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    8 - Die Zukunft — falls wir sie erleben   

Taylor-1968   --   PDF mit weniger Scanfehlern 

 

Spezielle Konsequenzen    2  Allgemeine Konsequenzen     3  Der Wissenschaftler und der Fluch der Gesellschaft

Fluch oder Segen der neuen Erkenntnisse     5  Biologische Slums   6  Das Glück und seine Voraussetzungen 

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Es gibt schätzungsweise etwa 200.000 Biologen auf der Welt. Die Zahl hängt natürlich bis zu einem gewissen Grad davon ab, wie man einen »Biologen« definiert. Der sensible Mensch, der über ihre gefährliche Aktivität nachdenkt, mag Besorgnis verspüren. Die Aussicht, mit einer Reihe derartiger Neuerungen fertig werden zu müssen, nimmt die Art eines Alptraumes an und zwingt zu der Frage:

Solche Fragen beweisen, daß die wesentlichsten Punkte nicht verstanden wurden. Wir erörtern nicht einfach eine Reihe neuer Verfahren, sondern die Tatsache, daß in der Biologie eine Revolution stattfindet. Die Dinge, die ich hier beschrieben habe, sind nur die hervorstechendsten Punkte, die ersten Früchte eines Durchbruchs auf breiter Front. 

Natürlich gibt es in der Biologie ebenso wie in der Physik noch zahlreiche ungelöste Probleme. Aber der Grad der Beherrschung, der nun schon erreicht ist, erfordert ein neues Verhältnis zwischen Biologie und Gesellschaft. Genau wie die Physik und die Chemie im vergangenen Jahrhundert wird sie sicher völlig neue Lebensbedingungen hervorrufen.

Es ist keineswegs deutlich, ob es ein glücklicheres und befriedigenderes Modell sein wird, und es ist noch nicht einmal klar, ob die Gesellschaft die Belastungen überlebt, die ihr damit aufgebürdet werden.

Jacques Piccard, der Sohn des Erfinders der tieftauchenden Glocke (Bathyscaphe), sagte vor kurzem bei einem Symposium am Stevens-Institut in Hoboken in New Jersey, er bezweifle ernsthaft, daß die Menschheit dieses Jahrhundert überdauern werde. Neben der atomaren Bedrohung betonte er vor allem die »weitverbreitete selbstmörderische Verunreinigung der Luft, die wir einatmen, des Wassers, das wir trinken, und des Landes, das wir bebauen«. Unsere gesamte Technologie trägt - seiner Ansicht nach - Schuld daran. 

Zu diesen Belastungen kommt nun noch die gesellschaftliche Gefährdung durch die moderne Biologie, die sich als das nicht unerhebliche I-Tüpfelchen erweisen kann. Die Frage, wann dies alles über uns kommt, verdient deshalb einige Beachtung.

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Natürlich kann niemand die Zukunft mit letzter Gewißheit voraussagen, und vielleicht sind einige der Ansatzpunkte, die wir heute noch optimistisch beurteilen, nicht realisierbar oder ihre Lösung liegt in so weiter Ferne, daß sie für uns heute nur geringe praktische Bedeutung haben. 

Andere aber werden sicherlich in sehr naher Zukunft an Relevanz gewinnen. Viele der technischen Methoden, die im Kapitel 2 beschrieben worden sind, stehen heute tatsächlich schon zur Verfügung, zum Beispiel die künstliche Eieinpflanzung. Und während ich diese Zeilen schreibe, treffen Neuigkeiten ein über einen Durchbruch auf dem Gebiet der Transplantation. Dr. Nossal, der neue Direktor des <Walter-Hall-Institutes> für medizinische Forschung in Melbourne, hat über eine Methode berichtet, den Körper gegen spezifische Fremdkörper unempfindlich zu machen, wenn man immer kleinere Bruchstücke eines Antigens injiziert. 

Es zeigt sich, daß die Intensität der Immunantwort mit der Größe des eindringenden Moleküls zusammenhängt. Wenn der Körper aber einmal ein Bruchstück des Antigens erkannt hat, das so klein ist, daß keine Immunantwort auftritt, so stellt er nachträglich seine Antikörperproduktion gegen das gesamte Antigen-Molekül ein. Auf Grund dieser Tatsache nimmt Nossal an, daß in den Jahren nach 1970 Organ­transplantationen ausgeführt werden können; die Beherrschung des Krebses und anderer Krankheiten wird nach Nossals Meinung ein oder zwei Jahrzehnte später erfolgen. Er fordert die internationale Forschung auf, die Reinigung von Antigenen intensiv zu betreiben, um nachzuprüfen, ob ein genügend kleines Molekül mit der richtigen Struktur entwickelt und damit die Immuntoleranz ausgelöst werden kann. »Wenn dies gelingt«, sagte er auf dem ersten internationalen Kongreß der Gesellschaft für Transplantationen, »so kann man Experimente beim Menschen vornehmen, die überprüfen, ob die Injektion von Antigenen eine Toleranz in Patienten herbeiführt, bei denen eine Organtransplantation vorgenommen werden soll.«

Weiterhin gibt es ermutigende Berichte über Gewebetypisierung (vgl. S. 60) und Anti-Lymphozyten-Seren. Dagegen würde ich persönlich keine Wette eingehen, die die Frage nach dem Erfolg einer unbeschränkten Verlängerung der Lebensdauer betrifft.


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Ich glaube zwar an die Möglichkeit, das Gedächtnis zu verbessern, dennoch bin ich ziemlich skeptisch gegenüber einer Übertragung von ganzen Gedächtnis­inhalten. Allerdings hat man vor kurzem einen Faktor isoliert, der das Nervenwachstum kontrolliert. Dies macht es äußerst wahrscheinlich, daß uns drastische Maßnahmen gelingen werden, um die Intelligenz zu vergrößern; vorausgesetzt, die Behandlung kann im fetalen Stadium oder in den ersten Wochen nach der Geburt erfolgen.

Auf Seite 217 habe ich die Zukunftsaussichten in drei Gruppen eingeteilt: Entdeckungen, die uns 1. in den nächsten fünf oder zehn Jahren begegnen werden (zum Teil verspüren wir ihre Auswirkungen heute schon); 2. in den nächsten fünfzig Jahren und 3. in unbestimmter Zukunft.

Die erste Phase, die wir alle noch erleben werden, weil kein Hinauszögern mehr möglich ist, umfaßt zusätzlich zu den Transplantationsverfahren die parthenogenen Geburten, die verlängerte Aufbewahrung von menschlichen Eiern und Samenzellen, den Aufschub des Todes, die Auswahl des Geschlechtes bei der Nachkommenschaft und die sinnesverändernden Drogen. Es ist so gut wie sicher, daß wir uns mit diesen Dingen befassen müssen.

Für die zweite Phase vermute ich, daß all diese Probleme schärfer hervortreten: Tiefschlaf und der hinausgezögerte Tod lassen sich über längere Zeiträume aufrechterhalten; es gibt unbegrenzte Transplantations­möglichkeiten und eine sehr große Auswahl an sinnesverändernden Verfahren (neben Drogen elektrische Behandlungen, geruchlose Odeurs und ärmliches). Die künstliche Placenta, die in der ersten Phase noch nicht gelungen ist, wird nun ausgebildet sein und die auf natürlichem Wege erzeugte Frucht entwickeln. Wir werden zusätzlich in dieser Phase erleben, wie Leben allmählich künstlich nachgebildet wird. Untereinheiten der belebten Materie, die man hauptsächlich durch Aufspaltung lebender Systeme erhalten wird, lassen sich nun zusammenfügen, um lebende Organismen herzustellen; mit der Zeit wird diesen ein ständig wachsender Anteil vollsynthetischen Materials inkorporiert werden. Auf dem Gebiet der unverminderten jugendlichen Kraft wird ein Vorstoß gemacht werden. Tiefschlaf und andere Aufbewahrungsmethoden werden in die Praxis umgesetzt. Die ersten geclonten Tiere werden hergestellt.

Die völlige Synthese des Lebens wird meines Erachtens erst in der dritten Phase erreicht werden, ebenso wie die Steuerung des Alterns und die Isolierung des menschlichen Gehirns. Vor allem glaube ich, daß es zumindest sehr lange dauern wird, bis die genetische Baukunst in der Praxis anwendbar ist. Vorausgesetzt, daß nicht Krieg, Politik oder Katastrophen den gegenwärtigen Verlauf der Entwicklung drastisch ändern, wird all dies erfolgreich ablaufen — noch innerhalb der Lebenszeit der heutigen Jugend und einiger, die heute schon nicht mehr so jung sind.


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Tabelle der Entwicklungen

Die Angaben beziehen sich auf die technische Vollendung und nicht auf die allgemeine Zugänglichkeit,
die von gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Erwägungen abhängt. 

 

Phase I: bis 1975

Ausgedehnte Transplantationen von Gliedmaßen und Organen

Künstliche Befruchtung menschlicher Eier

Implantationen befruchteter Eier in die Gebärmutter

Unbegrenzte Aufbewahrung von Eiern und Samenzellen

Beliebige Auswahl des Geschlechts der Nachkommen

Fähigkeit der Hinauszögerung des klinischen Todes

Sinnesverändernde Drogen: Steuerung des Wunschhaushaltes

Auslöschung des Gedächtnisses

Unvollkommene künstliche Placenta

Künstliche Viren

Phase II: bis 2000

Ausgedehnte Sinnesveränderungen und Wiederherstellung der Persönlichkeit

Erhöhung der Intelligenz bei Mensch und Tier

Gedächtnisspritzen und Gedächtniskorrektur

Vollendete künstliche Placenta und wirkliche Baby-Fabriken

Nachbildung des Lebens: Wiederherstellung von Organismen

Tief schlaf und verlängertes Koma

Anhaltende jugendliche Kraft

Die ersten geclonten Tiere

Synthese von einzelligen Organismen

Künstliche Neubildung von Organen

Mensch-Tier-Chimären

Phase III: nach 2000

Beherrschung des Alterns: Ausdehnung der Lebensdauer

Synthese von komplizierteren lebenden Organismen

Vom Körper abgetrennte Gehirne

Verbindung Gehirn—Computer

Baseneinschub und Basendeletion in Gene

Geclonte Menschen

Verbindung Gehirn—Gehirn

Mensch-Maschine-Chimären

Unbegrenzter Aufschub des Todes

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Eine kürzlich erschienene objektive Untersuchung der gegenwärtigen Richtung in der modernen Biologie kam zu ähnlichen Ergebnissen. Zweiundachtzig Experten beteiligten sich an der Untersuchung; die Leitung hatten Olaf Helmer von der <Rand Corporation> und T. J. Gordon von der <Douglas Aircraft>, die die Vorhersagen der Teilnehmer prüften und ausarbeiteten. Die Untersuchung setzt persönlichkeitsverändernde Drogen erst sechzehn Jahre später an, dagegen erwartet sie, optimistischer als ich, die Erzeugung von einfachen Lebensformen schon für das Jahr 198g und die Behebung ererbter Schäden durch Genregulierung für das Jahr 2000

In einigen Punkten ist sie vorsichtiger als ich, denn sie glaubt an ein lang anhaltendes Koma nicht vor 2050, an die Vergrößerung der Intelligenz durch Arzneimittel erst im Jahr 2012, durch Gehirn-Computer-Verbindungen bald danach. Übereinstimmend mit mir gibt sie für die Ausdehnung der Lebensdauer einen sehr späten Zeitpunkt an; die heute kalkulierte Zeit sei um fünfzig Jahre überschritten. Die künstliche Nachbildung von Gliedmaßen und Organen wird auf das Jahr 2007 geschätzt. Meiner Meinung nach ist der Zeitpunkt für die Aufzucht intelligenter Tiere (die den menschlichen Arbeiter ersetzen) ziemlich willkürlich erst auf das Jahr 2050 gelegt: ich persönlich würde dies früher erwarten als Arzneien, die die menschliche Intelligenz verbessern, denn diese Mittel werden, wie das heute schon üblich ist, wahrscheinlich zunächst an Tieren ausprobiert, bevor sie beim Menschen angewendet werden.

So erscheint es sicher, daß Menschen mittleren Alters viele dieser Fortschritte im Laufe ihres Lebens noch erleben werden und die heutige Jugend fast alle.

Inwieweit wird das tatsächlich Probleme mit sich bringen?

Es ist ziemlich einfach, aus diesem Sachverhalt eine Sensation zu machen, wie es viele Autoren schon getan haben. So deutet zum Beispiel A. Rosenfeld in >Life< an, daß Frauen später einmal in eine Art Supermarkt gehen können, der neugeborene, tiefgekühlte Embryos anbietet, und sich je nach Wunsch den passenden kaufen. Vermutlich wird man auf der Verpackung ein bezauberndes, farbiges Bild des gewünschten Nachwuchses finden, ebenso auf einer Packung künstlichen Samens. Ich persönlich halte dies für sehr unwahrscheinlich. Es gibt heute schon unterkühlten Samen, aber er wird nicht in billigen Warenhäusern oder Selbstbedienungsläden angeboten. Man erhält ihn nur nach Ermessen eines Arztes, und dieser zeigt meist große Zurückhaltung. Eine Frau, die sich einen künstlichen Embryo wünscht, wird zweifellos den gleichen Weg einschlagen und ihren Arzt davon überzeugen müssen. Sollte dieses Verfahren einmal gebräuchlich werden, braucht es wohl nur geringer Überredungskunst; vielleicht ist es dann so, wie wenn man heute eine Spritze gegen Pocken verlangt. 


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Unternähme eine Firma trotzdem den Versuch, tiefgefrorenen Samen auf den Markt zu bringen, so würde sicher der Staat abwehrend eingreifen und entsprechende Gesetze beschließen müssen. Keine Firma würde es wagen, ihren Ruf durch unbesonnene Maßnahmen auf diesem Gebiet zu verlieren. Dennoch sind die Realitäten alarmierend.

Um der Wirklichkeit gerecht zu werden, sollten wir zwischen dem Fortschritt unterscheiden, dessen Probleme im Rahmen der Gesellschaft zu bewältigen sind, und jenem Fortschritt, der, wie die Atombombe in der Physik, Probleme einer völlig neuen Art erzeugt.

Zu der ersten Kategorie würde ich zum Beispiel die Vorherbestimmung des Geschlechts der Nachkommen, die Verwendung von aufbewahrten Eiern und Samenzellen und selbst die Entwicklung von Babys an einer künstlichen Placenta zählen. Die Fähigkeit, das Geschlecht zu bestimmen, könnte möglicherweise zu einem sehr großen Mißverhältnis zwischen den beiden Geschlechtern führen, vor allem in Ländern wie Indien oder China, wo Söhne in hohem Maße Töchtern vorgezogen werden. Auf jeden Fall wäre eine Abnahme der Bevölkerung die Folge, und zwar eine wünschenswerte.

Professor Lederberg hat die Ansicht geäußert, daß das Verhältnis der Geschlechter sehr stark schwanken könnte, falls eine »Über-Korrektur« infolge der allgemeinen Tendenz zu einem Extrem eintreten würde. Aber mit Hilfe von Computern sollte eine ausreichende Vorhersage nicht allzu schwierig sein, und es gibt noch keine Hinweise darüber, daß nicht nur eine Minderheit in der Bevölkerung sich solcher Methoden bediente.

Selbst das Aufziehen von Säuglingen an einer künstlichen Placenta bringt keine unüberwindlichen Probleme mit sich. Sicherlich ist es eine echte Aufgabe, die so geborenen Kinder mit der notwendigen elterlichen Liebe und Sorgfalt zu versehen. Und es gibt keine moralische Rechtfertigung, auch nur eines dieser Kinder einer unzulänglichen Pflege auf diesem Gebiet auszusetzen. Die Anforderungen sind leicht zu erkennen, und die Anzahl dieser Fälle sollte möglichst klein gehalten werden. Die meisten Menschen werden es vorziehen, Kinder auf normalem Wege zu erzeugen, oder, wenn dies nicht möglich ist, durch künstliche Eieinpflanzung.

Auf der anderen Seite gibt es Entwicklungen, die ich beschrieben habe und die weit fundamentalere Folgen zeitigen als die obigen — selbst wenn wir einige der phantastischsten Visionen nicht mitzählen.

Vier Tendenzen erscheinen mir besonders furchtbar.

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Zunächst die wahrscheinlich schon bald erfolgende Entwicklung von Methoden, die die Intelligenz auf dramatische Weise erhöhen.

Wenn einmal einige hochintelligente Kinder geboren worden sind und früh akademische Ehren erringen oder die begehrenswertesten Stellen im Beruf erlangen, dann wird überall das Geschrei der Eltern einsetzen, die eigenen neugeborenen oder noch ungeborenen Kinder auf gleiche Weise zu behandeln. Auf Grund nationaler Interessen könnte sich der Staat dazu entschließen, den Wunsch zu fördern. Bei einem umfangreichen Anstieg des Intelligenzniveaus muß aber auch das gesamte Erziehungssystem abgeändert werden. Bis es dazu kommt, wird nur eine Elitegruppe vorhanden sein. Jedoch findet die neue Rasse der Supergehirne vielleicht sehr bald die Antworten auf die Probleme, die durch ihre eigene Existenz geschaffen wurden.

Zweitens würde eine drastische Ausdehnung der Lebensdauer oder selbst der jugendlichen Kraft gewaltige gesellschaftliche und wirtschaftliche Rückwirkungen hervorrufen. Das Gesundheitswesen müßte neu geplant und das Pensionierungsalter geändert werden. Die wirtschaftlichen Märkte würden umstrukturiert. Zusätzlich würde das Leben der Jugend durch die Vorherrschaft der geschäftigen älteren Menschen einen ernsthaften Stoß erleiden. 

Dieser Reibungspunkt wird schon bei jungen Ehepaaren deutlich, die das Geld ihrer Eltern erst lange nach dem Zeitpunkt erben, an dem sie es am dringendsten hätten brauchen können. Wenn Eltern 80 Jahre alt werden, so sind ihre Kinder schon über 50 Jahre alt, bevor sie erben, und dann sind natürlich die Kosten einer Familiengründung längst bestritten. 

Wenn 150 Jahre das Durchschnittsalter wird, mit dazwischenliegenden Generationen von 120, 90 und 60 Jahren, so werden die meisten jungen Paare nicht nur Großeltern, sondern auch Urgroßeltern und Ur-Ur-Großeltern besuchen, sich um sie kümmern und vielleicht auch beherbergen müssen. 

Auf die weiteren zwei Entwicklungsmöglichkeiten will ich nur kurz hinweisen, da sie schon ausführlich erörtert worden sind: die Aussicht auf ein unendlich langes Hinauszögern des Todes und auf die Fähigkeit, die Vererbung zu modifizieren. Die Volkswirtschaftler sind dem ersten Problem nicht gewachsen, und die Politiker auch dem zweiten nicht.

 

   1  Spezielle Konsequenzen   

 

 wikipedia  Alfred_North_Whitehead  1891-1947       en.wikipedia  Russell_Brain,_1st_Baron_Brain  1895-1966 

Um was handelt es sich nun wirklich? Die Behauptung vieler führender Naturwissenschaftler, daß diese Veränderungen eine ernste Herausforderung und sogar eine Bedrohung darstellten, ist schon fast zu einer gebräuchlichen Redensart geworden. Der Sachverhalt ist durch den verstorbenen Lord Brain, den berühmten englischen Neurologen, in seinem Buch »Science and Man« bis in viele Einzelheiten genau untersucht worden. 

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Er weist darauf hin, daß Alfred North Whitehead schon 1932 erklärt hat:

»Es herrscht allgemein ein sehr verworrener Geisteszustand. Die zunehmende Wandlung der menschlichen Umwelt, die sich aus den Fortschritten der wissenschaftlichen Technologie ergibt, wird aus einer überkommenen Geisteshaltung gedeutet, die ihre Rechtfertigung durch die Theorie einer festgelegten Umwelt erhält.«

»Diese Wahrheit«, so erläutert Lord Brain,

»ist in überwältigender Weise durch die Geschichte der dreißig Jahre, die seit Whiteheads Äußerung vergangen sind, veranschaulicht worden. Die Möglichkeiten der Naturwissenschaft und Technologie zum Nutzen der gesamten Menschheit sind beinahe unvorstellbar groß, aber die Vorbereitungen, die wir zu ihrer Verwendung und ihrer Entwicklung treffen, sind erbärmlich gering.«

Er fährt fort:

»Die Bevölkerungszunahme ist ein hervorstechendes Beispiel für unser Versagen, die Folgen der wissenschaftlichen Entwicklungen vorherzusehen und sich darauf vorzubereiten.«

Betrachten wir etwa den Bedarf an Ärzten.

»Es ist klar, daß wir in dreißig Jahren sehr viel mehr Ärzte benötigen. Dies bedeutet: mehr medizinische Fakultäten. Es dauert mindestens fünfzehn Jahre, um einen Medizinstudenten im ersten Semester zu einem Facharzt auszubilden.« 

Daraus folgt, daß wir in jedem fortschrittlichen Land unverzüglich damit beginnen müssen, die Zahl der Universitäten bedeutend zu erhöhen. Wir tun dies nicht. Die Propheten aber, die diese aufschreckenden Warnrufe ausstoßen, vermitteln uns nicht viel, worüber sich nachdenken läßt; sie drücken sich undeutlich darüber aus, wie diese Veränderungen unser Leben beeinflussen können und was wir dagegen unternehmen sollen.

So möchte ich in diesem letzten Kapitel versuchen, mit größerer Ausführlichkeit, als es die meisten Propheten wagen, das auszudrücken, was meiner Meinung nach die Folgen der biologischen Neuerungen sein werden.

Die meisten Fachleute haben das Gewicht auf die moralischen Verwicklungen gelegt, aber diese lösen sich meist von selbst. Es sind fast immer die Moralisten, die darauf beharren, am meisten erdulden zu müssen — und nicht die Moral selbst. Kanonikus Tiberghien sagte dazu: »Moralisten müssen vielleicht zu diesen Fragen Stellung nehmen, aber wehe der Welt, wenn sie sich untereinander nicht einigen können, nachdem man sie um Rat gefragt hat.« 

Moralsysteme, die fest auf der goldenen Regel gegründet sind, brauchen nicht berührt zu werden, selbst wenn man sie vielleicht neu formulieren muß; denn Humanität wurzelt in einer Definition des Menschen, die — um es vorsichtig auszudrücken — angreifbar ist, wie die Biologie gezeigt hat. 


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Aber Moralsysteme, die unvernünftige, überholte Verbote beibehalten, weil sie tiefverwurzelte, unbewußte Vorurteile im Menschen beschwichtigen und danach trachten, sie mit göttlicher Autorität gutzuheißen, werden durch die Ereignisse einfach überrundet, wie es in entscheidenden Augenblicken stets der Fall gewesen ist. Die Gesetze, die sie unterstützen, werden sich entweder selbst umgestalten oder sie werden nicht mehr beachtet. Einem Aspekt, der meiner Ansicht nach von höchster Wichtigkeit ist, wurde bisher nur wenig oder gar keine Beachtung geschenkt: ich meine den volkswirtschaftlichen Gesichtspunkt.

Ich sehe voraus, daß bei uns schon bald ein ungeheurer Bedarf an biomedizinischen Hilfsmitteln und Dienstleistungen entsteht, die ich beschrieben habe — lassen wir dabei andere, die später noch entwickelt werden, außer acht. Ein großer Teil der Leistungsfähigkeit der Nation wird schließlich dazu bestimmt sein, prothetische Geräte, Gehirn-Behandlungen, Transplantations-Operationen usw. zu liefern. Nach Schätzungen werden in den USA einmal täglich 1500 Transplantationen verlangt werden. Wenn die Gesellschaft nur widerwillig diesem Bedarf nachkommt, so könnte die Antwort sehr heftig ausfallen. Die Menschen besitzen eine mächtige Antriebskraft, wenn es um ihre Gesundheit, ihre Überlebenschance und die Zukunft ihrer Kinder geht.

Einige Leser glauben vielleicht, daß dieses Problem sich von selbst lösen wird, indem sich bei steigendem Bedarf die Produktions-Maschinerie anpaßt. Solche Selbstgefälligkeit ist ungerechtfertigt. Das Problem ist bereits akut, die Produktions-Maschinerie ist in ihrem Anpassungsvermögen schwerfällig, während Menschen täglich sterben.

Die künstlichen Nieren verdienen hierbei sorgfältigste Beachtung, denn sie sind nicht nur für die Medizin bedeutungsvoll, sondern sie liefern uns als erste Errungenschaft in einer Reihe ähnlicher Fälle einen Hinweis, wie die weitere Entwicklung verläuft. Betrachten wir die Zahlen. In Großbritannien sterben jedes Jahr etwa 7000 Menschen an Nierenkrankheiten. Wir schließen einmal alle Menschen über 55 Jahre und unter 16 Jahre aus und schätzen vorsichtig, daß unter den 7000 Menschen nur 2000 für eine Behandlung mit künstlichen Nieren in Frage kommen, an die sie zweimal in der Woche angeschlossen werden müssen. Selbst wenn jeder Patient nur fünf Jahre überleben würde, so ergäbe das etwa 10.000 Patienten, die mit künstlichen Nieren am Leben erhalten werden — die durchschnittliche Überlebenszeit könnte jedoch viel länger sein als fünf Jahre. Die ersten 2000 Menschen würden nach einer vorsichtigen Schätzung ungefähr 35 Millionen DM an Unterhaltungskosten erfordern, das wären für 10.000 Patienten etwa 175 Millionen DM.*

* England gab früher jährlich etwa 500 Millionen DM für Tuberkulose-Patienten aus und wendet heute immer noch 285 Millionen DM auf, um geistig behinderte Kinder zu versorgen; so ist also die Beschaffung der erforderlichen Mittel nicht vollkommen ausgeschlossen.


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Die Zahl würde sich natürlich vermindern, wenn eine Nierentransplantation gelänge — dazu wäre eine Verbesserung der chirurgischen Möglichkeiten, völlig keimfrei zu arbeiten, nötig. Um bis 2000 Patienten jährlich operieren zu können, müßte die gegenwärtige chirurgische Praxis um ein Vielfaches angehoben werden, ebenso die Ausbildung zahlreicher Ärzteteams. Es gibt aber kein Reservoir an nichtbeschäftigten Chirurgen, Anästhesisten und Krankenschwestern, sie müßten erst geworben und von Beginn an ausgebildet werden, ein Prozeß, der viele Jahre erfordert.

Im Falle der Vereinigten Staaten ist geschätzt worden, daß es bis zu 20.000 (legt man 2000 Patienten mit einer mittleren Überlebensdauer von 10 Jahren zugrunde) oder 150.000 (bei 5000 Patienten pro Jahr mit einer Überlebensdauer von 30 Jahren) Menschen geben wird, die künstliche Nieren beanspruchen: bei der etwas vorsichtigen Zahl von 20.000 würden sich die jährlichen Kosten auf etwa 560 Millionen DM belaufen.

»Tatsächlich aber geschieht folgendes: nur ein winziger Teil der Patienten mit unheilbarem Nierenschaden wird an eine künstliche Niere angeschlossen oder erhält eine transplantierte Niere. Einerseits liegt dies am Mangel an Geld und an Apparaturen, andrerseits steht kein geeigneter lebender Spender oder die Niere eines gerade Verstorbenen zur Verfügung. Und deshalb sterben sie, oft noch sehr jung.« Dies sind die Worte von Professor Woodruff, und er fährt fort: »Ich kenne das Ausmaß dieses Problems, aber ich bin erstaunt, daß so viele Leute diesen unnötigen Todesfällen so gleichgültig gegenüberstehen.«

Diese Gleichgültigkeit entsteht meiner Meinung nach aus Unkenntnis. Viele Betroffene wissen nicht, daß ihr eigenes Leben oder das ihrer Freunde und Verwandten tatsächlich gerettet werden könnte. Wenn diese Erkenntnis ins Bewußtsein gelangt, so mag es einen großen öffentlichen Skandal geben. Aber all dies bezieht sich nur auf das begrenzte Gebiet des Nierenersatzes. Wenn Leber, Gliedmaßen, innere Sekretionen und selbst das Herz hinzukommen, so wird diese Belastung alles übertreffen, was wir uns vorstellen können. Die Gesellschaft wird sich entscheiden müssen, ob sie Leben und Gesundheit des einzelnen den Autobahnen und Mondraketen vorzieht, und sie wird wohl das erstere vorziehen.


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Ein Zeichen der Zeit ist die zunehmende Anzahl von Patienten-Organisationen — zum Beispiel für Patienten, die an zahlreichen Sklerosen und ähnlichen tödlichen Krankheiten leiden. Solche Organisationen dienen einem allgemeinnützlichen Zweck, da sie darauf achten, daß die Möglichkeiten für Forschung und medizinische Behandlung nicht vernachlässigt werden; sie könnten auch politisch bedeutsam werden, ähnlich wie die Gewerkschaften in der Vergangenheit.

In den USA hat man noch eine interessantere Tendenz festgestellt: die Gründung von Gesellschaften zur Lebensverlängerung, etwa das >Prolonge-vity-Institute< und die Gesellschaft für künstliche innere Organe.

Wir sehen hier also eine Gruppe, die einen öffentlichen Druck auf die biomedizinische Forschung ausübt; das gleiche taten vor dreißig Jahren die amerikanische »Gesellschaft für Raketentechnik« und die britische »Gesellschaft für interplanetarische Fragen« auf ihrem Gebiet. Ihre Initiativen führten zu den nationalen Luftfahrt- und Weltraum-Behörden. Wird die Initiative der neuen Gesellschaften zu der Errichtung einer nationalen biomedizinischen Behörde führen?

Gegenwärtig wird oft behauptet, daß uns eine »Mathematik« fehlt, die über »Gnade oder Ungnade« entscheidet, und mit der wir berechnen können, wer aus Tausenden von Leidenden das Vorrecht erhält, durch die spärlichen medizinischen Möglichkeiten gerettet zu werden. In Seattle, wo die ersten Versuche mit künstlichen Nieren unternommen worden sind, hat man es als notwendig erachtet, einen Bürgerausschuß zu bilden, um diese Urteile zu fällen. Dies ist zweifellos — zumindest zum Teil — auf das natürliche Verlangen der Ärzte zurückzuführen, die schreckliche und höchst ungerechte Belastung zu beseitigen, derartige Entscheidungen allein treffen zu müssen. In England ist eine ähnliche Situation in Birmingham entstanden, und der Gesundheitsminister hat Ratschläge erteilt, wie seiner Meinung nach die Patienten ausgewählt werden sollten. Wenn mehr künstliche Nieren zur Verfügung stehen, so wird sich dasselbe auf einem anderen Gebiet wiederholen. Ich persönlich kann kaum glauben, daß dies von den Betroffenen ruhig hingenommen wird.

Die Antwort der Leute, die die Entscheidungen zu treffen haben, wird darin bestehen, Maßstäbe einzuführen, die möglichst viele Menschen von der Behandlung ausschließen: es darf keine weitere Krankheit vorliegen, jüngere Personen werden bevorzugt, usw. Diese Maßstäbe werden die fürchterliche Verantwortung beseitigen, auf Grund des Gesamteindruckes des zu behandelnden Menschen entscheiden zu müssen. Wenn man zum Beispiel weiß, daß ein Kandidat ein Aufwiegler zum Rassenhaß ist, während der andere sein Leben in den Dienst seiner Mitmenschen gestellt hat, so ist die Tendenz wahrscheinlich, eher den letzteren als den ersteren zu retten.


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Tatsache ist natürlich, daß wir keine »Mathematik der Gnade oder Ungnade« benötigen — was wir benötigen, sind mehr dieser sogenannten Dialyse-Apparate, also künstliche Nieren. In den Vereinigten Staaten widmete sich Dr. Beiding H. Scribner als Vorsitzender der amerikanischen <Gesellschaft für künstliche innere Organe> in einer Ansprache den moralischen und ethischen Problemen, die durch die vierjährigen Arbeiten mit künstlichen Nieren in Seattle aufgedeckt worden sind. Er erklärte, daß es »Unheil herausfordern« würde, wenn man diesen Problemen nicht aufrichtig ins Gesicht sähe. Trotz der Möglichkeiten in Seattle seien mehr als 10.000 Patienten an fehlender Behandlung gestorben. In den gesamten USA gab es zu jener Zeit (1964) etwa 50 bis 100 Menschen, die behandelt wurden. Patienten, die es lernen würden, sich selbst zu behandeln, hätten eine Chance zu leben, die anderen nicht. Er stellte weiterhin fest, daß sogar jener Patient, dessen Krankheit nicht mehr zu heilen sei, dank einer künstlichen Niere mit Würde und einem Minimum an Schmerzen sterben könnte. Ohne künstliche Niere führt die Urämie zu einem langsamen qualvollen Tod — »einer der entsetzlichsten, die man kennt, manchmal mit vielen Monaten heftigen Leidens und großer Anstrengung«.

Anfang 1967 kündigte der englische Gesundheitsminister Kenneth Robinson öffentlich an, daß das englische Gesundheitswesen künstliche Nieren-Apparate und das zugehörige Bedienungspersonal so schnell wie möglich liefern sowie die notwendigen Gebäude zur Verfügung stellen würde — aber all dies ginge zwangsläufig nur langsam vor sich. Er gab bekannt, daß sich die Zahl der Menschen, die laufend in Behandlung stehen, auf 116 beläuft und daß etwa weitere 60 durch neue Geräteeinheiten, die sich ihrer Vollendung näherten, behandelt werden könnten. Weniger als 200 aus dem potentiellen Bedarf von mindestens 2000: das bedeutet, jährlich 1800 Menschen zum Tod zu verurteilen infolge mangelnder Vorausplanung des Gesundheitsministeriums. (Dr. H. de Wardener vom >Charing Cross Hospital Medical School< meint, das Raumproblem diene als Ablenkungsmanöver.) 

Für mich ist es faszinierend, daß diese erschreckende Ankündigung vom Unterhaus und der Öffentlichkeit mit äußerster Ruhe hingenommen wurde. Ich glaube, daß in einem Vierteljahrhundert jeder Politiker bei einer ähnlichen Äußerung, die so viel Ungeschicklichkeit zeigt, durch die öffentliche Empörung aus seinem Amt gejagt wird. Wenn wir jetzt nicht handeln, könnte die gleiche Situation auf vielen anderen Gebieten wiederkehren. Das nächste wird wahrscheinlich die Transplantations-Chirurgie sein, und wir entdecken plötzlich, daß es bei weitem nicht genügend Chirurgen und sterile Stationen gibt, um nicht nur die Nierenpatienten, sondern auch Herz- und Lungen-Patienten zu retten.


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Folgende Fragen sind zu stellen: Ist der politische Apparat und der wirtschaftliche Apparat ausreichend, um der neuen Situation gewachsen zu sein?

Regierungen werden für den Zeitraum von vier oder fünf Jahren gewählt, und sie haben die Schwierigkeit, viel weiter in die Zukunft planen zu müssen. Sie dürfen sich nicht zu sehr von der öffentlichen Meinung entfernen, selbst wenn sie es wollten, und sie werden durch ihr Verlangen beeinflußt, bei der nächsten Wahl wieder an die Macht zu gelangen. Überdies setzen sie sich aus Laien zusammen, die die Wählerschaft nach ihrer Kenntnis der jeweils vorhandenen Lage repräsentieren, nicht aber nach der Fähigkeit, die Zukunft zu beurteilen. Wenn sie sich von Fachleuten Rat holen, so verwerfen sie ihn fortwährend, sobald es dem Bedarf des Augenblickes zuwiderläuft, wie die Geschichte wiederholt gezeigt hat.

Ein besonders kritisches Beispiel für die Unfähigkeit der Regierungen, die großen soziologischen Streitfragen zu bewältigen, zeigt das Übervölkerungs­problem. 

Regierungen entscheiden sich immer für einen Bevölkerungszuwachs, da ein Rückgang der Bevölkerung wirtschaftliche Schwierigkeiten erzeugt. Auch die Rolle der Industrie kann durch diese Entwicklungen tiefgehend getroffen werden. Die Industrie ist darauf ausgerichtet, verhältnismäßig handliche Gegenstände zu liefern, die zu einem festen Preis verkauft werden können. Sie könnte deshalb zum Beispiel sehr leistungsfähige Herz- und Glieder-Prothesen herstellen. Sie ist dagegen kaum in der Lage, medizinische Dienstleistungen zu liefern, die Behandlungen zur Erhöhung der Intelligenz oder zur Lebensverlängerung einschließen. Obwohl in den vergangenen Zeiten die Krankenhäuser oft durch private oder wohltätige Unternehmungen eingerichtet wurden, müssen sie in der modernen Welt als öffentliche Verpflichtungen der Stadt oder des Staates gelten. Aber wenn die Zukunft biomedizinische Hilfe bringt, die genaugenommen nicht unbedingt notwendig ist — Gehirnbehandlungen sind ein gutes Beispiel —, wird diese dann von staatlichen oder privaten Unternehmungen geleistet werden? Wenn die Biomedizin größere Wirksamkeit erlangt, so wird sie aus dem Staat einen Großunternehmer machen.

Die neue Biomedizin kann zu Problemen auf internationaler wie auch auf nationaler Ebene führen. Die erste Streitfrage ist eine moralische: Ist ein Land berechtigt, für sich selbst erstklassige Leistungen wie Gehirn-Behandlung oder Lebensverlängerung zu beanspruchen, während anderswo Menschen an Unterernährung sterben und die Lebenserwartung zwischen 20 und 30 Jahren liegt? 


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Selbst wenn es sich moralisch rechtfertigen ließe, so bliebe der politische Sachverhalt schwierig. Überdies werden die Auswirkungen solcher Entwicklungen unvermeidlich den Graben zwischen den Entwicklungsländern und den hochindustrialisierten Ländern vertiefen. Wenn letztere ihr Intelligenzniveau erhöhen, werden sie um so eher die unterentwickelten Länder übertreffen. Die Führer solcher Länder werden sich beeilen, diese Errungenschaften ebenfalls zu übernehmen. Es werden eindringliche Forderungen gestellt werden, um in den Besitz der notwendigen Kenntnisse zu gelangen, und zweifellos werden die Regierenden selbst die allerersten sein, die sich einer geistigen und körperlichen Behandlung unterziehen. Die Nachzügler, die durch die verbesserten Verfahren einen noch größeren geistigen und körperlichen Aufschwung erhalten, werden dann wohl die zuerst Behandelten aus ihren Stellungen verdrängen, und der politische Erfolg wird sich danach richten, wer die besten Ärzte hat.

In gleichem Maße wird die politische Selbstverteidigung davon abhängen, ob man seinem Gegner einen solchen Düsenstart verweigert. Die Medizin wird auf eine Weise in die Politik hineingezogen werden, die an die Renaissance erinnert — eine zauberhafte Aussicht.

Die eben erwähnten Beispiele machen die Frage nach der Zukunftsplanung höchst anschaulich, es handelt sich um Leben und Tod, und die Zahl der davon betroffenen Menschen ist ziemlich groß. Die Meinung, daß sich die Situation schließlich von selbst ordnet, gibt jenen, die selber oder deren Verwandten sterben, nur geringen Trost. Die rechtlichen und gesellschaftlichen Verwicklungen sind weniger spektakulär und schwieriger zu bestimmen — ein Todesfall erscheint in den nationalen Statistiken, ein Leben voller Elend dagegen nicht —, aber sie sind auf ihre Art ebenso bedeutend. 

Die Gesetze versagen in vielen entscheidenden Punkten, wie wir gesehen haben — bereits bei der einfachen Frage, ob ein durch künstliche Befruchtung geborenes Kind legitim ist. Wenn die Juristen ein halbes Jahrhundert brauchen, um die Gesetze zu modernisieren, damit sie den neuen Verhältnissen vernünftig und unzweideutig angepaßt sind, so werden Tausende von Menschen unnötigen Kummer, Ausgaben und Entbehrungen erleiden. Es gibt keinerlei Entschuldigung für eine Politik des Abwartens; aber genau die wird betrieben. Soviel ich weiß, hat keine Regierung und keine Juristengruppe irgendeine Initiative ergriffen, um aufzuklären, in welcher Weise dieses Problem das persönliche Individuum berührt — obwohl einige Schritte unternommen wurden, den medizinischen Berufsstand zu schützen, wie wir früher gesehen haben.


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Die juristischen Folgen werden besonders bedeutsam werden, wenn Mensch-Tier-Chimären erzeugt werden. Was für einen gesetzlichen Status wird ein Geschöpf einnehmen, das menschliche Chromosomen, aber das Aussehen eines Tieres hat? Und umgekehrt? Wie die menschliche Natur nun einmal ist, wird der Mensch sehr viel entsetzter sein, ein Geschöpf zu töten, das wie ein Mensch aussieht, aber in Wirklichkeit keiner ist, als wenn das Opfer aus der umgekehrten Kombination bestünde — obwohl die Vernunft das Gegenteil erhofft. Wie können wir einen Menschen genau definieren? Wie »menschenähnlich« muß man sein, um sich für die menschlichen Wohltaten zu qualifizieren, einschließlich des Erwerbs einer Rente oder der Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft? Es gehört keine Einbildungskraft dazu, sich vorzustellen, daß sich innerhalb unserer Lebenszeit die Gewerkschaften mit der Konkurrenz intelligenter Affen auseinandersetzen müssen. Die Vorwürfe der englischen Grubenarbeiter gegen die polnischen Kollegen und die amerikanischen Rassenprobleme werden uns dann wie Kinderspiele vorkommen.

Dies sind einige der augenblicklich vorhersehbaren Konsequenzen. Es gibt andere, die unbestimmter sind und in weiterer Ferne liegen, und die man jetzt noch nicht gesetzlich regeln kann; es bleibt abzuwarten, ob man sich mit ihnen in naher Zukunft mit größerer Eile befassen muß.

Eine der ernster zu nehmenden unter ihnen ist, wie ich vermute, die Schaffung von Elitegruppen, oder das Verhältnis von Besitzenden und Habenichtsen. Privilegien sind immer unpopulär, aber sie nehmen eine besondere Bedeutung an, wenn sie auf die Lebensverlängerung oder auf die Erhöhung der Intelligenz zielen. Wie ich schon in einem früheren Kapitel angedeutet habe, dauert es vielleicht nur noch ein Jahrzehnt, bis wir eine übernatürlich intelligente Elite besitzen, die nur ein geringes Talent dazu hat, mit dem normalen, unverbesserten Menschen eine gemeinsame Basis zu finden.

 

 

   2  Allgemeine Konsequenzen   

Zusätzlich zu den sehr spezifischen Auswirkungen, die den jeweiligen Entwicklungsstand der Biologie widerspiegeln, kommen noch Auswirkungen mehr allgemeiner Natur. Sie mögen uns im Augenblick vielleicht weniger berühren, aber deshalb sind sie nicht weniger bedeutsam.

Es steht fest, daß uns Umwälzungen drohen, wie sie früher in diesem Ausmaß unbekannt waren. Es werden Veränderungen sein, die unsere Gewohnheiten und unser Verhalten prägen, Veränderungen in der Einstellung zum Problem der Altersvorsorge, Veränderungen in Ausbildung und Beruf, Veränderungen in den Verantwortlichkeiten der Regierung und vieles andere mehr.

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Nun ist aber die Zahl der Veränderungen, die eine Gesellschaft in einer bestimmten Zeit ertragen kann, begrenzt. Zu viele Veränderungen auf einmal schaffen seelische Spannungen, auch wenn es sich um Veränderungen zum Guten handelt. Der Mensch ist ein konservatives Tier, Gesetz, soziale Bräuche und technische Einrichtungen lassen sich nur langsam umwandeln. Das bestätigt uns zum Beispiel der Straßenverkehr. Wir warten, bis eine Strecke durch den wachsenden Verkehr überlastet ist, bevor wir den Bau einer neuen Straße ins Auge fassen. Daran schließen sich lange Diskussionen über die Finanzierung usw. an. In der Zwischenzeit verschlimmert sich die Situation laufend. Oft sind die Gegenmaßnahmen, wenn sie schließlich getroffen werden, längst überholt.

Die Trägheit der Masse hat ihre tiefere Ursache in der Trägheit des einzelnen. Er hofft immer, daß sich irgendwelche Probleme von selbst erledigen, wenn man sie nur lange genug ignoriert. Anders ausgedrückt heißt das, der Mensch verlernt niemals vollständig bestimmte Verhaltensschemata, die ihm in der Jugend beigebracht wurden.

Der Fortschritt ist also darauf angewiesen, daß immer wieder eine Generation ausstirbt, was sich an der Geschichte der Wissenschaft beweisen läßt.

In welchem Maße sich die Gesellschaft verändern kann, scheint also vom durchschnittlichen Lebensalter der Menschen mitbestimmt zu sein. Längere Lebensdauer bedeutet erhöhten Widerstand gegen das Neue, und jede Zunahme des Widerstands erschwert die Anpassung noch mehr.

Die Folgen einer solchen Entwicklung sind kaum abzusehen.

Veränderungen beunruhigen und enttäuschen den Menschen. Wir können das an einfachen Beispielen beobachten, wenn wir etwa einen vertrauten Stadtteil wiedersehen und auf neue Einbahnstraßen und Überführungen stoßen, die seit unserem letzten Besuch errichtet wurden. Der Mensch vereinfacht sein Leben, indem er gewisse Konventionen einführt. Wir sagen gleichgültig »Wie geht es Ihnen?«, da es außerordentlich mühsam wäre, jedesmal einen neuen Satz zu formulieren. Wir feiern Geburt und Tod in der traditionellen Weise aus genau denselben Gründen. Wenn aber die äußeren Gegebenheiten sich verändern, dann werden diese Konventionen auf einmal überflüssig, und wir sind ziemlich ratlos, bis sich neue etabliert haben. Das Leben ohne Konventionen wäre wirklich anstrengend, ungefähr so, als befänden wir uns in einer Gesellschaft mit Bräuchen, die uns völlig fremd sind. Die moderne Biologie schafft eine ganze Reihe solcher Situationen, für die wir keine von der Gesellschaft akzeptierte Reaktion parat haben.


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Wir können hier nicht alle Folgen dieser Umwälzungen analysieren, und ich erwähne diese Dinge nur, um auf die Gefahren von zu großen Veränderungen hinzuweisen. Man könnte ebenso die gefährlichen Auswirkungen auf dem Gebiet der Wirtschaft erwähnen. Wenn eine neue Technologie eingeführt wird, dann muß der Arbeiter sich an die neue Situation anpassen und umgeschult werden. Auch als das Auto das Pferd verdrängte, wechselten nicht alle Pferdeknechte auf Automechaniker um. Arbeitslosigkeit war die Folge, und nützliche Kenntnisse wurden vergeudet. Der Betroffene fühlt sich zurückgestoßen und überflüssig. Andererseits kann der Fortschritt nicht blockiert werden, da jeder Stillstand für den Großteil der Bevölkerung nachteilige Folgen hat. Diese Veränderungen stürzen natürlich Menschen ins Elend. Wie viele solcher Benachteiligter können wir oder sollen wir in Kauf nehmen? Die heikle Situation unserer Industriegesellschaft, wie wir sie heute kennen, ist das Ergebnis einer hohen Zuwachsrate an technischen Neuerungen. Die sozialen Veränderungen, die die neuen Entwicklungen der Biologie verursachen, werden wahrscheinlich noch größere Probleme schaffen. Ist das Ausmaß der Veränderungen zu groß, ;o mag unsere gesellschaftliche Ordnung gefährdet sein, wenn licht zerstört werden.

Vermutlich wird das Maß an Veränderungen auf dem biologischen Sektor in den nächsten fünfzig Jahren ziemlich groß sein, aber viele der heute angegangenen Probleme wirken sich nur sehr langsam aus, und die Folgen werden auch in mehreren Generationen nicht zu ermessen sein.

Dementsprechend langsam ist auch die Reaktion der Gesellschaft. Erweist sich etwa eine genetische Modifikation als nachteilig im Selektionsprozeß, so werden Generationen gebraucht, bis dieser Fehler als solcher registriert wird. Und weitere Generationen sind damit beschäftigt, den Fehler wieder zu eliminieren. Die unerwünschten Nebenwirkungen von Thalidomid auf schwangere Frauen vurden innerhalb weniger Jahre entdeckt, und man leitete die entsprechenden Gegenmaßnahmen ein.

Man muß sich aber vorteilen, man hätte erst nach 40 Jahren dieses Präparat als Ursache für die beobachteten Mißbildungen erkannt und es hätte weiterer 40 Jahre bedurft, um es aus dem Handel zu ziehen. Wir sind allgemein der Meinung, daß die Gesellschaft ihre eignen Gesetze hat: Sie führt eine bestimmte Sache durch, ohne ich um den einzelnen und seine Reaktion zu kümmern. Das stimmt nicht ganz: Wenn Menschen in Gruppen zusammeneben, so geben sie gewisse Freiheiten auf, um dafür den Vorteil wechselseitiger Hilfe zu haben. Der allein lebende Farmer kann, wenn es ihm Spaß macht, sein Haus anzünden; wohnt er dagegen in der Stadt, so hat er diese Narrenfreiheit nicht mehr. Dafür kann er im Falle eines Brandes die Feuerwehr zu Hilfe rufen. 


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Allgemein ausgedrückt heißt das: Eine Gesellschaft funktioniert, wenn der Großteil der Betroffenen an ihrem Funktionieren interessiert ist. Eine Eisenbahngesellschaft kann gepolsterte Sitze nur dann anschaffen, wenn sie von den Reisenden nicht mutwillig ruiniert werden. Natürlich gibt es Gesetze, die gegen eine asoziale Minderheit angewendet werden können, aber wenn diese kleine Gruppe anwächst, wird es schwierig, die entsprechenden Gesetze durchzusetzen. 

Die Gesellschaft steht deshalb in einem dauernden Kampf mit diesen asozialen Elementen. Dominieren sie, so ist Anarchie die Folge. Diejenigen, die noch die Regeln des Zusammenlebens respektiert haben, verlieren den Mut und resignieren. Halten die anarchischen Strömungen längere Zeit an, dann verliert der Staat den Zusammenhalt, er zerfällt oder wird von einem besser organisierten Land geschluckt. Diesen Prozeß, der hier nur kurz geschildert wurde, kann man vielleicht als Verlust des sozialen Zusammengehörigkeitsgefühls bezeichnen. Es war notwendig, diese Probleme etwas ausführlicher zu diskutieren, da sie zu wenig beachtet werden und da sich diese komplizierten Zusammenhänge auf keine kurze und schlüssige Formel bringen lassen. Das mangelnde soziale Bewußtsein scheint bereits eine Folge der biologischen Revolution zu sein, wie ich sie hier vorausgesagt habe. Sie erschüttert das ohnehin nur schwache soziale Gefühl der westlichen Länder. Man braucht dringend Untersuchungen über Ursachen dieser Desorientierung, und es kann gar kein Zweifel bestehen, daß Maßnahmen, die das soziale Bewußtsein festigen, mit der Zeit auch Erfolg haben werden, wenn man sie nur konsequent genug durchführt. Das betrifft or allem die Struktur der Familie und ihren Einfluß auf die unkindliche Erziehung. Man müßte wenigstens eine Generation lang abwarten, bis wirkliche Änderungen fühlbar wären, und vielleicht weitere zwei Generationen, bis diese Änderun-en voll akzeptiert werden.

s wäre interessant festzustellen, warum Diktaturen mit solchen roblemen leichter fertig werden, obwohl sie bis jetzt in der Anwendung von sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen im Rückstand sind. Vielleicht hängt das Überleben des kapitalistischen oder kommunistischen Systems mit davon ab, wie geschickt und erfolgreich diese Probleme jeweils angepackt werden. Eng verknüpft mit der sozialen Desorientierung ist die starke individuelle Unsicherheit. In einer Welt, wo Bemühungen und rfolg nicht identisch sind, wo der Gewissenhafte mit Unrecht elchnt wird, während der Selbstsüchtige alles erreicht, in dieser Welt verlieren die Leute den Antrieb zu einem neuen Versuch. Wie bei Experimenten mit Ratten, die man dauernden Streßsituationen aussetzt, werden sie neurotisch und verfallen schließlich in einen Zustand der Apathie. 


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Es gibt schon jetzt Anzeichen von Nihilismus in der Gesellschaft, die sich in Zynismus, Materialismus und einer Vorliebe für den kurzfristigen Job äußern. Sie sind auch die Hintergründe von Protesten und Abweichungen von der sozialen Norm, wie man sie bei der jüngeren Generation, den sogenannten Beatnicks, Hippies und Blumenkindern beobachtet.

Die Explosion der biologischen Zeitbombe schürt zwangsläufig den Nihilismus, wenn wir diese Energien nicht in vernünftige Bahnen lenken. Die neuen Möglichkeiten stellen den Menschen vor Alternativen, die beschwerlich sein können; Verantwortung übernehmen ist ermüdend.

 

Heute hat der Begriff Tradition einen schlechten Beigeschmack. Wenn man von einer Sache sagt, sie habe etwas mit Tradition zu tun, so bedeutet das nichts anderes, als daß sie ein unbrauchbares oder allenfalls amüsantes Relikt ist. Andererseits ist Tradition eine Einrichtung, um uns Entscheidungen zu erleichtern. Ohne sie treten unlösbare Probleme auf. Die Struktur der Familie — in den verschiedenen Kulturen durchaus unterschiedlich — ist von der Tradition geprägt, und unsere Gesetze verleihen dieser Tradition Nachdruck. Für die neuen Entscheidungen, mit denen die Bevölkerung der Zukunft konfrontiert wird, wird daher eine neue Tradition und vor allem eine neue Achtung vor dieser Tradition notwendig sein, daß der Zusammenhalt unserer Gesellschaft nicht gesprengt wird. 

Daß diese Prognosen alles andere als unrealistisch sind, zeigen die ungewöhnlichen und unerwarteten Folgen, die sich bereits aus einem Teilgebiet des biologischen Fortschritts ergeben, nämlich der Synthese von Halluzinogenen und Gehirnanregungsmitteln. Noch in den dreißiger Jahren haben Science-fiction-Schriftsteller von dem Tag geträumt, da man in der nächsten Apotheke Drogen kaufen kann, die uns anregen, wenn wir müde sind, und uns beruhigen, wenn wir erregt sind, oder uns ganz allgemein in gute Stimmung versetzen. Tatsächlich konnte man damals schon Amphetaminsulfat, Koffein und natürlich Alkohol zu diesem Zweck erwerben. 

Nicht vorhersehbar war für diese Schriftsteller allerdings, daß man in dreißig Jahren diese neuen Drogen wieder aus dem Handel ziehen würde, da eine Generation heranwuchs, die unfähig war, sie maßvoll und vernünftig zu verwenden. Wie war es möglich, daß Menschen, so bar gesunden Menschenverstands, daß sie die sechzigfache Standarddosis Amphetamin auf einmal nahmen, zur »Reife« gebracht wurden — wenn das das passende Wort ist? 

Dieses Beispiel zeigt dramatisch das fortgesetzte Versagen unserer Gesellschaft, ihren Gliedern ein soziales Bewußtsein zu vermitteln, und gibt einen lebendigen Einblick in das, was die Zukunft bringen könnte. Ziemlich sicher müssen die neuen Möglichkeiten, die sich aus den Entwicklungen der Biologie ergeben, einer aufgeklärten und verantwortungsbewußten Gruppe vorbehalten bleiben, die das in sie gesetzte Vertrauen rechtfertigt. Das ist bedauerlicherweise ein antidemokratisches Prinzip, aber so scheint der Lauf der Welt zu sein. Einige Wissenschaftler meinen, die einzige Gruppe, die sich dafür reif und intelligent genug zeige, seien die Wissenschaftler selbst.


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   3  Der Wissenschaftler und der Fluch der Gesellschaft   

Der Tag mag kommen, da die Gesellschaft gegen die Wissenschaft Stellung bezieht. Zur Zeit ist der Wissenschaftler noch der große Zauberer im weißen Mantel, der Medikamente und Anästhetika synthetisiert, der unsere Arbeit durch neue Energiequellen erleichtert und der sogar das Geheimnis der Atome und der Sterne kennt. 

Das ist aber nur die eine Seite des herkömmlichen Wissenschaftlerimages. Daneben steht noch das Klischee vom weltfremden Träumer, so tief in Gedanken versunken, daß er nicht einmal das Datum des jeweiligen Tages kennt. Weiter gibt es das Bild vom wahnsinnigen Techniker, der sein Wissen in die Tat umsetzt, ohne zu fragen, welche Folgen das für die Menschheit hat.

Man traut ihm zu, daß er Katastrophen heraufbeschwört, Monstren entwickelt und schließlich nicht davor zurückschreckt, die Erde von ihrer Bahn abzubringen oder das Sonnenlicht auszulöschen, nur um eine seiner Theorien zu testen. 

Für viele scheint der Wissenschaftler ein Unruhestifter, der Dinge klärt, die besser im dunkeln blieben, und der die bestehende Ordnung stört. Er ist bestenfalls ein kleiner Junge, der Fliegen die Flügel ausreißt, um seinen Wissensdurst zu stillen. Im schlimmsten Falle sieht man in ihm den Mann, der »Hallo« ruft und dabei eine Lawine auslöst.

Die Explosion der ersten Atombombe hat das Image dieses Supermannes stark angekratzt. Hinter der Maske der gütigen Vaterfigur erkennt man das Gesicht des wahnsinnigen Wissenschaftlers, grinsend wie ein Besessener.

In dem Maße, wie die Auswirkungen der biologischen Revolution spürbar werden, erscheint in den Gesichtern der Biologen der unheimliche Blick von Dr. Frankenstein. Gleichzeitig schaffen sich die außerordentlich erfolgreichen Wissenschaftler einen Ruf, der immer schwieriger aufrechtzuerhalten ist. Dazu meint Professor Rostand: »Von der Wissenschaft erhoffen die Leute schließlich alles. Mit ihrer Hilfe sollen Zwerge wachsen, sie soll zu ewiger Jugend verhelfen, aus einem Schwachsinnigen soll ein Weiser werden.«


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Die Vorstellungen der Menschen von der Wissenschaft unterliegen starken Schwankungen. Im 19. Jahrhundert sah man in ihr vor allem die Quelle materiellen Wohlstands, und so wird sie auch heute noch von vielen Politikern sowie von einigen altmodischen Wissenschaftlern gesehen. In zunehmendem Maße beginnt man sie aber auch als Quelle eines nicht-materiellen Fortschritts zu begreifen. Gleichzeitig hat sich gezeigt, daß beide Betrachtungsweisen Probleme aufwerfen, die mit den heutigen Mitteln kaum gelöst werden können. Der erste Typ von Wissenschaft brachte die Verschmutzung von Luft und Wasser sowie ganz allgemein nachteilige Veränderungen unserer Umgebung, der andere das Problem der Bevölkerungsexplosion, des verwalteten Mitleids und mancher noch nicht voll erkannter Probleme.

Wenn diese Entwicklung so weitergeht, wird das negative Bild im Wissenschaftler immer deutlicher hervortreten. Man wird erkennen, daß sie ihre Geschenke oft selbst wieder entwerten, sich die Bemühungen der Wissenschaftler um immer größere Geldmittel wird man genauer und vielleicht unter ganz ändert Gesichtspunkten prüfen. Anstatt zu fragen, ob eine Ent-cklung ein Produkt liefert, das wir verkauten und exportie-n können, wird man sich vielmehr überlegen müssen, ob sie le Situation bewirkt, in der durch neue Probleme die Nach-le überwiegen.

enn die nachteiligen Folgen zunehmen, mag daraus eine ndfeste Opposition gegen die Wissenschaft erwachsen. Eine Iche Antiwissenschaftsbewegung könnte schließlich fordern, ß wissenschaftliche Programme nur noch mit der ausdrück-Ken Billigung von Repräsentanten des Staates durchgeführt ;rden, die selbst keine Wissenschaftler sind. \e Frage würde die Bevölkerung den Wissenschaftlern wahr-teinlich stellen: Warum habt ihr uns nicht rechtzeitig ge-irnt?

lige wenige Wissenschaftler haben tatsächlich ihre Befürch-igen geäußert, allerdings meistens in Fachzeitschriften, auf :htagungen oder in Fachbüchern, die bereits so speziell sind, ß sie für den Durchschnittsbürger, der mit dem technischen ikabular nicht vertraut ist, unverständlich sind. Der Heraus-aer einer weitverbreiteten Fachzeitschrift sprach darüber im rnsehen. Er habe sich bemüht, Autoren für Probleme künf-er Entwicklungen zu gewinnen, aber es sei einfach nicht mög-i, jemand dazu zu überreden. Einige dieser Warnungen, die "eits früher in der Fachliteratur erschienen sind, habe ich in 'Sem Buch an anderer Stelle zitiert. Die einzige wirkliche Aus-andersetzung lieferte Professor Rostand in einigen Büchern, 1 sich auch an ein breiteres Publikum wenden. Im Gegensatz

den meisten anderen Wissenschaftlern sah er schon früh, s auf uns zukommt.

r wenige einfallsreiche Wissenschaftler haben versucht, die


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Folgen ihrer Arbeit in ihre Überlegungen mit einzubeziehen; die meisten verzichten darauf. Sie treiben ihre Arbeit von einem Tag zum anderen vorwärts, ohne sich um die Umwelt zu kümmern. Wenn man ihn schließlich dazu zwingt, sich mit dem möglichen Mißbrauch seiner Entdeckung durch die Gesellschaft zu befassen, dann antwortet der Wissenschaftler gewöhnlich, daß die Verwendung der Ergebnisse außerhalb seiner Verantwortlichkeit liege. Er mag das am Beispiel des Flugzeugs erläutern, das dazu dienen kann, Bomben abzuwerfen oder einen Kranken schnell ins Krankenhaus zu bringen. Die Entdeckung selbst ist ethisch neutral. Wie sie genutzt wird, entscheiden Generäle und Politiker und nicht die Wissenschaftler. Für sie ist Wissen an sich stets positiv.

Das mag bis zu einem gewissen Grade richtig sein; es ist aber auch richtig, daß man Streichhölzer nicht in die Hände von Kindern gibt. Andererseits müßte man eigentlich annehmen, daß es sich bei wahlberechtigten Bürgern und bei gewählten Repräsentanten nicht um Kinder handelt. Die Entwicklung der Kernwaffen ließ dann manchen an den Überlegungen der Verantwortlichen zweifeln. Das ist aus der Sicht des Soziologen eine außergewöhnliche Tatsache, deren Bedeutung bis jetzt noch nicht voll gewürdigt wurde. Das heißt nämlich, daß sich die Menschen mit diesen Problemen überhaupt nicht auseinandersetzen wollen. Damit wird aber das ganze System der Demokratie in Frage gestellt. Wenn man nämlich den Staat nicht als verantwortlich handelnd betrachtet, kann man das auch nicht vom einzelnen oder von irgendeiner Organisation erwarten. Man muß daraus schließen, daß es eine Art von Wissen gibt, dessen Besitz zu gefährlich ist.

Es ist üblich geworden, die Spaltung in zwei Kulturbereiche zu beklagen und den Nichtwissenschaftier wegen seiner Unwissenheit auf naturwissenschaftlichem Sektor zu tadeln. Professor Bentley Glass hat überzeugend dargelegt, daß diese Spaltung, jedenfalls soweit es die Universitäten betrifft, weniger daher kommt, daß der Naturwissenschaftler kein Interesse an den Geisteswissenschaften hat oder die Geisteswissenschaftler kaum mit dem naturwissenschaftlichen Konzept des 20. Jahrhunderts vertraut sind, sondern vielmehr daher, daß der Naturwissenschaftler zu unbekümmert darauf vertraut, daß mehr Wissen unabhängig von seiner Anwendung für den Menschen auch von Vorteil sein muß. Er hofft naiv, daß andere die ethischen Probleme meistern, die er verursacht hat. Der Geistes­wissenschaftler fürchtet den zunehmenden Einfluß der Naturwissenschaft in der Gesellschaft, macht sich aber andererseits weiter keine Gedanken über die möglichen ethischen Fragen. Er bemerkt vielleicht überhaupt nicht, daß hier neue Probleme auftauchen.

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Die Schwierigkeiten, das zu formulieren, was der Wissenschaftler dem Laien erklären will, spiegelt sich in der etwas ausführlichen und umständlichen Erklärung des vorangehenden Abschnitts. Das ist aber genau das hier angesprochene Problem, vor allem deshalb, weil der Autor selbst Biologe ist. Biologen ziehen es im allgemeinen vor, den Kopf in den Sand i stecken, anstatt sich Gedanken zu machen, welche Auswiringen ihre Arbeit auf die sozialen Verhältnisse hat.

tvight Ingle meint, daß der Biologe und mehr noch der Hu-anbiologe besonders starken Einflüssen von innen und außen sgesetzt ist; er muß deshalb viel mehr um seine geistige Un-hängigkeit kämpfen als seine Kollegen aus anderen Diszipli-n. »Er hat ganz besonders objektiv zu sein und vor allem j Fähigkeit zu besitzen, seine Gefühle und die Folgen der f rüh-adlichen Erziehung zu kontrollieren. Kurz gesagt, er muß er ein besonders hoch entwickeltes Verantwortungsbewußt-in verfügen, was auch oft der Fall ist.« Man muß allerdings ganzen, daß es ihm ebensooft fehlt.

 

  4  Fluch oder Segen der neuen Erkenntnisse  

Der Mensch verfügt heute über so extreme Möglichkeiten, daß im klassischen Sinne »gottähnlich« geworden ist. Prometheus hatte es seinerzeit gewagt, das Feuer aus dem Reich der Götter den Menschen zu bringen, und er wurde dafür grausam bestraft. Feuer war bei all seinen wohltätigen Eigenschaften eine gefährliche Neuerwerbung. Der Mythos erteilt seine Lektion: große Macht bedeutet Gefahr, es sei denn, sie wird mit großer Weisheit ausgeübt. Aber dies setzt voraus, daß sie in den Händen derer liegt, die genügend Kenntnisse haben, um die Konsequenzen des Machtgebrauchs zu überschauen.

Heute befindet sich die Menschheit wieder in einer prometheischen Situation. Und gerade weil wir nicht erkennen können, welche Folgen die modernen Erkenntnisse im einzelnen haben werden, gerade darum ist diese Situation so sehr gefährlich. Es geht nicht darum, ob sich diese neuen Möglichkeiten vielleicht wohltätig auswirken, denn die Geschichte hat immer wieder gezeigt, daß der Mensch dazu neigt, neue Techniken eher zum Bösen als zum Guten einzusetzen.

Wissen ist potentiell gefährlich — so sieht der Molekularloge R. van Potter von der Universität Wisconsin das Problem. Nach seiner Meinung besteht die einzige Lösung, mit gerlichem Wissen fertig zu werden, darin, mehr Wissen zu werben. »Vom Zustand nur sehr ungleichmäßig fortentwickelter Einzelwissenschaften müssen wir zu einem neuen Gleichgewicht des Wissens kommen.« Er fordert die Wissenschaftler auf, die Untersuchungen zu vertiefen, um so Genaueres über die menschliche Anpassungsfähigkeit und Individualität zu erfahren. Sein besonderes Interesse gilt der Natur des Stresses.

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Ein Wissenschaftler jedoch hat seine Zweifel sehr viel konkreter formuliert und kommt zu den entgegengesetzten Schlußfolgerungen: er meint, daß es Dinge gäbe, die wir nicht wissen sollten. Dies ist Sir Macfarlane Burnet, ein australischer Forscher, der für seine Arbeiten und Theorien über die Immunreaktionen im Jahre 1960 den Nobelpreis erhielt.

»Es klingt fast unanständig«, sagte er einmal, »daran zu erinnern, daß die Molekularbiologie, was den Nutzen für die Medizin anlangt, eine böse Sache sein könnte.« Er schloß: »Es ist sehr schwer für einen im Laboratorium arbeitenden Wissenschaftler, solche Beschränkungen anzuerkennen, aber es wird nachgerade allen deutlich, daß eine besonders große Gefahr darin liegt, etwas zu wissen, was wir eigentlich nicht wissen sollten. Doch bisher hat niemand auf Kassandras Worte gehört.«

Er argumentiert, daß die Molekularbiologie nicht nur »blind« gegen mögliche medizinische Anwendungen ist, sondern andererseits die ganze Welt ungeheuerlichen Gefahren aussetzt. Masernimpfstoffe könnten verbessert werden, ein Impfverfahren gegen infektiöse Hepatitis entwickelt werden — immer noch unerfüllte Wünsche der modernen Medizin.

Die Techniken jedoch, Viren zu züchten, um bestimmte als Impfstoffe geeignete Virusmutanten zu finden, schaffen neue Gefahren: bösartige, neue Mutanten könnten dem Bannkreis des Laboratoriums entfliehen und Epidemien in Gang bringen, gegen die die Weltbevölkerung hilflos wäre, da ihre natürlichen Verteidigungs­mechanismen nicht darauf eingerichtet sind. Dieses höchstkomplizierte und künstliche Universum von Gewebe- und Zellkulturen, von Bakterien- oder Virusplantagen hat für den Menschen zumindest einen höchst zweifelhaften Wert, wenn es nicht gar als grauenerregend zu bezeichnen ist.

Das Auftreten eines serologisch einzigartigen Virus von großer Virulenz ist eine ernste Gefahr. Wenn es ihm gelänge, in die allgemeine »Zirkulation« zu kommen, ohne daß man ihm sofort den Garaus machen könnte, wäre das Ergebnis sicher »eine fast unvorstellbare Katastrophe, die alle bevölkerten Gebiete der Erde beträfe«.

Sir Macfarlane Burnet weist darauf hin, daß wir sehr wenig darüber wissen, warum einige Bakterien und Viren so sehr viel gefährlicher sind als andere. Der Virusstamm, der bei Kaninchen Myxomatose verursacht, ist in 99,7,Prozent der Fälle tödlich — vielleicht könnten einige neu produzierte Viren beim Menschen ebenso letal sein. Das Myxomatosevirus hat fast alle Kaninchen der Welt ausgerottet, ein noch unbekanntes, in den Laboratorien brütendes Virus könnte die ganze Menschheit ausrotten.


  wikipedia  Frank_Macfarlane_Burnet   *1899 in Australien bis 1985      238

Es gibt aber andere, subtilere Gefahren.

In einem früheren Kapitel haben wir gesehen, daß Viren in der Lage sind, genetische Informationen in das Genmaterial der Wirtszelle einzubringen. Diese Informationen können über mehrere Zellgenerationen »schlafen«, aber dann plötzlich aus irgendeinem Grunde wirksam werden. Bei Bakterien wird dann der Wirt getötet oder radikal verändert.

Heute können wir solche »Geheiminformationen« nur entdecken, wenn sie schließlich doch die Gastzelle töten oder aber sie in eine Krebszelle umwandeln.

Wie können wir sicher sein, fragt daher Sir Macfarlane Burnet, daß wir bei molekularbiologischen Experimenten nicht solche zusätzlichen Informationen in unser menschliches Erbgut einschmuggeln?

Er überläßt es seinen Fachkollegen, sich im einzelnen auszumalen, was dabei herauskommen mag: plötzliche Veränderungen des menschlichen Genotyps — erkennbar am Auftreten von Mutantenformen, Monstren, Mißbildungen —, aber auch plötzliche Ausbrüche von Krebs oder anderen, bisher noch unbekannten Krankheiten.

Genau wie Bakterien, die mit einem »schlafenden« Virus infiziert wurden, plötzlich zu »Brei« werden, so könnten auch menschliche Zellen plötzlich kollabieren. Menschen würden daher über Nacht altern, schwere Arthritis bekommen, hochgradig sklerotisch werden. Vielleicht haben auch manche der heute wohlbekannten Krankheiten ähnliche Ursachen.

Wenn es Dinge gibt, die wir nicht wissen sollten, müssen wir dann bestimmte Entdeckungen »auf Eis legen« und erst Gebrauch davon machen, wenn wir »reif« dazu sind? Oder sollten vir noch einen Schritt weiter gehen und einen Forschungsstopp n bestimmten Wissensbereichen aussprechen?

Einige Wissenschaftler haben den ersten Weg tatsächlich schon erwogen. So hat einmal Sir George Pickering im Zusammenhang mit den Aussichten, das menschliche Leben beliebig zu verlängern, gesagt:

"Ich finde dies eine erschreckende Aussicht und ich bin froh, daß ich dann tot sein werde und keinerlei Beiträge mehr zu leisten habe, wenn diese Katastrophe wirklich hereinbricht. Wir sollen uns aber fragen, ob es nicht an der Zeit wäre, derartige Forschungsprojekte zu stoppen."

Wenn ein Mann, der sein Leben mit Forschungsarbeiten in dieser Richtung verbracht hat, auf solche Ideen kommt, schmeckt das nach intellektuellem Verrat. Es ist eigentlich unmenschlich. Es steht keineswegs im Einklang mit uralten Ideen und Idealen des medizinischen Gewerbes. Aber wir sollten den Mut haben, die Konsequenzen unserer Ideen zu sehen und diese gegebenenfalls auch zu revidieren.

en.wikipedia  George_Pickering  1904-1980


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Ein anderer Wissenschaftler, der auf den Gedanken kam, daß man sich in der Anwendung bestimmter Erkenntnisse Beschränkung auferlegen sollte, ist Marshall W. Nirenberg, einer der Nobelpreisträger des Jahres 1968. Er ist biochemischer Genetiker an den >National Institutes of Health<, und wir sind ihm in Kapitel 6 schon einmal begegnet mit seiner Vorhersage, daß die Genchirurgie innerhalb der nächsten 25 Jahre möglich sein werde. Der Mensch wird die technischen Probleme lösen, bevor er die neu aufgeworfenen moralischen und ethischen Probleme angehen kann, meint Nirenberg. »Wenn der Mensch einmal seine eigenen Zellen genetisch verändern kann, dann sollte er so lange damit warten, bis er auch sicher ist, diese neuen Techniken zum Wohle der Menschheit einzusetzen. Ich formuliere dieses Problem, lange bevor es akut geworden ist«, schrieb er in einem Brief an die Zeitschrift Science, »weil die Entscheidung darüber, welche Kenntnisse angewendet werden sollten, von der menschlichen Gesellschaft getroffen werden müssen, und nur eine informierte Gesellschaft kann vernünftige Entscheidungen fällen.«

Und Rostand stellte die Frage: »Erreichen die Naturwissenschaften nicht eine Grenze, jenseits deren aller Fortschritt eher verderblich als nützlich sein wird?« Und er fragt ebenfalls, ob nicht ein totaler Forschungsstopp erforderlich sein könnte.

Lord Brain dagegen hält diese Möglichkeit für impraktikabel. Seine Argumentation lautet: Wenn wir die Konsequenzen der naturwissenschaftlichen Forschung nicht voraussehen können, dann können wir auch nicht abschätzen, welche Konsequenzen eintreten, wenn wir nicht forschen. Daraus folgt für ihn, daß »der Mensch sicherlich nicht die Fähigkeit besitzt, darüber zu entscheiden, welche bestimmte Forschungsrichtung aufgegeben werden sollte, weil man mit gefährlichen Konsequenzen rechnen muß«. Er fügt hinzu, die Diskussion darüber, ob gewisse Forschungen schlecht sein könnten, sei pure Zeitverschwendung, denn der Impuls, zu lernen und zu wissen, gehöre als nicht zu unterdrückender Teil zur menschlichen Natur.

Wer, so könnte man fragen — und es wäre sicher eine wichtige Frage —, wer soll denn überhaupt eine solche Entscheidung treffen? Wissenschaftler selber sind wahrscheinlich nicht unvoreingenommen genug. Auch wirtschaftliche und industrielle Interessen werden sich wohl kaum mit der Idee einer »auf Eis gelegten« Forschungsrichtung vereinigen lassen. Solche Entscheidungen müssen also konsequenterweise von Regierungen getroffen werden, aber Regierungen sind industriefreundlich, und man kann kaum annehmen, daß sie sich allzusehr engagieren wollen.

Irgendwelche mächtigen und gut informierten Gremien werden nötig sein — ein Gremium von solcher Reputation,


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daß eine Regierung es sich zweimal überlegt, seinen Rat auszuschlagen. Die steigende Bedeutung der Sozialwissenschaften mag vermuten lassen, daß eine Art Sozialwissenschaft---Ausschuß stark genug werden könnte; in den USA bahnen sich entsprechende Entwicklungen schon an, aber es ist unwahrscheinlich, daß er noch rechtzeitig genügend Ansehen und Einfluß gewinnt. Es gibt noch gewichtigere Einwände: wenn es ch vorstellbar bleibt, daß ein bestimmtes Land eine zukunfts-anende Wissenschaftspolitik treibt, so wird eine weltweite jereinstimmung sich sicher nicht erreichen lassen. Aber ohne gemein verbindliche Richtlinien kann sich kaum ein Land rauf einlassen, bestimmte Forschungsrichtungen für tabu zu <lären. Der militärische Wert aller dieser biologischen Forschungen macht es vollends unmöglich. Bestenfalls läßt sich die Forschung hinter Stacheldraht verlegen.

Wenn Forschungsbeschränkungen also nicht in Frage kommen, dann besteht der einzige Schutz für die Gesellschaft darin, sich möglichst gut den neuen Bedingungen anzupassen. Wie kann das erreichen?

 

   5  Biologische Slums   

 

Die wichtigste soziale Folge der maschinellen Revolution des 18. Jahrhunderts bestand in den überbevölkerten, schmutzigen und ungesunden Slums des 19. Jahrhunderts. Unser Jahrhundert mußte große Anstrengungen machen, um diese Slums durch menschenwürdigere Behausungen zu ersetzen.

Sollte sich die biologische Revolution unkontrolliert ausbreiten, dann wird sie ähnliches Elend über die Menschheit des ausgehenden 20. Jahrhunderts bringen; spätere Generationen werden dagegen anzukämpfen haben, sofern es spätere Generationen überhaupt noch geben wird und diese über die nötigen Mittel verfügen.

Im Gegensatz aber zur industriellen Revolution werden sich die Auswirkungen nicht auf einige wenige westliche Länder beschränken; die ganze Welt wird wahrscheinlich ein riesiger biologischer Slum sein, der nicht dadurch seinen Schrecken verliert, daß wir ihn uns nicht vorzustellen vermögen.

Ein erster Schritt könnte darin bestehen, daß man eine Forschungsgruppe einrichtet nach der Art der >Rand Corporation<, 1 sich mit sozio-technologischen Entwicklungsproblemen be-äftigt. Ganz offensichtlich werden sehr viele und sehr verschiedene Ansätze nötig sein.

Universitäten sollten Lehrstühle für Soziale Zukunftsforschung einrichten, Philanthropen sollten die Forschungsprogramme finanzieren, juristische, wirt-aftliche und theologische Gremien die Konferenzen arrangieren, um über die Konsequenzen der biologischen Revolution zu diskutieren.*


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Bevor wir aber zu einer wirklichen Zusammenarbeit kommen, ist sehr viel Aufklärungsarbeit nötig, um die Bevölkerung auf diese Probleme aufmerksam zu machen. Bis jetzt wissen die meisten Menschen nicht einmal, daß es eine biologische Revolution gibt.

Es ist Zeit, daß Wissenschaftler über allgemeine Warnungen hinausgehen und spezielle Probleme in aller Gründlichkeit erörtern. Einige beginnen auch schon, es einzusehen. So sagte Professor Luria auf dem in der Fußnote erwähnten Zukunftssymposium: »Ich hielte es nicht für verfrüht... Komitees einzurichten, die sich darüber Gedanken machen, wie die menschliche Vererbung von den Genetikern beeinflußt werden kann.«

Die Zeit ist also mehr als reif, glaube ich, daß wohlrenommierte Institutionen wie die >National Academy of Science< in den Vereinigten Staaten, die >Royal Society< in England und entsprechende Vereinigungen aus aller Welt Komitees bilden, um die Folgen der biologischen Revolution zu analysieren. Erste Anzeichen einer Verantwortlichkeit in dieser Richtung sind da: es wurden bereits Komitees gegründet, die sich mit medizinischer Ethik befassen, aber auch mit Experimenten an Menschen. Im Jahre 1966 veranstaltete die Amerikanische Medizinische Gesellschaft den ersten Nationalkongreß über medizinische Ethik, nach dem der >US-Health-Service< (US-Gesundheitsdienst) ein beachtliches Stipendium auswarf, damit die >American Association for the Advancement of Sciences< (Amerikanische Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, AAAS) diese Probleme im einzelnen untersuchen könnte.

Dies alles erreichte der Druck der öffentlichen Meinung, nachdem einigen Patienten versuchsweise lebende Tumorzellen implantiert worden waren, ohne daß sie zuvor ihr Einverständnis gegeben hatten. Die AAAS wandte sich an Juristen, Soziologen, Kliniker und praktische Ärzte und bat sie um ihre Meinung. Aber das ganze Gebiet ist viel umfassender und beschränkt sich nicht nur auf medizinische Spezialprobleme der Ethik. In seiner Ansprache als Präsident der >Royal Society< im Jahre 1964 berührte Sir Howard Florey das Problem einer sozialen Verantwortlichkeit der Naturwissenschaftler auf eine bezeichnend vorsichtige Art und Weise:

 

* 1963 hat bereits die CIBA-Stiftung — die Einrichtung einer Schweizer pharmazeutischen Firma zur Förderung der internationalen Zusammenarbeit von Medizin und Chemie — ein Symposium unter dem Titel <Der Mensch und seine Zukunft> organisiert. 1966 veranstaltete die amerikanische pharmazeutische Gesellschaft Merck, Shark und Dohme ein ähnliches Symposium unter dem Titel <Reflexionen über die Zukunft der Medizin>.
Ich glaube, daß spätere Generationen bewundernd auf diese bahnbrechenden Veranstaltungen zurückblicken werden und daß die Spekulationen dieser ersten Zukunftspioniere wohl sehr lange zitiert werden.


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»Sollten wir als Gesellschaft«, sagte er, »es uns überlegen, wie Wissenschaft und Wissenschaftler zu dem großen Problem beitragen können, den Menschen und die menschliche Bevölkerung in ein Gleichgewicht lit ihrer Umgebung zu bringen?«

Und er fügte hinzu: »Ich selbst habe keinen Zweifel daran, daß wir wissenschaftlichen Fortschritt und gesellschaftliches Handeln auf einen Nenner bringen sollten.«

ard Brain drückte sich direkter aus:

»Unsere gegenwärtigen risen sind zumindest zum Teil von den Wissenschaftlern sel-;r verschuldet worden. Die Wissenschaftler sollten daher jede elegenheit benutzen, um denen, die die praktischen Entschei-ungen fällen müssen, die Dringlichkeit der Probleme darzu-:gen und sie über die wahren Hintergründe aufzuklären. Und e sollten, wenn sie dazu in der Lage sind, selber zur Lösung sr praktischen Probleme beitragen.«

Natürlich garantiert ein guter Rat nicht, daß er auch befolgt wird. Deswegen muß aber doch der Rat zuerst gegeben werden. Was bleibt, ist dann, in den Worten H. G. Wells', ein Wettrennen zwischen Aufklärung und Katastrophe, glücklicherweise jedoch gibt es Anzeichen einer veränderten Grundeinstellung.

In den letzten Jahren haben in mehreren Ländern einzelne Persönlichkeiten, aber auch ganze Gruppen Organisationsformen gefunden, um gerade die in die Zukunft ihrenden Entwicklungslinien systematisch zu untersuchen, obei sowohl soziologische als auch technologische Gesichts-unkte berücksichtigt wurden.

Die Amerikanische Akademie sr Künste und Wissenschaften veröffentlichte in ihrem Jour-al Dädalus im Sommer 1967 eine Reihe von Studien über das dir 2000, und der erste größere internationale Kongreß, der iesen Themen gewidmet war, fand im September 1967 unter em Titel »Die Menschheit im Jahre 2000« statt, auch das Buch, das Sie gerade lesen, ist ein Zeichen dafür, wie man sich immer mehr bewußt wird, daß man die Zukunft nicht einfach sich selber überlassen sollte — aber den Spekulationen einzelner müssen umfassende und systematische Unterteilungen ganzer Teams folgen, die spezielle Techniken be-utzen, um Irrtümer zu vermeiden und Vorurteile einzuschrän-en und um zu verfeinerten Voraussagen zu kommen, wie sie as »Delphiprogramm« der >Rand Corporation' vorlegte.

 

    6  Das Glück und seine Voraussetzungen    

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Wenn wir Zukunftspläne entwerfen wollen, um den Problemen zu begegnen, die die moderne Biologie aufwirft, stoßen wir auf eine Hauptschwierigkeit: wir wissen gar nicht recht, wie die Welt, die wir uns wünschen, aussehen soll. 

Zweifelsohne würden die meisten Leute für eine Sozialstruktur votieren, die ihrer eigenen ähnelt, allerdings ohne deren wesentliche Nachteile und Schwierigkeiten. Im Westen würde dies eine Welt mit Autos, Fabriken und Coca-Cola, aber ohne Kriminalität, Magengeschwüre und Luftverschmutzung bedeuten. 

Aber eine nähere Betrachtung zeigt, daß Vorteile und Nachteile antithetisch miteinander gekoppelt sind. Wir haben die Luftverschmutzung, gerade weil wir Autos und Fabriken haben. Wir haben Magengeschwüre, weil wir ein auf Konkurrenz ausgerichtetes Wirtschaftssystem haben. Wir haben die Jugendkriminalität, gerade weil wir eine mehr oder weniger entwurzelte Gesellschaft haben, in der unbegrenzte Kommunikationsmöglichkeiten die familiäre Kontrolle der Heranwachsenden schwächt. Und so weiter, und so weiter.

Diese Feststellungen sind bloße Schlagzeilen, die weite Gebiete abstecken und einen Standpunkt markieren. Die wirklichen Ursachen für die Jugendkriminalität sind beispielsweise sehr komplex, und ich möchte sie keineswegs allzusehr vereinfachen. Ich möchte nur unterstreichen, daß in einer menschlichen Gesellschaft so gut wie alle Einzelgebiete miteinander verknüpft sind und daß man nicht irgend etwas ändern kann, ohne auch andere Bereiche zu treffen.

Wenn wir uns noch einmal die Frage vorlegen, welche Gesellschaft wir eigentlich anstreben — in der Annahme, wir seien zu tiefgreifenden Eingriffen gewillt —, dann sehen wir uns einer Reihe von Fragen gegenüber, für die es heute noch keine befriedigenden Antworten gibt. Auf welches Niveau sollte man beispielsweise die Bevölkerungsdichte einstellen, um eine allzu große Isolierung, aber auch ein allzu großes Gedränge zu vermeiden? In England, aber auch an der Ostküste der Vereinigten Staaten zwischen Washington und Boston werden viele Annehmlichkeiten und Freuden des Daseins durch zu große Bevölkerungsdichten erschwert oder gar unmöglich gemacht. Und doch gibt es immer noch Leute, die diese Prozesse weitertreiben wollen (vgl. Nigel/Calder, >The Environment Game<, 1967). 

Oder aber, in welchem Maße sollten wir die Umgebung, sprich Landschaft, opfern, um Güter zu produzieren und zu verbrauchen? Wir sind überaus eifrig dabei, uns eine Welt zu schaffen, in der es immer leichter werden wird, Güter zu konsumieren, als irgendwelche Formen des privaten Lebens zu genießen — gemächlich zu arbeiten, sich mit der Natur zu befassen oder gar einen Job auszufüllen, der einem Spaß macht. 

Moderne Industriemethoden haben eine kürzere Arbeitswoche ermöglicht. Einige Autoritäten prophezeiten bereits eine 20-Stunden-Woche, noch bevor dieses Jahrhundert zu Ende gegangen ist, und sie meinen, daß es dann absolut verboten sein könnte, länger als 30 Stunden zu arbeiten. 


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Aber warum müssen wir eigentlich diesen Weg gehen? 

Es gibt keinen Grund, warum wir nicht unsere Phantasie dazu verwenden könnten, die Arbeit interessanter zu machen. Es ist leicht einzusehen, daß viele Leute lieber 30 oder gar 40 Stunden mit einer interessanten Arbeit verbringen als 20 Stunden mit einer langweiligen und mühsamen.

Doch wissen wir leider keine Methode, um aus dieser Misere herauszukommen. Unsere westliche Gesellschaft ist so aufgebaut, daß ein Anwachsen der Produktionskräfte automatisch ein Anwachsen der Güter bedeutet. Nur mit großen Anstrengungen haben wir es geschafft, in mehr als einem halben Jahrhundert wenigstens einen Teil der Gütererzeugung in die Erzeugung von mehr Muße und Freizeit umzuleiten. Doch die Arbeit interessanter zu gestalten, hat bisher noch keine Maschine bewerkstelligt.

Es gibt noch unlösbare Probleme, denn soweit es sich um biologische Phänomene handelt, müssen wir für mehrere Generationen vorausplanen. Es ist nicht die Frage, welche Gesellschaftsordnung wir wollen, sondern welche Vorstellungen unsere Nachkommen von ihrer Lebensweise haben — und die werden selbstverständlich von den unsrigen abweichen. 

Die Gesellschaft besteht aus Menschen, und in einer bestimmten Umgebung wird sich auch immer nur eine bestimmte Art on Menschen wohlfühlen. Der überaktive Bürger einer modernen Großstadt langweilt sich, wenn er in eine gemächlich dahinlebende Gesellschaft gerät. Der langsamere Mensch wird verängstigt und geradezu unglücklich, wenn er in eine dynamische Gesellschaft hineinkommt. Aber dies bedeutet, daß wir eine Gesellschaft planen müssen, in der wir selber uns wahrscheinlich unbehaglich fühlen würden, von der wir aber annehmen, daß der Mensch sich ihr anpassen kann und dabei sogar glücklich sein wird.

Praktisch gesehen, liegt die Wurzel unseres Problems darin, daß wir keine Möglichkeit haben, die menschliche Zufriedenheit zu messen. Wir nehmen gerne an, daß ein wirtschaftlich definierter »Lebensstandard« auch ein Maß für die Zufriedenheit bgibt. Wenn wir lesen, daß die Produktion von bestimmten Gütern eine neue Rekordhöhe erreicht hat, dann unterstellen wir gewöhnlich, daß dies auch die Leute zufriedener gemacht hat. Doch könnten im Gegenteil die Menschen gerade wegen der Rekordzahlen unzufriedener sein, da sie, um eben diese zu erreichen, auf liebgewordene Gewohnheiten verzichten mußten. Dabei muß es sich nicht nur um den Verzicht auf ein ruhiges Leben in sauberer Luft handeln, auch andere konkrete Nachteile können mit eingehandelt werden: innere Unruhe, ein aus den Fugen geratenes Gefühlsleben, steigende Kriminalität. 

Wir kennen keine Mittel und Wege — dies hat das oben zitierte Beispiel aus der Wirtschaft gezeigt —, um eine Umkonstruierung unserer Gesellschaft zu erreichen. 

Wenn es sich als vorteilhaft erweisen sollte, das Leben älterer Menschen zu verlängern, dann werden wir es wohl auch verlängern, unabhängig davon, welchen Einfluß eine drastische Veränderung der Altersstruktur unserer Bevölkerung auf die Kultur haben wird. Wenn es vorteilhaft ist, Mensch-Tier-Chimären zu konstruieren, dann werden wir sie auch herstellen. Und wenn das Löschen von Gedächtnis attraktiv erscheinen sollte, dann werden wir eben das Gedächtnis löschen.

Um diese Situation zu überwinden, müßten wir über mehr Phantasie und Tatkraft verfügen, als sie uns im Westen und im Osten zur Verfügung stehen. 

Man kann heute durchaus den Eindruck bekommen, daß die Welt bereit ist, mit wehenden Fahnen zur Hölle zu fahren, und das wird sie wahrscheinlich auch tun.

Professor Arnold Toynbee hat unsere Situation beschrieben als ein Nachhinken unserer geistigen und seelischen Fähigkeiten hinter unseren intellektuellen Fortschritten. Aber dadurch wird das Problem schief dargestellt. Denn wir kennen eigentlich keine Möglichkeiten, Gefühlswerte in einer ähnlichen Weise zu sammeln und anzuhäufen, wie wir es mit Wissen tun können, und es gibt auch keine seelischen Techniken, die wir fix und fertig abgepackt unseren Nachkommen zu übermitteln wissen. 

Es trifft wohl eher den Sachverhalt, wenn wir sagen, daß die soziologischen Wissenschaften nicht mit den physikalischen Wissenschaften Schritt gehalten haben. Wir dürfen glauben, daß ein tieferes Verständnis der Beziehungen zwischen Kultur und Persönlichkeit die menschliche Selbstliebe und Aggressivität in Richtung auf Kooperation und soziales Gewissen umlenken könnte. Die menschliche Gesellschaft zeigt heute eine reiche Skala von Zwischentönen zwischen diesen Extremen. 

Primitive Gesellschaften, die es noch nicht gelernt haben, ihre eigene Tradition kritisch zu betrachten, leben in Frieden und Ruhe. Für hochentwickelte Gesellschaften mit den Möglichkeiten, weltweit zu reisen und sich intensiv zu bilden, dürfte dies kaum noch zutreffen. Modernes Leben könnte bedeuten, daß ganz unvermeidlich immer mehr Glieder aus unserer Gesellschaft »herausfallen«. 

Niemand wird in Abrede stellen, daß diese These dringend überprüft werden muß. Sollte sie stimmen, so gilt es herauszufinden, wie wir den Zerfall der Gesellschaft auf ein Minimum beschränken können. Grundlegende Antworten finden sich in den Werken weiser Männer. Der Mensch ist das Maß aller Dinge, Wissen ohne Milde und Nachsicht ist bösartiges Gift. - Was uns fehlt, ist das Know-how, diese Prinzipien in die Tat umzusetzen.

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Ende

 

 

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Gordon Rattray Taylor - 1968 - Die Biologische Zeitbombe - Revolution der modernen Biologie