verdient, nämlich die Schmerzkontrolle. Auch hier wurden große Fortschritte erzielt. Im Jahre 1842 führte Crawford Long aus Jefferson im Staate Georgia die erste Operation unter Äthernarkose durch. Er entfernte einen kleinen Tumor am Hals eines Patienten. (Tatsächlich war das nicht die erste Anästhesie. Der griechische Arzt Dioscorides, der Stabsarzt der Armeen Neros, kannte bereits die lokale und die totale Anästhesie. Sogar die rektale Applikation bestimmter Narkotika war ihm bekannt. Er hat auch als erster das Wort im heutigen Sinne verwandt. Der einschläfernde Schwamm< wurde auch von Zeit zu Zeit in mittelalterlichen Schriften erwähnt.) 

Aber mit Longs Operation zog die Ära der chemischen Anästhesie herauf, und in den darauffolgenden hundert Jahren war keine dramatische Neuentdeckung auf diesem Gebiet zu verzeichnen. Neue und auch schnellere Anästhetika mit weniger Nebenwirkungen wurden entwickelt, aber bis vor wenigen Jahren war das nichts anderes als Konsolidierung der ersten großen Entdeckung.


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Merkwürdigerweise ist es bis heute unbekannt, wie Narkosemittel eigentlich wirken und welchen Teil des Gehirns sie angreifen. Bereits Millionen von Menschen haben allen Grund, denen dankbar zu sein, die das Vorurteil bekämpften, das den neuen chemischen Anästhetika gegenüber herrschte. Heute gilt es als erwiesen, daß diese am geeignetsten sind, Schmerzen zu dämpfen oder zu vertreiben.

Im Grunde beruht die Reizung der Nerven auf elektrischen Phänomenen, und gerade jetzt beginnt eine neue Ära der Schmerzbekämpfung mit elektrischen Geräten. 1965 stellten zwei Erfinder aus Harvard ein kleines elektronisches Gerät von der Größe eines Transistorradios vor, das in der Lage ist, die unerträglichen Schmerzen von Krebs-Patienten zu unterdrücken. Das Gerät ist nur für Leute mit wirklich großen Schmerzen gedacht, denn die Anwendung dieser Apparatur setzt das Einführen von Elektroden durch ein Loch in der Schädeldecke voraus. Die Elektroden sticht man im sogenannten Thalamus ein, und durch einen Schalter kann man eine Spannung von 9 Volt mit der Frequenz von 30 Hertz anlegen. 

Nach einer einstündigen Behandlung wird der Schmerz für mehrere Stunden gestillt, wobei keinerlei Schädigung des Hirngewebes feststellbar ist. Die Erfinder dieses Gerätes sind Dr. Frank Ervin, ein Neurochirurg, und Dr. Vernon Mark, ein Neurologe. Ein Patient mit Kehlkopfkrebs brauchte, wie Dr. Ervin berichtete, alle zwei Stunden 100 mg einer morphinanalogen Verbindung. Nachdem bei ihm das neue Gerät verwendet wurde, lebte er noch drei Monate, ohne weitere schmerzstillende Mittel einnehmen zu müssen. Dr. Mark wußte von ähnlichen Fällen. Die Patienten tragen den kleinen Apparat in der Jackentasche ihres Pyjamas und schalten ihn an, wenn die Schmerzen zu stark werden. Sie berichteten von keinerlei Nebenwirkungen. Schmerzen können auch in Fällen, bei denen es nicht ratsam ist, Elektroden direkt ins Gehirn einzuführen, auf elektronischem Wege kontrolliert werden.

Dr. Patrik Wall wunderte sich, daß Soldaten, die von einem Geschoß getroffen wurden, oft Stunden danach noch keine Schmerzen empfanden, obgleich sie einen Nadelstich durchaus spürten. Auch die Opfer von Autounfällen haben diese selbstinduzierte Anästhesie erfahren. Dr. Wall folgerte daraus, daß der Körper irgendwelche Schranken haben muß, die Schmerzimpulse durchlassen oder blockieren. Er nimmt an, daß diese Schranken im Rückenmark liegen, und zwar in dem Teil, den man als Substantia Gelatinosa bezeichnet. Die Blockierung erfolgt, wenn dafür spezialisierte Zellen eine große Anzahl schwacher Impulse erhalten. Das ist auch der Grund, warum wir uns auf einer größeren Fläche kratzen, wenn es irgendwo juckt. Die zahlreichen schwachen Impulse, die von der durch das Kratzen gereizten Fläche ausgehen, blockieren die Schmerzempfindung, die von einer einzigen Nervenendigung verursacht wird.


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Dr. William H. Sweet von der Abteilung für Neurochirurgie am General Hospital in Massachusetts und Dr. Wall, der in der Biologischen Abteilung des MIT arbeitete, legten Elektroden bei Leuten an, deren Schmerzen von den Extremitäten oder von anderen an der Oberfläche liegenden Organen ausgingen. Den Elektroden wurden kurze Stromstöße, etwa 100 pro Minute, zugeführt. Einer ihrer Patienten war ein Mann mit einer Schußverletzung an der Schulter. Er erzählte immer von starken Schmerzen in den Fingern, »als wenn sie von einer Lötlampe verbrannt wären«. Die Behandlung durch elektrische Reizung befreite ihn von seinen Schmerzen, oder wie ein anderer Patient, ein Apotheker, sich ausdrückte: »Das Summen überdeckt den Schmerz.« 

Auch an der Oberfläche gelegene Tumoren konnten auf diese Weise erfolgreich behandelt werden, während Oberflächenelektroden keine Wirkung auf tiefer gelegene Schmerzherde hatten. Nach einigen Behandlungswochen zeigte sich allerdings ein Nachlassen der schmerzstillenden Wirkung, so daß noch weitere Untersuchungen durchgeführt werden müssen. Einer Gruppe von Ärzten am >National Heart Institute< in Bethesda gelang es ebenfalls, durch elektrische Reizung die Schmerzen bei Angina-pectoris-Anfällen zu lindern. Schmerzkontrolle ist heute auch auf anderem Wege zu erreichen. In den letzten Jahren hat man entdeckt, daß Patienten eingeschläfert werden können, ohne daß sie das Bewußtsein völlig verlieren, während sie gegen Schmerz unempfindlich werden. Man gibt ihnen Analgetika wie Phentanyl zusammen mit Butyrophenonen, etwa Haloperidol. Für eine operative Behandlung von Parkinsonismus oder zur Einführung des Bronchoskops durch die Kehle, um die Lunge zu untersuchen, ist es vorteilhaft, wenn der Patient wach ist und die Ärzte beobachten können, wie er reagiert. 

Das sind bevorzugte Anwendungsgebiete für eine neue Technik der Anästhesie, die unter dem Namen Ataralgesie bekannt ist, was soviel bedeutet wie: keine Bewußtseinstrübung bei gleichzeitiger Schmerzbekämpfung. Der Patient bleibt entspannt, hat eine normale rosige Gesichtsfarbe und neigt nicht zum Erbrechen, ungleich dem gewohnten Bild eines bleichen, schwitzenden, würgenden Patienten bei einer Bronchoskopie oder einer Intubation. Wenn der Patient nicht bei Bewußtsein sein muß, kann man der Ataralgesie eine leichte Anästhesie überlagern.

Vor allem Zahnärzte wissen, daß Schmerzen von Person zu Person anders empfunden werden. Aufgeregte Patienten spüren den gleichen Nervenreiz, der zum Schmerz führt, wesentlich stärker als entspannte. Damit hängt auch die schmerzlindernde Wirkung des Alkohols zusammen. Denselben Effekt kennen wir von den Tranquilizern, oder wie sich ein Wissenschaftler ausdrückte: »Chlorpromazin nimmt dem Schmerz das Element des Qualvollen.«


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Sicherlich verbirgt sich hinter dem, was heute unter dem Begriff Schmerz verstanden wird, ein wesentlich komplizierterer Mechanismus, als wir annehmen. Wie kommt es, daß leichtes Reiben einer bestimmten Stelle manchmal schon nach kurzer Zeit intensive Schmerzen verursacht? Dieser Effekt scheint in der Tatsache begründet, daß verletztes Gewebe nach einem noch nicht ganz verstandenen Mechanismus eine Substanz absondert, die unsere Nerven für den Schmerz sensibilisiert. Dazu gehören auch Histamin und 5-Hydroxy-Tryptamin, das mit 5-HT abgekürzt wird. 

Wespen und Hornissen injizieren diese Substanzen, wenn sie stechen, und auch Nesseln und Tintenfische scheiden diese Verbindung aus. Aus diesem Grunde schmerzen die an sich lächerlichen Stiche so sehr; stärker als das rein mechanische Kratzen eines Brombeerstrauches. Es könnte sein, daß auch einige Tumoren solche Substanzen produzieren. Professor C. A. Keele von der Abteilung für Pharmakologie und Therapie an der Hospital Medical School in Middlesex meinte, daß man eventuell in den nächsten fünf Jahren ein neues Medikament mit antagonistischen Eigenschaften zu dieser Verbindung finden wird. Es gibt bereits ein Präparat mit dem Namen Nalorphin, das diese Eigenschaft zeigt; leider sind damit noch zu viele Nebenwirkungen verbunden.

Wahrscheinlich werden in absehbarer Zeit alle Formen des Schmerzes kontrollierbar und die Kontrollmethoden selber immer einfacher und zuverlässiger sein. Dann wird wohl jeder mit einem tragbaren Apparat zur Schmerzkontrolle ausgerüstet herumlaufen, den er zum Beispiel bei einem Verkehrsunfall anschalten kann. Gleichzeitig ergeben sich mit diesem Wissen neue Methoden, Schmerzen künstlich zu erzeugen. Folterknechte würden sich an Biochemiker wenden, die vor der Frage stünden, ob sie ihr Wissen weitergeben dürfen, und wenn ja, an wen. Wenn die Foltertechnik auf diese Weise in jeder Hinsicht vollkommen sein wird, sind alle Hoffnungen von Gefangenen, heroisch zu schweigen, vergeblich. Eine internationale Übereinkunft wäre wünschenswert, aber wohl kaum durchzusetzen. Die Aussichten sind nicht sehr heiter. 

 

     5  Psyche nach Wunsch   

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»Wir stehen an der Schwelle einer chemo-psychiatrischen Ära, die uns zugleich mit Freude und Schauder in die Zukunft blicken läßt«, schrieb Dr. Robert Ropp. »Schaudern werden jene, die sehen, daß die Möglichkeit, unsere Psyche zu verändern, zu einer Kontrolle der Psyche führen kann. Ist das eine legitime Schlußfolgerung? Bedeutet die Fähigkeit, einen psychotischen Menschen von Depressionen und Selbstmordabsichten, einen Neurotiker von seinen Alpträumen zu erlösen, tatsächlich auch die Fähigkeit, auf Stimmung und Verhalten von Menschen so einzuwirken, daß ihr eigentliches Ich verlorengeht?« 

Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Sie wirft unter anderem das Problem auf, was eigentlich das Ich eines Individuums wirklich ist. Wenn ein Mann mit zunehmendem Alter verbittert und starrsinnig wird, ist das sein eigentliches Wesen? Sind wir von Anfang an so etwas wie eine Persönlichkeit, die dann im Laufe des Lebens deformiert wird, oder ist unser Ich die Summe aller persönlichen Erfahrungen? Die ursprüngliche Frage impliziert die Gefahr, die die Einmaligkeit eines jeden Menschen betrifft — eine Frage von weitreichender Relevanz. Doch wenn wir uns nur damit befassen, wie die neuen Kenntnisse politisch mißbraucht werden können, vereinfacht sich die Problematik. Der Umfang der heute erhältlichen Drogen ist beschränkt. Sie bestehen im wesentlichen aus Ataraktika (oder Tranquilizern), Analeptika (Stimulantia) und Psychosomimetika. Derartige Pillen sind natürlich auch nicht vom Mißbrauch ausgeschlossen. So könnte man sie etwa Kriegsgefangenen heimlich geben, um ihren Fluchtdrang etwas zu dämpfen. Jedermann ist sich darüber im klaren, daß sich auch Einbrecher und Kidnapper der Anästhetika bedienen können, doch ist zu erkennen, ob und wann sie verwendet wurden.

Auch muß man die Möglichkeit im Auge behalten, daß Psychopharmaka benutzt werden, um Unterstützung für ein politisches Programm zu erhalten. So könnte ein Diktator diese Pillen dem Essen zusetzen oder sie anstelle von Vitamintabletten verteilen. Vielleicht ist es gar nicht so unwahrscheinlich, eine Droge zu finden, die unsere Beeinflußbarkeit steigert. Das würde dem Diktator, der alle Propagandamedien beherrscht, nahezu unbegrenzte Macht bieten.

Vor einigen Jahren verursachten Experimente in der Öffentlichkeit großes Aufsehen. Während einer Kinovorstellung wurden in das Hauptprogramm Wörter eingeblendet, die nur so kurz zu sehen waren, daß man sie nicht bewußt wahrnehmen konnte. Trotzdem zeigte ein späterer Assoziationstest, daß sie im Gehirn registriert wurden — auf alle Fälle eine interessante Werbetechnik. Wenn ein Wort, etwa das eines Markenartikels, im Kino oder Fernsehen dauernd in unterschwelliger Dosierung vorhanden ist, wird dann nicht die Nachfrage bei den Zuschauern steigen? In England, in Amerika und auch in anderen Ländern wurde diese Werbemethode verboten oder freiwillig zurückgezogen. 


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In einer Experimentalvorstellung hat man kurz vor dem Verbot fortlaufend, aber unterschwellig das Wort »ice-cream« in den Film eingeblendet. Man erhoffte sich davon während der Pause einen erhöhten Eisumsatz. Er stieg tatsächlich geringfügig an. Andere Kinobesucher beschwerten sich jedoch bei der Geschäftsleitung, daß es im Kinosaal zu kalt gewesen sei, obwohl die übliche Temperatur herrschte. Die Auswirkungen einer solchen Stimulanz sind also im jetzigen Stadium noch nicht genau vorherzusagen.

Es gibt noch andere Möglichkeiten, das Verhalten des Menschen zu beeinflussen. Dr. R. P. Michael vom psychiatrischen Institut in London gab zum Beispiel weiblichen Rhesusaffen Östrogen und stellte fest, daß diese Behandlung bei den benachbarten Männchen sexuelle Erregung hervorrief. Offenbar hatte Östrogen die Weibchen zur Absonderung eines Sexuallockstoffes stimuliert, der auf den Geruchssinn der Männchen wirkte. Vorher hatte man dieses Phänomen ausführlich bei Insekten studiert und es für artspezifisch gehalten. Erst kürzlich konnte festgestellt werden, daß auch bei Säugern ein ähnlicher Mechanismus existiert. Es ist daher sehr wahrscheinlich, daß er auch beim Menschen eine'Rolle spielt. Dr. H. Wiener, New York, meint, daß diese chemischen Boten< in der Lage sind, emotionale Regungen wie Zorn, Haß, Furcht und Begierde zu signalisieren.

Jahrhundertelang haben Frauen Parfüm als sexuelle Stimulanzien für Männer verwendet, und das nicht ohne Erfolg. Solche Methoden entsprechen dem Stand der Chemotherapie, als Wassersucht noch von Hexen mit selbstgebrautem Fingerhutextrakt behandet wurde, statt standardisiertes Digitalis zu verwenden.

Wir können annehmen, daß im Gegensatz zur reichlich unspezifischen Wirkung von Parfüm in der Zukunft Lockstoffe synthetisiert werden, die sich gezielt und mit garantiertem Erfolg einsetzen lassen. (Nachdem Östrogen die Hauptkomponente der Antikonzeptiva ist, kann man gespannt sein, wie sich das auf den sexuellen Appetit des Ehemannes auswirkt.) 

Die englische Zeitschrift >New Scientist< sah in dieser Entwicklung einen möglichen Knüller bezüglich der bis jetzt kaum verstandenen Faktoren, die das Verhalten von Gruppen und Gesellschaften kontrollieren. Der Autor fragt sich, ob Diktatoren der Zukunft mit entsprechenden Aerosolen, die von einer zentralen Verhaltensfabrik in jeden Betrieb und in jede Wohnung geblasen werden, ihre Untertanen kontrollieren können. Die Antwort darauf muß sicherlich nein lauten. Das ist nur in einer Welt möglich, wie sie Orwell in seinem Buch <1984> beschrieben hat. In jeder anderen Gesellschaft würde man das entsprechende Rohr mit einem Strumpf verstopfen. Viel interessanter ist die umgekehrte Möglichkeit. Jeder wäre damit in der Lage, seine sexuellen Bedürfnisse abzuschalten; asketische Anstrengungen werden hinfällig, um in völliger Keuschheit zu leben. 


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Das wäre sicher angenehm für die Teilnehmer einer Expedition, Astronauten oder andere Leute, die isoliert vom anderen Geschlecht leben müssen. In Gefängnissen, wo abnormes sexuelles Verhalten als Folge dieser Isolierung auftritt, wäre die Verwendung solcher Antiaphrodisiaka vielleicht gerechtfertigt. Angeblich wurde in der Vergangenheit zum selben Zweck Schwefelblüte verwendet.

Kommen wir auf das Hormon Prolaktin zurück, das bei Tieren einen gewissen Brutinstinkt auslöst. Injiziert man es Männchen, so reproduzieren sie das Brutverhalten ihrer Gattung. Der Mensch ist weniger instinktbeherrscht, und es wäre interessant, ob sich mit Hilfe einer Droge eine Rabenmutter in ein treusorgendes Hausmütterchen verwandeln läßt. Schließlich könnte ihr »unnatürliches« Verhalten aus einem konstitutionellen Mangel dieser Verbindung resultieren. In diesem Falle wäre die Verwendung gerechtfertigt, da es sich um die übliche Substitutionstherapie handelt.

Eine Form der psychischen Kontrolle war bereits Gegenstand heftiger Diskussionen. Der sogenannte Lügendetektor, für den der elektrische Widerstand der Haut, der Herzrhythmus und die Atemgeschwindigkeit Indizien der ausgestandenen Angst sind, wurde in manchen Staaten der USA 30 Jahre lang verwendet. Man wollte auf diese Weise erfahren, ob ein Zeuge die Wahrheit sagt. Die Ergebnisse waren fast immer unzuverlässig. Mancher der Vernommenen ängstigte sich vor Gericht nicht wegen einer Schuld. Andererseits gibt es Schuldige, die auf Grund einer krankhaften Veranlagung keinerlei Beziehung zu ihren Verbrechen haben und Aussagen ohne die für den Lügendetektor typischen Indizien machen.

Interessant ist, daß die Opfer solcher Verhöre wiederum künstliche Methoden anwenden können, um dieser Form der Inquisition zu widerstehen. So geschah es, daß sich die Bewohner von Newbury, Vermont, einem Verhör mit dem Lügendetektor unterziehen mußten. Sie standen im Verdacht, am gewaltsamen Tod eines dort ansässigen Farmers beteiligt gewesen zu sein. Der Farmer war sehr unbeliebt gewesen, und einige vermuteten deshalb, daß die Nachbarn Lynchjustiz geübt hatten. Die Leute, die mit dem Lügendetektor befragt werden sollten, sorgten jedoch vor und nahmen den Tranquilizer Meprobamat, bevor sie sich dem Test unterzogen. Eine Wirkung dieses Pharmakons besteht in einer Anhebung der Reizschwelle unserer Haut auf psychische Belastungen hin. Die Ergebnisse waren dementsprechend unbrauchbar.


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Wird der Mensch längere Zeit extremen Streßsituationen ausgesetzt, wie das im Falle der Gehirnwäsche geschieht, so ist es schwierig, Informationen vorzuenthalten. Zweifellos werden diese Methoden zu einer Vollkommenheit entwickelt werden (wenn sie es nicht längst sind), die jeden Versuch zu schweigen unmöglich macht. Hier kann nicht auf die Psychologie der zur Zeit angewandten Methoden näher eingegangen werden, doch sollten die mehr physiologischen Aspekte dieses Problemkreises, die bereits angedeutet wurden, untersucht werden. 

Es gibt im Gehirn gewisse Zentren, die Essen, Trinken, Schlafen und vielleicht noch andere Aktivitäten kontrollieren. Wird das entsprechende Zentrum gereizt, so frißt ein Tier, obwohl es satt ist, und trinkt, ohne durstig zu sein. (Man kennt ähnliches von Patienten, die einen Tumor oder andere Veränderungen in einem solchen Zentrum haben: sie essen ohne Unterlaß oder weisen das Essen zurück, obwohl sie hungrig sind.) Es ist unmöglich, sich diesem Reiz zu widersetzen. Wenn etwa sexuelle Instinkte auf diese Weise angeregt werden, sind sie übermächtig. Andere Zentren haben eine noch zentralere Bedeutung; reizt man sie, so ignorieren Ratten sowohl das Futter als auch das andere Geschlecht. Zur Zeit ist eine solche Stimulierung noch mit einem chirurgischen Eingriff verbunden. Man muß Elektroden ins Gehirn einführen oder gewisse Chemikalien injizieren. 

Aber wie wird es sein, wenn man durch Drogen oder andere nicht sichtbare Maßnahmen den Menschen zu etwas zwingt, das er eigentlich nicht will? Könnte ein Soldat, dessen Gehirn man auf diese Weise präpariert hat, einem Verhör widerstehen? Das ist sehr unwahrscheinlich. Professor James G. Miller, der Direktor des <Mental Health Research Institute> von Ann Arbor, erklärte: »Unser heute verwendeter Code für die Streitkräfte kann mit der Entwicklung auf dem Gebiet der Gehirnwäsche nicht mithalten... Einem Menschen zu befehlen, der Gehirnwäsche zu widerstehen, heißt soviel, wie von einem Narkotisierten zu erwarten, daß er aufpaßt.«

Dr. Jonathan O. Cole, der Direktor des >Psychopharmacology Service Center< des >National Institute of Health< ist in dieser Hinsicht optimistischer. Er behauptet, daß wir noch lange nicht in der Lage sind, die Wirkung solcher Drogen auf dem Papier festzulegen, denn die meisten der heute bekannten Pharmaka haben auf die einzelnen Patienten stark variierende Wirkungen. Daraus folgert er: »Ich halte es für unwahrscheinlich, daß man mit den heutigen Methoden eine Droge herstellen kann, die entweder in der Lage ist, gezielt die Freiheit des menschlichen Geistes zu gewährleisten oder ihn zu kontrollieren. Gleichzeitig hoffe ich zuversichtlich, daß man neue Drogen mit unterschiedlichen Wirkungen auf Gehirnfunktion und Verhalten bereits mit den heutigen Forschungsmethoden finden wird .. . Die Schwierigkeiten scheinen jedoch fast unüberwindlich zu sein.« Professor B. F. Skinner ist anderer Meinung. 


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Da unser Verhalten schon jetzt, oder wenigstens in naher Zukunft, kontrolliert werden kann, fordert er: »Es ist die Pflicht unserer Gesellschaft, das Problem einer Kontrolle des menschlichen Verhaltens anzugehen. Auf diese Weise können wir den Menschen in der von uns als wünschenswert erachteten Weise beeinflussen, bevor uns andere Gruppen zuvorkommen und vielleicht mit wirksameren Methoden- das Verhalten des Menschen in eine Richtung lenken, die nicht unseren Wertvorstellungen entspricht.« 

Es hängt alles davon ab, was wir mit den neuen Kenntnissen anfangen. Professor Miller warnt uns, daß die Entwicklung der Pharmakologie zu einer Tyrannei führen kann, die außerhalb unseres Vorstellungsvermögens liegt: »Vielleicht wird es gelingen, den Willen des Menschen mit chemischen Mitteln zu gängeln. Doch ist es nicht nötig, ihn zu einer mechanischen Puppe zu machen. Ebensogut kann man seine geistige Beweglichkeit, seine Individualität und Freiheit steigern.« 

Vielleicht ist die Furcht vor einer Vergrößerung der Gedächtnisleistung durchaus begründet, da sie zu einer unmenschlichen Gesellschaftsform führen kann. Wenn hier »menschlich« gesagt wird, so denken wir an uns selbst und an andere Bekannte. Die meisten sind von durchschnittlicher Intelligenz, unterliegen Irrtümern und Fehlurteilen, und Gefühle siegen bei ihnen oft über eine nüchterne Beurteilung der Fakten. Die Menschen der Zukunft aber, die die oben beschriebene Entwicklung durchleben, werden von uns so verschieden sein, daß wir ihnen gegenüber ähnlich befangen sein werden, wie kriegerische Ritter des 13. Jahrhunderts in einem modernen Zeichensaal oder in einem Golfklub. Andererseits ist es klar, daß die intelligenten Bewohner dieser Zukunfts­gesellschaft ihre Welt durchaus nicht als unmenschlich empfinden werden, da für sie menschlich gleichbedeutend mit ihrer Lebensweise sein wird.

Vielleicht können wir dieses Problem noch ein Stück weiter verfolgen. Der Mann auf der Straße neigt dazu, der Intelligenz zu mißtrauen. Er fühlt, daß hohe Intelligenz soviel bedeutet wie geringe emotionale Beteiligung und meint, daß bei fehlenden Emotionen der Verstand Entscheidungen trifft, die zwar logisch, aber nicht immer akzeptabel sind. Man kann sich nicht aus der Affäre ziehen, indem man sagt, daß eine wirklich intelligente Person auch die emotionalen Bedürfnisse anerkennen wird, denn etwas anerkennen und es selber empfinden ist schließlich nicht dasselbe. Man mag sich hier noch so sehr in philosophischen Haarspaltereien ergehen, doch läßt sich meiner Meinung nach die These nicht widerlegen, daß im Menschen ein gesundes Gleichgewicht zwischen Denken und Fühlen herrschen muß. Und oft fehlt es gerade daran. Daher ist es dringend notwendig, sich mit der vielleicht wesentlich schwierigeren Frage ebenso intensiv zu befassen, wie man gefühlsmäßig reife, verständnisvolle und ausgeglichene Individuen hervorbringt. Wenn diese frage vorher nicht geklärt wird, mag jedes Rezept, die Intelligenz der Menschen schnell anzuheben, unerwünschte, wenn nicht katastrophale Wirkungen haben.

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Neben diesem grundsätzlichen Sachverhalt besteht die Gefahr, eine Elitegruppe zu schaffen, die um so gefährlicher ist, weil es sich hier um eine wirkliche Elite handelt. Eine Gruppe von Menschen, der durch besondere geburtshelferische Maßnahmen (wie etwa die beschriebene Erhöhung des Sauerstoffgehalts im mütterlichen Blut) zu einer »Superintelligenz« verholfen wurde, könnte ein echtes Gefühl der Verwandtschaft mit anderen »Super-Hirnen« entwickeln. In Übereinstimmung mit Vorstellungen von Science Fiction-Schreibern, die gerne dazu neigen, ein ziemlich düsteres Bild von der Zukunft zu zeichnen, wäre es möglich, daß eine solche Elite, wenn sie erst einmal an der Macht ist, diese intelligenzfördernde Behandlung einer kleinen Minderheit — vielleicht nur ihren eigenen Nachkommen — vorbehält und so ein Zwei-Kasten-System errichtet. Indem man die Behandlung entsprechend variiert, könnte man eine Gesellschaft mit drei, vier und mehr Kasten unterschiedlicher geistiger Fähigkeiten auf einfache Weise herstellen. 

Auch wenn sich die oben aufgezeigten Vorhersagen nicht erfüllen, so bleibt doch die Tatsache bestehen, daß sich schon heute unsere Gesellschaft in zwei Gruppen teilt: jene mit intellektuellen Fähigkeiten und jene ohne. Wenn darüber hinaus die Industrienationen solche Methoden als erste einführen, dann wäre es möglich, daß sich der Unterschied zwischen den Entwicklungsländern und den Industrienationen noch weiter vergrößert.

Der französische Wissenschaftsminister Pierre d'Auger hat gefragt, ob es überhaupt neue Gebiete für ein Gehirn gibt, dessen Kapazität größer ist, als wir sie heute vom menschlichen Gehirn kennen. Man könnte genauso fragen, ob nicht ein vergrößertes Gehirn zu neuen Dimensionen gelangt, die wir uns heute überhaupt nicht vorstellen können. Als das Gehirn groß und komplex genug war, um die Probleme einer Sprache zu bewältigen, zweigte die Entwicklung des Menschen von der des Tieres ab. Menschen mit noch viel besseren Gehirnen könnten ungeahnte Fähigkeiten erlangen, die eine neue Art entstehen ließen, vielleicht der unsrigen gar nicht mehr vergleichbar.

Betrachtet man die Gehirnforschung als Ganzes, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß sie mehr soziale Probleme aufwirft als jede andere Forschungsrichtung auf dem Gebiet der Biologie. Professor Donald MacKay von der Keele Universität hat viele Veröffentlichungen und Artikel über die philosophischen und religiösen Gesichtspunkte geschrieben, die sich mit dem befassen, was wir heute über das Gehirn wissen. Er erklärte kürzlich im <Science Journal>:

»Die Möglichkeiten, die Ergebnisse der Gehirnforschung zu mißbrauchen, sind für viele Leute erschreckend. Könnte es nicht sein, daß wir hier die schlimmste Ausprägung der Büchse der Pandora vor uns haben, ein Geheimnis, dessen Entschleierung zur Zerstörung der mensch­lichen Gesellschaft führen würde?« 

Trotzdem meint er, es sei die Pflicht der Wissenschaftler, alles zu untersuchen, selbst dann, wenn niemand das Ergebnis voraussagen kann. Ich persönlich glaube, daß beide Haltungen richtig sind.

Außerdem bin ich keineswegs davon überzeugt, daß die Zukunft schrecklich sein wird. Zur Zeit sind die Voraussetzungen und die daraus gezogenen Schlüsse noch nicht logisch miteinander verknüpft, und deshalb wird meine Bemerkung vielen Leuten typisch erscheinen für den Optimismus, dem so viele Wissenschaftler erliegen.

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