19 - Perspektiven Taylor-1975
Der Mythos erfüllt in primitiven Kulturen eine unentbehrliche Funktion. Er gibt den ewigen Wahrheiten Ausdruck, Steigerung und feste Form.
Er schützt und verwirklicht die Sitte. Er gibt Zeugnis für die Wirksamkeit des Rituals und enthält praktischen Rat für die Lebensführung der Menschen.
Mythos ist also ein tief verwurzelter Teil der menschlichen Kultur. --Bronislaw Malinowski--
1 Mythisches Denken 2 Verrat der Intelligenz 3 Aufgeblähtes Ego 4 Soziale Erstarrung 5 Die vermeidbare Zukunft
1 Mythisches Denken
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Das zentrale Problem für die westliche Zivilisation liegt darin, daß es ihr wieder gelingen muß, eine organische Sozialstruktur zu schaffen, andernfalls sie im Chaos untergeht.
In den beiden vorangegangenen Kapiteln habe ich zu zeigen versucht, nach welchen Perspektiven dies möglich wäre. Doch dies stellt uns vor das Metaproblem: Wenn klar ist, was getan werden müßte — warum wird es dann nicht getan? Warum geraten wir immer tiefer in den Strudel hinein?
Nun, vor allem deshalb, weil wir geradezu gebannt sind von verschiedenen fixen Ideen, an denen wir mit einer irrationalen Intensität festhalten und die unsere Urteilskraft trüben. Irrationale Meinungen, sofern sie sich weiter Verbreitung erfreuen, werden in einer bestimmten wissenschaftlichen Terminologie als Mythen bezeichnet. (Dieser Terminus will nicht unbedingt besagen, daß eine solche Meinung falsch sei; er weist aber darauf hin, daß hier Rechtfertigungen für ein Verhalten bereitgestellt werden.)
Hinter Mythen wird viel Emotionalität gespeichert, weshalb jeder, der sie in Frage stellt oder gar kritisiert, mit Widerspruch oder Sanktionen rechnen muß. Ein bekanntes Beispiel haben wir im Kommunismus, den Kommunisten nicht kritisieren dürfen, wollen sie Strafe vermeiden. Ähnlich stand es früher mit der christlichen Glaubenslehre.
Es gibt eine ganze Reihe Mythen minderer Ordnung in unserer Gesellschaft, von denen einige bereits an Überzeugungskraft verlieren — zum Beispiel, daß alles, was gut fürs Geschäft ist, auch gut für die Gesellschaft sei. Oder daß sich die Probleme der Technik wiederum durch die Technik lösen ließen. Oder daß alle Menschen den amerikanischen Lebensstil neidvoll anerkennen.
Ich will diese Mythen auf sich beruhen lassen, denn mehr als sie beunruhigen mich so emphatisch verteidigte Glaubenssätze wie die, daß Freiheit und Spontaneität des einzelnen unumstößliche Werte seien. Gewiß sind sie zu wünschen, aber nicht minder erwünscht sind auch ihre Gegenwerte: Ordnung und Disziplin. Es kommt auf die richtige Balance zwischen den Werten an.
Gegenwärtig steht ein weiterer machtvoller Mythos in Flor: die Idee, daß Gleichheit ein absoluter Weg sei, weshalb jegliche Hierarchie und Unterordnung Teufelswerk darstelle. Man riskiert schon einiges, wenn man heute ein Wort für die Ungleichheit einlegt. Tatsächlich können sich viele Leute nur schwer damit abfinden, daß zwischen den Individuen qualitative Unterschiede bestehen. Aber auch hier liegt das wirkliche Problem darin, daß man den rechten Kompromiß zwischen der großartigen Idee der Qualität sowie anderen, nicht minder gültigen, wiewohl weniger zeitgängigen Vorstellungen — so etwa der des Verdienstes — auf der einen Seite und der Vorstellung der Chancengleichheit auf der anderen Seite herstellt. Denn nicht nur das Bedürfnis nach Gerechtigkeit und gerechter Verteilung ist tief im Menschen verwurzelt — auch das Bedürfnis nach Auszeichnung und Unterscheidung.
Der trügerischste all dieser Mythen ist der Glaube, Utopia lasse sich verwirklichen. Viele junge Menschen glauben in der Tat, daß mit nur wenig mehr Anstrengung die Welt in einen ungleich besseren Zustand gebracht werden könnte und daß allein eine böswillige Verschwörung handfester Interessen die Verwirklichung vereitle. Bestärkt werden sie in ihrem Glauben durch jene Technomanen, die seit über fünfzig Jahren die Parole ausgeben, es bestehe kein Grund mehr, warum noch irgend jemand weiterhin in Dürftigkeit dahinleben müsse. Die Wahrheit ist aber, daß die Menschen gerade wegen ihrer erratischen, ungleichartigen und irrationalen Wesensart sich äußerst schwer damit tun, selbst auf der Hand liegende kleinere Reformen zu verwirklichen.
Es ist leider traurige Wahrheit, daß eine vollkommene Gesellschaft auf vollkommenen Menschen beruhen müßte, und Menschen sind nun einmal nicht vollkommen.
Die Täuschung der Utopie beruht ja gerade auf dem radikalsten aller gegenwärtig wirkenden Mythen, nämlich auf dem Glauben, der Mensch sei von Natur aus gut und seine Schlechtigkeit sei bloß das Ergebnis einer Korrumpierung durch die Gesellschaft. Also komme es darauf an, die Gesellschaft ins Lot zu bringen, damit die Menschen von selbst vollkommen werden und jedermann fürderhin glücklich weiterlebt. Dieser Glaube stellt natürlich den polaren Gegensatz zur puritanischen Überzeugung von der Schlechtigkeit des Menschen dar, der einzig durch Strafen hienieden und die Androhung von Strafen im Jenseits am Sündigen zu hindern ist.
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In Wahrheit trifft ja keine der beiden Ansichten zu. Der Mensch ist weder gut noch böse. Er folgt allein erlernten oder im Instinkt verankerten Verhaltensmustern, die je nach dem Zusammenhang seines Handelns und den Zielen und Werten des Beurteilers «gut» oder «böse» genannt werden. Zu der Tatsache, daß jeder Mensch die natürliche Neigung besitzt, seine eigenen Interessen an die erste Stelle zu setzen und somit die Interessen anderer zu verletzen, hat der einzelne auch zu lernen, diese Neigung in bestimmtem Maße zu zügeln, sofern er in Gemeinschaft mit anderen zu leben wünscht. Menschen, die überhaupt nicht gelernt haben, sich zu bezähmen, können vom Standpunkt der Gesellschaft aus nur für «böse» oder «schlecht» gelten, jene aber, die sich im Zaum halten können, werden für «gut» gehalten. So können also einzelne Individuen in bestimmten Situationen als «gut» oder «böse» eingestuft werden, doch ist eine solche Einstufung nicht auf die Menschheit als Ganzes anwendbar.
Das mag alles reichlich akademisch klingen, ist es aber nicht. Viele soziale Probleme, die starke Emotionen wecken, verbinden sich mit dem heutigen romantischen Glauben an den Menschen als gutes Wesen. Der Mythos von der inneren Vollkommenheit geht Hand in Hand mit der gegenwärtigen Ablehnung jeglicher Autorität und der Wertschätzung der Spontaneität. Denn wenn der Mensch von Natur gut ist, so braucht er nur seinen Instinkten zu folgen, muß er nur tun, was er seinen Impulsen gemäß tun möchte, und alles wird von selbst gut werden. Die Schwäche dieser Position wird deutlich, wenn auch Menschen in Betracht gezogen werden, die ihren Impulsen nachgeben und Kinder quälen oder ähnlich verabscheuungswürdige Dinge begehen.
Der unauflösbare Gegensatz wirkt auch auf die Einstellung gegenüber der Klasse. Der Konservative hält die Menschen für unterschiedlich im Rang und im Vermögen zur guten Tat, weshalb er es für vernünftig erachtet, daß die Gesellschaft Wege findet, den fähigsten und gewissensstrengsten Männern die wichtigen Posten anzuvertrauen, weshalb es auch eine Stufenleiter gesellschaftlicher Geltung und differenzierender Auszeichnung geben soll. Der Radikale, der allen Menschen die gleiche Möglichkeit, gut zu sein, zuspricht, beharrt auf Gleichheit, während er (nicht ganz logisch) die an der Macht Befindlichen als «schlecht» oder «unfähig» anklagt.
Es kommt mir hier darauf an, die politischen Folgen dieses Mythos darzustellen. Wenn wir glauben, daß der Mensch vollkommen ist oder zumindest sein könnte, dann wenden wir natürlich alle unsere Kräfte an die Besserung der Gesellschaft und kehren damit nur den Irrtum der Kirche des Mittelalters um, die sich die Besserung des menschlichen Handelns zum Ziel setzte. Tatsache aber ist, daß wir uns um beides bemühen müssen, vor allem um die sozialen Gegebenheiten, die das Verhalten bestimmen und von denen bereits die Rede war. Heutzutage kommt aber der Aspekt einer Reform des Menschen zu kurz, während der Aspekt der Gesellschaftsreform überbetont wird.
1 Mythisches 344
So versuchen wir in der Erziehung nach Wesleys Vorschlag nicht länger den Willen des Kindes zu brechen, es nicht mehr durch Strafe zu belehren oder zu motivieren. Viele Erzieher vertreten die Auffassung, daß dem Kind eine optimale Umwelt für die Entwicklung seiner Möglichkeiten geboten werden muß und daß man eher gute Leistungen belohnen als Fehler bestrafen solle. Wie eine Blume wisse der Schüler schon, was er von der Außenwelt aufnehmen müsse; er könne sehr wohl über seinen eigenen Werdegang entscheiden und aus sich selbst heraus alle Anlagen zur Vollendung entfalten. Diese weitverbreitete Auffassung ist in allen Stücken genauso lächerlich wie ihr puritanisches Gegenbild. Auch hier liegt die Wahrheit in der Mitte. Ein Schüler braucht sowohl die Unterweisung durch andere als auch Gelegenheit für konstruktive Selbstentfaltung, braucht sowohl Strafe als auch Belohnung, braucht ebenso Disziplin wie ein gewisses Maß an Freiheit.*
Die Philosophie der permissiven Erziehung untergräbt die ganzen Bahnen, in denen der einzelne an die Gesellschaft herangeführt wird. Wenn die Kinder tun dürfen, was sie wollen, entsteht zuletzt auch eine Gesellschaft, in der jeder tut, was er will.
Es gibt noch eine Reihe anderer Mythen, von denen mir einer besonders schädlich erscheint: der Glaube an die Heilsamkeit von Zentralisierung und Standardisierung. Aus unerfindlichen Gründen stoßen sich viele Leute an Abweichungen und Varianten. Wie ein General, der seine Männer gern uniformiert in mathematisch exakter Reihe aufgebaut sieht, betrachtet auch der Zivilbeamte «einheitliche Durchführung» als vordringlich. Im wirklichen Leben aber ist jeder Einzelfall verschieden, und von Ort zu Ort gibt es oft ziemlich abweichende Auffassungen darüber, was selbst in durchaus vergleichbaren Fällen zu geschehen habe. Das Leben ist bereits viel zu stark standardisiert, und man muß mehr Abwechslung und Flexibilität hineintragen, nicht aber ihren Anteil zu verringern suchen. Entscheidungen sollten daher auch nach unten delegiert werden, selbst wenn dies zu Abweichungen von der Norm führt. Es ist natürlich leicht, gleichmäßige Handhabung unter Berufung auf die Gerechtigkeit zu verteidigen; hier wird ein weiterer Aspekt der Vorliebe für Gleichheit sichtbar. Aber Gleichheit wird oft als Deckungsgleichheit verstanden. Auch hier sind Kompromisse nötig: Gleichheit hat ihr Gutes, aber Verschiedenheit auch. Beständigkeit stiftet Positives, aber Beweglichkeit ebenfalls. Wir müssen uns das rechte Augenmaß bewahren.
* Es ist mir bewußt, daß ich mit solchen Äußerungen kein geringes Risiko eingehe, und zweifellos werden mir zornige Zuschriften ins Haus flattern. Als ich in einem meiner früheren Bücher einen Mittelweg zwischen allzu viel und allzu wenig Disziplin befürwortet hatte, warf mir eine prominente kritische Stimme (sie gehörte einer Dame von aggressivem Charakter) denn auch prompt vor, ich wolle die Auspeitschung wiedereingeführt sehen. Derart maßlose Reaktionen lassen den irrationalen Charakter der dahinterstehenden Überzeugungen deutlich werden.
1 Mythisches 345
2 Verrat der Intelligenz
Heutzutage wird das mythische Denken gerade durch jene gepflegt, deren Aufgabe es eigentlich sein sollte, es bloßzulegen: von der Intelligenz, um diesen Sammelbegriff zu gebrauchen. «La Trahison des Clercs», ein Buch des französischen Philosophen Julien Benda, erschien vor nun gut fünfzig Jahren, ist aber nach wie vor aktuell. Benda vertrat die Auffassung, der Intellektuelle solle sich von politischen oder sonstigen Voreingenommenheiten freihalten und die Tatsachen so ehrlich wie möglich darlegen. Unter «clercs» verstand er allgemein Personen höherer Bildung.
Freiheit von Vorurteilen ist vor allem wichtig bei Lehrern, welche die jüngere Generation unterrichten. Heutzutage wird oft argumentiert, daß der Religionsunterricht nicht dogmatisch sein dürfte, daß auch Alternativen zur Sprache kommen sollten, unter Hervorhebung der Stärken und Schwächen, so daß der Zuhörer sich eine eigene Meinung bilden könne. Ist dies schon für die Religionslehre zu wünschen, so ganz sicher für die Politik, die heute für viele Menschen die Stelle der Religion einnimmt.
Dessenungeachtet versuchen gegenwärtig viele Lehrer — vor allem junge Universitätsdozenten —, ganz bewußt politische Standpunkte zu vertreten. Ironischerweise verlangen auch die Studenten selbst, daß sich ein Dozent «engagieren» müsse. Gerade jene, die sich darüber beklagen, daß die herkömmliche Art des Lehrens durch unbewußte Voreingenommenheit aus der Ideologie der politischen Rechten oder durch Zustimmung zum Gegebenen eingefärbt werde, wollen nun weit Schlimmeres: nämlich eine bewußt gesteuerte, mit Vorsatz betriebene Meinungsbeeinflussung.*
Solche Extreme aus Klassenvorurteilen, die in England die wissenschaftliche Lehre bis zu einem Punkt durchwachsen haben, daß die Widersinnigkeiten hervorspringen, haben einen irrationalen, um nicht zu sagen paranoiden Charakter. Ein Dozent sagte mir, daß eine festgelegte Rechtschreibung nur einen Trick der Mittelklasse darstelle, um der Unterklasse das Lernen schwerzumachen! (Seine Annahme, daß die Unterklasse von Natur aus zur Rechtschreibung weniger befähigt sei als die Mittelklasse, ist ziemlich entlarvend.)
* Man wird aber auch von Seiten der Rechten eine bewußt gesteuerte Meinungsbeeinflussung feststellen müssen. Unter Hitler ging an den deutschen Universitäten diese vorsätzliche Meinungsbeeinflussung von rechts so weit, daß Anthropologen vom Katheder die Ausrottung «Minderrassiger» in Erwägung zogen und Juristen wie Germanisten die Notwendigkeit erkennen zu müssen glaubten, ihre wissenschaftlichen Meinungen in den Dienst der Hitlerschen Kriegspolitik zu stellen. (AdÜ)
2 Verrat 346
Politische Vorurteile haben ungehindert ihren Weg in die Sozialwissenschaften genommen, die gerade vor allen anderen Fächern davon frei sein sollten. Die intellektuelle Voreingenommenheit eines Autors wie des verstorbenen C. Wright Mills, dessen Arbeiten großen Einfluß unter den Studenten hatten, ist ebenso gefährlich für die Gesellschaft wie das vielleicht unbewußte Vorurteil mit Rechtsdrall, das etwa bei David Riesman sichtbar wird. Beide Autoren vertreten ihre Ansichten in dogmatischer Form. Beide können nicht recht haben. Ich erwähne vor allem diese beiden Autoren, weil die Widersprüchlichkeit ihrer Positionen durch William Kornhauser in seinem Aufsatz «<Power EIite> or <Yeto Groups>?» (»<Machtelite> oder <Vetogruppen>?») dargestellt wurde. Er zieht den Schluß, daß keiner der beiden Autoren die Richtigkeit seines Standpunkts beweisen könne, sofern die Fragen nicht mit streng wissenschaftlichen Methoden angegangen werden. Das heißt, daß die Darlegungen beider Autoren nicht wissenschaftlich, sondern polemisch sind. Dieses Beispiel ist gewiß noch milde. Aber wenn von Männern, die Soziologie zu ihrem Beruf gemacht haben, zum Wandalismus aufgerufen wird, dann stülpt sich einem der Magen um.
Noch abstoßender vom moralischen Standpunkt aus sind jene Verteidiger der Gewalt, die es besser wissen sollten (wie Jean-Paul Sartre), oder die philosophische Doppelzüngigkeit und die semantische Zweideutigkeit von Autoren wie Herbert Marcuse. (Ich beziehe mich hier nicht auf Marcuses Schlußfolgerungen als solche, sondern mehr auf seine mit philosophischen Mitteln irreführende Darstellung, die naive Leser zum Narren hält. Die gefährliche Natur derartiger intellektueller Spielereien wird deutlich in der indignierten Bemerkung Adornos angesichts von Studenten, die seine Vorlesung störten: «Als ich ihnen sagte, sie sollten der Autorität trotzen, erwartete ich nicht, daß sie dies wörtlich verstehen würden!»)*
Es ist schwer, Voreingenommenheit unter Lehrenden zu verhindern. Niemand möchte eine noch so diskrete Zensur über sich dulden. Andererseits wird man aber einen Geographen nicht gewähren lassen können, der seinen Studenten erzählt, die Erde sei flach oder könne dies womöglich doch sein. So kann eigentlich verlangt werden, daß bei strittigen Fragen der Lehrer einen neutralen Standpunkt einnimmt.
Die eigentliche Sünde der intellektuellen Linken ist aber, daß sie unbekümmert die eigentliche Natur der ganz realen Probleme falsch darstellt und dadurch ihre Lösung erschwert, wenn nicht gar verhindert hat. Der Sündenfall des Herbert Marcuse und anderer besteht darin, daß sie der Aufforderung zu Haß und Zerstörungswut intellektuelle Reputation verliehen, wodurch nur der Abwrackung der Gesellschaft Vorschub geleistet wurde — und dies ist ein letzter Grund, die Zukunft pessimistisch zu sehen.
* In der deutschen Presse wurde Adornos Bemerkung seinerzeit anders wiedergegeben: «Wie konnte ich ahnen, daß sie meine Gedanken mit Molotowcocktails verwirklichen wollten!» — und der Tenor dieser Äußerung war nicht indigniert, sondern schmerzlich-erstaunt. (AdÜ)
2 Verrat 347
Die verfälschende Darstellung greift aber auch auf die Art und Weise über, in der Sprache verwendet und verstanden wird. So werden die Armen gewöhnlich als «enteignet» dargestellt. Aber «enteignen» bedeutet, jemandem etwas wegzunehmen, der zuvor etwas besessen hat. Es stimmt aber nicht, daß die Armen heute weniger als früher haben; selbst die Ärmsten von heute sind reicher als die Armen vor einem Jahrhundert. Zudem setzt das Wort «enteignen» die Existenz eines Enteigners voraus, eines Schurken — während doch in Wahrheit die Reichen heutzutage nicht weniger, sondern mehr zum Wohlergehen der Armen beitragen. Allgemein wird heute ein Gefühl des Unterdrücktseins kultiviert; auf allen Ebenen soll den Menschen suggeriert werden, daß man sie um etwas betrogen habe. Neid, einst eine Todsünde, wird geradezu gezüchtet. Eine Gesellschaft kann unter solchen Umständen nicht Bestand haben. Auf der Basis des Hasses kann sie ihre Probleme nicht besser, sondern nur schlechter lösen.
Damit soll nicht gesagt sein, daß die gegenwärtige Situation zufriedenstellend wäre. Ich meine einfach, daß die höchst schwierige Frage, wie zueinander im Gegensatz liegende, einander ausschließende Ansprüche sich in eine Art Gleichgewicht bringen lassen, durch ihre falsche Auffassung noch erschwert wird und daß dadurch die Gefahr besteht, ein Chaos heraufzubeschwören, durch das alles nur noch schlimmer werden kann.
Gefährlich ist auch die Unbekümmertheit, mit der einige Wissenschaftler, gestützt auf ihr wissenschaftliches Renommee, Aussagen auf Gebieten machen, in denen sie keine Fachleute sind. (Man erinnert sich an die Äußerungen Robert Oppenheimers, des Atomphysikers, über Kindererziehung.) Gerade weil solche Spezialisten sich so tief mit den Geheimnissen der Wissenschaft eingelassen haben, sind sie in Alltagsfragen schlechtere Ratgeber als irgendein beliebiger Zeitgenosse. Viele Wissenschaftler haben die Wissenschaft gerade deshalb als Tätigkeitsfeld gewählt, weil sie frei von den Problemen emotionaler Stellungnahme und Bewertung ist, denen sie sich nicht recht gewachsen fühlen. In einer von Wissenschaftlern geführten Welt ließe sich nicht leben.
Noch schlimmer wird es, wenn Soziologen sich ans reale Leben machen. Man muß nur einmal einen Blick auf die Arbeiten von Professor David McClelland werfen, der sein Leben dem Studium der Motivationen für Spitzenleistungen gewidmet hat. Seine Vorschläge, wie man Kinder erziehen müsse, damit sie sich in wilder Konkurrenzlust ins Leben stürzen, um so eine noch mehr nach den Gesetzen des Dschungels sich orientierende Gesellschaft hervorzubringen, als es die amerikanische ohnehin schon ist, kann nur mit tiefer Besorgnis erfüllen.*
* Eine weltumspannende Untersuchung verschiedener Kulturen erbrachte, daß dort, wo in der Erziehung das Leistungsprinzip betont wird, die Gesellschaft eine Tendenz zeigt, aggressiven Idealen von militärischem Ruhm zu folgen, und Gewaltanwendung einschließlich der Folter zur Erreichung ihrer Ziele gutheißt. Die Erziehungsvorschläge McClellands dürften geeignet sein, einen Weltkrieg nur noch wahrscheinlicher zu machen.
2 Verrat 348
Die Verbindung von kindisch-naivem soziopolitischem Denken mit Expertentum, wie es hier vorgeführt wird, ist eine der großen Gefahren für unsere Gesellschaft. Aber anstatt ihre Mißbilligung deutlich zu machen, bestätigt die Gesellschaft diese wohlmeinenden, aber zutiefst ahnungslosen und anmaßenden Männer.
Das gleiche gilt von den Technomanen. Eine Gesellschaft mit mehr Weisheit als die unsere würde ihnen klarmachen, daß ihre Schuljungenvorstellungen von der Zukunft mit all dem technischen Krimskrams und ohne Humanität einfach unerwünscht sind und daß ihr Glaube, alles, was machbar sei, müsse auch gemacht werden, einen gefährlichen Mangel an geistiger Reife verrät. Auch hier herrscht Anmaßung, ja Hybris.
Besonders widerwärtig sind jene Optimisten vom Dienst, wie man sie nennen möchte, die für sich den Blick von der hohen Warte der Wissenschaft in Anspruch nehmen, dabei aber die Leute mit Argumenten einzulullen suchen, deren Fadenscheinigkeit sie eigentlich kennen müßten. Ein häufiges Beispiel dieser Geistesart ist die stets von neuem wiederholte Behauptung, daß das Bevölkerungsproblem keinen Anlaß zur Sorge gebe, da ja die Geburtenraten bereits im Fallen begriffen seien. Die entscheidende Tatsache, daß die Sterberaten noch stärker fallen, wird dabei gewöhnlich unterschlagen. Jeder Demograph weiß, daß die Geburtenraten fallen — in einigen Ländern bereits seit über einem Jahrhundert —, aber die Bevölkerung dennoch ständig zunimmt. (In anderen Fällen kann das Absinken der Geburtenrate eine vorübergehende Erscheinung sein, dann nämlich, wenn die Ehepaare den Zeitpunkt, zu dem sie ihr erstes Kind haben wollen, auf ein höheres Alter als bis dahin üblich verschieben.)
Das gemeinsame Merkmal all dieser Ex-cathedra-Verlautbarungen ist Arroganz — und Arroganz scheint leider die allgemeine Krankheit unserer Zeit zu sein.
3 Aufgeblähtes Ego
Die Welt sieht sich einer Explosion der Arroganz gegenüber. Als ich jung war, redeten die Leute von «Minderwertigkeitskomplexen». Heutzutage aber scheinen viele Menschen an einem ungerechtfertigten Überlegenheitskomplex zu leiden.
Überall sehen wir, wie Leute ohne die mindeste Kenntnis der Gegebenheiten sich darüber auslassen, was eigentlich zu geschehen habe. Die Zuschriften an die Zeitungen geben tagtäglich Zeugnis von dieser erstaunlichen Selbstsicherheit. Anmaßung wird ebenso sichtbar in der Unbeirrbarkeit, mit der die Leute dieses oder jenes Zugeständnis als ihr «Recht» einfordern, wie in der mangelnden Bereitschaft zum Respekt gegenüber Personen, die ihre Befähigung bewiesen haben, während sie selbst mit größter Hochachtung behandelt zu werden wünschen.
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Es ist dies eine Form der Egomanie, verbunden mit dem — hier schon mehrfach erwähnten — Wunsch, jemand zu sein. Der unmittelbare Auslöser für dieses Verhalten ist aber in der übertrieben ermutigenden und Unterstützung gewährenden Haltung der Erwachsenen gegenüber vielen Kindern zu sehen, die eine Reaktion auf allzu entmutigende und in Grenzen weisende Erziehungsmethoden von vor sechzig Jahren darstellt. Zweifellos gewährt eine solche Erziehungsmethode dem einzelnen mehr Lustgewinn, doch im Hinblick auf die Möglichkeiten einer ausgewogenen und von Zusammenhalt bestimmten Gesellschaft scheint sie nicht eben zu Hoffnungen Anlaß zu geben.
Arroganz liegt vor allem auch den Handlungsweisen der Politiker zugrunde, die so unbedenklich — wir sprachen davon — den ausdrücklichen Willen der Öffentlichkeit mißachten, und ebenso wirkt sie im Tun der Beamten, die meinen, sie wüßten schon am besten, was gut für die Gesellschaft ist, weshalb sie denn auch einen Schleier von Geheimhaltung über alles breiten, um mißliche Nachfragen zu vermeiden. Die höchste Anmaßung kommt in der Annahme zum Ausdruck, man habe das Recht zur Vernichtung Unschuldiger (etwa durch Bombenwürfe auf Zivilisten), wenn dies nur den eigenen Zielen dient.
Das Gegenstück zum totalen Selbstvertrauen ist der totale Zynismus gegenüber allen anderen. Jeder andere wird als gefährlich oder stupide eingestuft. Die Psychologen wissen, daß es zwei Arten von Individuen gibt: jene, die sich selbst die Schuld geben, wenn etwas schiefgeht, und die anderen, welche die Schuld abwälzen. Die einen sind «intropunitiv», die anderen «extrapunitiv». Ein weniger schmeichelhafter Ausdruck für diese Geisteshaltung des Abwälzens, die heutzutage geradezu epidemische Ausmaße annimmt, wäre «Verfolgungswahn». Verfolgungswahn ist die Überzeugung, daß alle eigenen Schwierigkeiten auf das Konto der Nachstellungen und Machenschaften der Feinde gehen.
Ich glaube, daß wir tatsächlich in einer an Verfolgungswahn leidenden Welt leben. Natürlich hat es auch schon früher Bedingungen gegeben, in denen eine Atmosphäre des Verfolgungswahns gedieh, aber doch wohl nie im heutigen Ausmaß. Die psychologischen Ursachen der Paranoia sind, wie wir seit Freud wissen, in einem gestörten Vaterverhältnis zu suchen. Die Gesellschaft ist krank, weil die Menschen krank sind, nicht umgekehrt.
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Selbst wenn dies manchem übertrieben klingen mag, so muß doch zugegeben werden, daß wir Menschen uns insgesamt schwertun, einen Zustand der Reife zu erlangen. Viel zu viele Menschen bleiben in kindhafter Abhängigkeit oder in narzißtischer Selbstbezogenheit befangen, unfähig zum Aufschub von Triebbefriedigung, unfähig zum Ertragen von Frustrationen. Andererseits aber ist die Gesellschaft wohl bereits überreif — allzu starr, vielleicht schon vergreist.
4 Soziale Erstarrung
In England herrscht Linksverkehr. Die an sich wünschenswerte Umstellung auf den Rechtsverkehr nach europäischem und amerikanischem Muster wäre allzu kostspielig und verwirrend, weshalb sie als unpraktikabel abgelehnt wird. Als die gleiche Umstellung in Indien angeordnet wurde — es gibt dort weniger Autos, und Verkehrsampeln sind nicht allzu häufig —,wollten die Wasserbüffel ihre Gewohnheiten nicht ändern, die sich seit Jahren dem Straßenverkehr angepaßt hatten, und der Staat sah sich zur Suspendierung seiner Maßnahmen gezwungen.
Das Beispiel zeigt, wie schwer es ist, einmal eingefahrene Gleise wieder zu verlassen. Auch die westliche Welt hat Gewohnheiten und Einrichtungen entstehen lassen, die nur schwer wieder verändert werden können, die aber mit der Zeit immer weniger der Wirklichkeit angemessen sind. Man kann geradezu von einer Sklerose der Gesellschaft sprechen, denn sie altert in einem negativen Sinne: Sie wird immer starrer, weniger anpassungsfähig und ist zunehmend mit Überholtem belastet. Dieser Prozeß wurde bisher noch wenig beachtet, doch fand er jüngst in Professor E. Orowan vom Massachusetts Institute of Technology einen Untersucher, der die Ergebnisse seiner Forschungsarbeit in seinem Buch « The Aging of Societies» vorgelegt hat.
Es besteht die Tendenz, daß selbst der Fortschritt in der Gesellschaft sich an traditionellen Mustern orientiert. Ohne die anerkannten «Qualifikationen» ist es schwer, einen Platz in der Elite zu erhalten, doch sind diese Qualifikationen meist ganz irrelevant für die geforderte Tätigkeit — etwa wenn die Kenntnis ausgestorbener Sprachen gefordert wird. Die Kenntnis rechtlicher Präzedenzfälle wird für wichtiger gehalten als ein Verständnis der politischen Gleichheitsideen. Nur wenige in der herrschenden Elite haben einen Begriff von den bedeutenderen neuen Ideen, die unsere ganze Auffassung vom Regieren verändert haben. Kaum einer von ihnen kennt sich aus in Gebieten wie allgemeine Systemtheorie oder Informationstheorie — ganz abgesehen von den großen Grundvorstellungen der Physik wie Entropie, Quantenmechanik und Relativitätstheorie. Noch weniger kümmern sie sich um das, was wir aus den Erkenntnissen der Sozialpsychologie lernen könnten.
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Eine flexible Gesellschaft hält «Hintertreppen» bereit, auf denen Menschen, deren Denkweise originell und schöpferisch ist, ihren Weg zu Ebenen finden, wo ihr Denken auch Anwendung erfährt. Wenn 1829 der angehende Theologe Charles Darwin nicht ein Mikroskop in die Hände bekommen hätte, wenn ihm nicht die Gelegenheit zu einem Weiterstudium auf dem Gebiet der Naturwissenschaften geboten worden wäre, dann hätte er kein derart entwickeltes theoretisches Konzept von so unorthodoxer Prägung wie das von der Entstehung der Arten vorgelegt. Die moderne Gesellschaft ist aber eifrig darum bemüht, derartige «Hintertreppen» zu sperren und selbst jenen, die an der Vorderfront Einlaß wünschen, noch eine Besuchserlaubnis abzufordern.
Dies sind einige der Faktoren, die erklären, warum in England, Frankreich, der Bundesrepublik Deutschland und in anderen Staaten zunehmend der Ruf nach einem «Umschwung», nach einer «Tendenzwende» laut wird. Die Forderung nach Veränderung kommt aus unterschiedlichen sozialen Schichten, und sie steht auch hinter der wachsenden Zustimmung, die separatistische Bestrebungen finden. Tatsächlich bekundet sich hier eine abgedämpfte, verschwiegene Entsprechung zum Wunsch des Extremisten nach blutiger Revolte; man will die sanfte «Mini-Revolution». (Auf den ersten Blick mag solch ein Verlangen in einer Zeit tiefgreifender und ständiger Veränderung geradezu pervers erscheinen, und es wird Leute geben, die dagegenhalten, es sei jetzt endlich nötig, sich einmal hinzusetzen und die Scherben zu zählen.)
Die Unzufriedenheit mit den herrschenden Zuständen entzündet sich an der «herrschenden Elite». Wie ich bereits in einem der vorangehenden Kapitel ausgeführt habe, ist die herrschende Elite im Grunde längst ohne Bezug zur Realität; überholt ist ihr Bild von der Gesellschaft, und unrealistisch ist ihre Vorstellung vom «Erfolg» — von dem, was angestrebt werden kann und erreicht werden sollte. Die Elite reagiert nicht auf die unterschwelligen Bedürfnisse hinter den öffentlich laut werdenden Forderungen, teils weil es ihr an Einfühlungsvermögen fehlt, teils weil sie diese nicht billigt. Aber selbst dann, wenn sie einmal zuhört und zustimmt, kommt die Reaktion doch viel zu spät und ist gewöhnlich ganz unangemessen und unzulänglich.*
* Tatsache ist, daß die herrschende Elite ihr Charisma verloren hat, wie Toynbee sagt. Das Wort «Charisma» meint eine besondere, auszeichnende Gabe oder Befähigung, auch eine spezifische Anziehungskraft und Vorbildlichkeit — alles Eigenschatten, die der heutigen Elite fehlen. Die Gesellschaft spürt keinen Anreiz, ihr zu folgen.
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Der Grund für diese Sklerose der Eliten ist ihr hohes Durchschnittsalter, mehr aber noch die zeitliche Dauer, über die ihre Tätigkeit sich erstreckt. In einer Welt, in der die Hälfte der Bevölkerung unter Dreißig ist, muß eine Regierung mit einem Durchschnittsalter von fünfundfünfzig Jahren, eine höhere Beamtenschaft mit einem Durchschnittsalter von sechzig Jahren in der Vergangenheit leben. Laut Roger Garaudy ist bei der exponentiellen Entwicklung der Menschheit die Mitte der Geschichte vor fünfzig Jahren auszusetzen. Die Welt hat heute 4 Milliarden Einwohner, hatte aber damals, 1925, nur 2 Milliarden. Sieht man jedoch die Geschichte der Energieproduktion der Menschheit, so liegt die Mitte der Geschichte im Jahr 1966! Jeder, der vor Beendigung des Zweiten Weltkriegs geboren wurde — der Autor schließt sich hier ein—, lebt daher in der Vergangenheit, sofern er nicht außerordentliche Anstrengungen unternimmt, mit seinem Weltverständnis auf dem laufenden zu bleiben.
Leider neigen Eliten dazu, sich selbst fortzuzeugen, da sie nur jene akzeptieren, die ihren Maßstäben gerecht werden, also nur Kandidaten, die ihnen gleichen und die keine Neigung erkennen lassen, «Schwierigkeiten zu machen» — etwa indem sie unangenehmen Änderungen das Wort redeten, die den Status der in Amt und Würden Befindlichen durch Überholung ihres Wissens und ihrer Methoden in Frage stellen könnten.
Die herrschende Elite hat einen tiefsitzenden Horror vor Neuerern und kennt kein vernichtenderes Urteil, als über jemanden zu sagen, er sei «ein bißchen zu gescheit». Diese ausgesuchte Intellektuellenfeindlichkeit nagt an der Zuversicht der Neuerer, die sich dann oft damit begnügen, innerhalb des Systems eine Pfründe zu ergattern. Daher fehlt es überall an schöpferischer Kraft.
Die Franzosen haben einen treffenden Ausdruck für jene Art von Akademikern, die ihre eigene Stellung dadurch zu behaupten suchen, daß sie die Leistungen jüngerer Rivalen unter den Tisch fallen lassen, weil sie selbst dadurch als überholt gelten könnten. Bei ihnen heißt ein solcher Typ «cuistre» (wörtlich: Pedant). Der «cuistre» widersetzt sich dem Aufstieg origineller Denker zu Lehrstühlen oder in die Academie Francaise, bis diese ihre Originalität verloren haben und ebenfalls steril geworden sind. Der große Pasteur ist ein klassisches Beispiel eines Neuerers, der stets von den «cuistres» abgelehnt wurde. Allerdings fürchte ich, daß die «cuistres» nicht nur die akademische Welt bevölkern.
Man mag also daraus den Schluß ziehen, daß unsere Gesellschaft an Vergreisung leidet, an einer Verhärtung ihrer Blutgefäße, die durch nichts wirklich rückgängig gemacht werden kann. Selbst wenn wir die Geschichte unter deterministischer Perspektive sehen, als zielgerichtet verlaufende Entwicklung, müßte dies nicht ausschließen, daß Kulturen altern. In solch einem Zustand können sie vielleicht noch lange Zeit dahinleben — vorausgesetzt, daß kein Druck von außen erfolgt. Im China der Han-Zeit war dies so. Aber unsere westliche Kultur ist durch keine vergleichbare Isolation geschützt.
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5 Die vermeidbare Zukunft
Woher stammen wir alle? Die Menschen fühlen sich einer Gemeinschaft zugehörig, wenn sie in ihren Vorlieben, ihren Überzeugungen und Erfahrungen übereinstimmen und gemeinsame Freunde haben, wenn sie sich gemeinsamen Symbolen und Ritualen gefühlsmäßig verbunden fühlen, wenn bei allen eine enge Beziehung zu den gleichen Landschaften oder Tätigkeiten besteht. In den Vereinigten Staaten, wo eine Bevölkerung mit hohem Einwandereranteil solcher gemeinsamen Bande weithin enträt, fragt man einen Fremden zunächst meist nach der Herkunft. Vermag der Gesprächspartner dann zu sagen, er kenne diesen Ort — oder besser noch: er kenne Leute von dort —, so ist eine gemeinsame Basis hergestellt. Bei Herkunft aus kleineren und älteren Gemeinden, etwa im schottischen Hochland, lassen sich zumeist sogar gemeinsame Vorfahren oder regelrechte Vetternschaften ausfindig machen.
In einem weiteren Sinne ist also ein ganzes Land durch gemeinsame Kultur, gemeinsame Eßgewohnheiten, durch Haar- und Barttracht, durch Kleidung, rituelle Feste (Weihnachten, Ramadan, Yom Kippur) und häufig auch durch gleiche Religion verbunden. Auch die Kultur im Sinne des Intellektuellen kann als einigendes Moment wirken. Ich kann einen total Fremden treffen, der sich von mir in den meisten, wenn nicht gar in allen der oben aufgeführten Gemeinsamkeitskriterien unterscheidet. Vorausgesetzt aber, daß überhaupt Verständigung möglich ist, kann ich doch eine Beziehung zu ihm gewinnen, wenn sich herausstellt, daß er viele der Bücher gelesen hat, die auch ich kenne, daß er die gleiche Art von Musik liebt, dieselben Kunstwerke gesehen hat und daß er — wichtigste Bedingung — mit mir die Kenntnis der gleichen Grundideen in Philosophie und Naturwissenschaften teilt.
Bis zu unserer Zeit gab es eine gemeinsame Kultur aller gebildeten Europäer und Amerikaner, der aber auch viele Gebildete in anderen Ländern zugehörten. Aufgrund moderner Erziehungsvorstellungen, die den Akzent auf die Zukunft setzen, und wegen des verbreiteten Glaubens, daß uns die Vergangenheit nichts Wesentliches zu lehren habe, verschwinden solche Gemeinsamkeiten immer mehr. Zunächst war es zum Auseinanderfallen von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften gekommen (die «zwei Kulturen», die Charles Percy Snow beschrieb); heute aber gibt es viele, die sich zu den Gebildeten zählen, doch aufgrund früher und übertriebener Spezialisierung weder in der einen noch in der anderen Kultur eigentlich zu Hause sind.
Schlimmer noch: Viele Leute haben heutzutage gar nicht mehr den Wunsch, «gebildet» zu sein. Bereits das Wort «gebildet» enthält ja einen leisen Unterton des Negativen: Es bezeichnet oft mehr einen etwas antiquierten Anspruch auf Bildung kraft Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht denn tatsächlich Kenntnisse und Erfahrungsmöglichkeiten in kulturellen Dingen.
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Zweifellos wird es immer schwieriger, einen breiten Zugang zur Kultur zu finden, da die Gedankengänge der Naturwissenschaften stets komplizierter werden und der Bestand an künstlerischen und philosophischen Leistungen mit" jedem Jahr zunimmt. Außerdem wäre ein rein auf Europa gerichtetes Kulturbewußtsein heute zu eng; man sollte schon auch von der übrigen Welt etwas wissen. Aber es ist nicht die Schwierigkeit des Sich-Bildens, die hier das größte Hindernis darstellt. Vielmehr liegt es an der fortwährenden Preisgabe von Bildungszielen und Bildungsmotivationen.
Die Frage stellt sich: Was ist wert, gewußt zu werden? Wenn man liest, daß Anwärter für die Beamtenlaufbahn in England (16 Jahre alt) keine Ahnung hatten, was ein Monopol ist («wo Menschen zusammenleben», meinte einer), auch nicht angeben konnten, was man unter einer Börse versteht (»ein Ort, wo die Buchmacher Wetten annehmen»), und daß einige Jugendliche die Schule mit Sechzehn verließen, ohne von Jesus Christus gehört zu haben, ahnt man die Dimensionen des Bildungsproblems.
Wenn wir eine Gesellschaft mit mehr Zusammenhalt wünschen, sollten wir es uns ernsthafter angelegen sein lassen, diese Mängel zu beheben. Denn es gibt keinen gesellschaftlichen Zusammenhalt ohne eine gemeinsame Kultur.
Betrachtet man die menschliche Gesellschaft in einer weiter in die Zukunft greifenden Perspektive, so macht am meisten betroffen, daß überhaupt keine gemeinsame Zielsetzung, keine wirklich die Erde umspannende Idee vorhanden ist. Die Welt des Mittelalters fand sich einig in den Zielsetzungen von Frömmigkeit, Gehorsam und Ordnung. Die Renaissance suchte Harmonie mit dem Menschen als Maß. Was aber suchen wir heute? Wir wissen zu wenig über Weltsichten und wie sie entstanden sind, und die Diskussion dieser Frage wird von den meisten Leuten als abwegiges und akademisches Philosophieren betrachtet.
Vielleicht sollten wir sie ernster nehmen. Die Geschichte hat genug Beispiele dafür, daß zu Zeiten geistiger Desorientierung beim Auftauchen eines neuen, Gemeinsamkeit stiftenden Prinzips sich die Menschen mit explosiver Verve diesem Neuen zuwandten. Das Material für solch eine Explosion haben wir gegenwärtig vorbereitet.
Kommt es aber nicht zu solch einer aufrüttelnden Wendung, so möchte ich kaum annehmen, daß die westliche Kultur einen Mittelweg zwischen Freiheit und Chaos zu finden vermag oder daß sie die gesellschaftliche Vernunft entwickelt, welche den Zusammenhalt wieder herbeiführen könnte, der sie für die folgenden Jahrhunderte wenn nicht mächtig, so doch wenigstens ausstrahlungskräftig macht. Auf kürzere Sicht betrachtet — etwa in der Lebensspanne jener, die heute noch jung sind —, scheint es drei mögliche Entwicklungen zu geben: Diktatur der Rechten, Diktatur der Linken oder Kryptodiktatur in einer Welt, die wie die unsrige ist — nur noch viel ausgeprägter.
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Der Philosoph Stephen Toulmin hat den Gedanken geäußert, daß der Westen in eine Phase des Alexandrinertums der Wissenschaften eingetreten sei, in der (wie in Alexandria vor zwei Jahrtausenden) technisches Wissen vor den Grundeinsichten in die Zusammenhänge rangiere. Wie dem auch sei — in der Kunst befinden wir uns im Übergang vom «Silbernen Zeitalter» zum «Bronzenen Zeitalter». Und wenn auch manche Alltagsdinge besser vonstatten gehen, so ist doch die Kluft zwischen dem, was uns an Wissen zur Verfügung steht, und dem, was wir daraus machen, immer nur breiter geworden.
Ungeachtet dieser beängstigenden Perspektiven gibt es immer noch die ewigen Vogelstraußmeier, die sich selbst einreden, daß die gegenwärtigen Erschütterungen nichts weiter als ein gewaltiger Schluckauf seien, nach dessen Vorübergehen alles viel besser geordnet wieder an seinen Platz käme. Wenn ich die Argumentation dieser Leute recht verstehe — sofern man überhaupt von Argumentation sprechen kann, da die ganze Einstellung häufig auf irrationalem Optimismus beruht —, so ist bereits die Tatsache, daß alte Vorstellungen sich auf die Probe stellen lassen müssen, daß die jüngeren Ideen eine bessere Welt im Blick haben und diese zudem als machbar und möglich erachten, etwas so unerhört Neues, daß allein dieser Umstand zu Optimismus Anlaß gibt. Und beinahe wäre dem auch so. Doch der Weg zur Hölle, sagt ein Sprichwort, ist mit guten Vorsätzen gepflastert.
Was mich bedrückt, ist das Fehlen jeglicher Detailplanung, jeglicher konkreter Problemlösung, ist dieser idealistische Glaube, daß Menschen guten Willens irgendwie auch ohne Schulung und Planung eine brauchbare Lösung ausarbeiten könnten, ist diese schwere Unterlassung, Hindernisse auch realistisch einzuschätzen und Pläne zu ihrer Bewältigung auszuarbeiten. Der Idealist hält jeden, sofern er nicht durch schlechte Lebenserfahrung oder Habgier korrumpiert ist, für ebenso wohlwollend, wie er selbst ist.
Wenn aber kaputte Familien weiterhin geschädigte Menschen hervorbringen, dann wird die Welt gar nicht zu ändern sein. Vor einiger Zeit noch glaubten die Kolonialvölker, daß man nur die imperialistischen Mächte aus dem Land jagen müsse, um einen neuen Morgen der Welt heraufzuführen — aber sie fanden bald, daß Korruption und Unterdrückung oft ziemlich unverändert blieben, ja manchmal noch schlimmer wurden. Ähnlich glaubt auch die optimistische Linke, daß man nur die gegenwärtigen Machthaber vertreiben müsse, damit sich alles von selbst zum besten wende.
Eines ist unumgänglich: ein Wechsel des Stils. Erfindungsreichtum, Enthusiasmus und guter Wille reichen nicht aus. Bei falscher Anwendung führen sie uns nur weiter auf dem falschen Weg. Wir müssen von einem Gesellschaftsbild, das Zersplitterung voraussetzt, wieder zu einem Gesellschaftsbild gelangen, das organisch sich zusammenfügt. Wenn nicht, dann sind wir auf dem Weg ins Chaos.
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Nach bestem Vermögen habe ich versucht, Zukünftiges vorherzusehen und Verfahrensweisen vorzuschlagen, die den Auswirkungen möglicher Zukunftsgefahren begegnen oder sie doch wenigstens abmildern könnten. Aber wenn wir auch noch vieles tun könnten, so hat es doch den Anschein, als wenn die Menschheit, so, wie sie ist, real gar nicht mehr viel tun kann. Und mein Pessimismus bezieht sich auch nicht auf die Bedrohung durch die Umstände, sondern auf unsere eigene Schwäche. Indes würde eine völlig pessimistische Einschätzung der Situation die Mühe nicht wert erscheinen lassen, die mit der Abfassung eines Buches über ebendiese Situation verbunden ist.
Am Schluß meiner Ausführungen frage ich mich selbst, ob ich nicht vielleicht doch die Probleme allzu kraß gezeichnet habe und ob ich nicht möglicherweise die Befähigung und Entschlossenheit der Menschen zur Erzielung einer Lösung unterschätze. Wenn man so viel entmutigendes Material sammelt, mag man wohl auch selber entmutigt werden.
Doch auch bei großzügigster Veranschlagung dessen, was durch Glück, hohe Befähigung und den sechsten Sinn fürs jeweils Richtige noch zu erreichen sein könnte, bleibe ich doch vor die Tatsache gestellt, daß wir nicht mehr in einer traditionellen Gesellschaft, sondern vielmehr in einer rationalen leben, in der nichts mehr als unverbrüchlich gelten kann. Armut und Ungerechtigkeit sind leichter zu ertragen, wenn sie naturgegeben und unveränderbar scheinen.
Das ist aber nicht mehr der Fall. Hier haben wir die zentrale Tatsache. Aus diesem Grund versuchen wir in die Hand zu nehmen, was früher dem Zufall überlassen blieb. Und weil die Haltung des Alles-in-die-Hand-nehmen-Wollens unvermeidlich zur Inkompetenz führt und ganz sicherlich nicht nach jedermanns Gefallen ist, werden wir dazu verdammt sein, in einer Welt des Protests, der Erbitterung, der kostspieligen Fehlplanungen zu leben. Die Anthropologen sprechen vom Übergang aus der Tradition in die Rationalität, aber der Mensch ist natürlich nur sehr unvollkommen rational: Emotion, Vorurteil und Aberglauben bestimmen sein Verhalten ungleich stärker.
Nicht mehr haltbar ist auch die Annahme, daß der Fortschritt unvermeidbar sei. Wer diesem Glauben noch anhängt, lehnt die Warnungen der Pessimisten ab, da er sich in seinem Sicherheitsbedürfnis in Frage gestellt sieht; aus diesem Grund wird pessimistischen Voraussagungen mit so hitziger Argumentation widersprochen. Es steht aber nicht nur der materielle Fortschritt in Zweifel; ebenso glaubt man beunruhigt zu spüren, daß der moralische Idealismus seine Kraft eingebüßt hat und daß an seiner Stelle schiere Macht und bloßer Sachverstand triumphieren.
Auf der Seite der möglichen Positiva aber wäre zu nennen, daß wir mehr Wissen von den Dingen besitzen als etwa das dem Untergang geweihte Rom, daß auch unsere Zielsetzungen ethisch höher greifen. Wir verfügen über ungleich größere Mengen an Energie, sowohl im materiellen als auch im psychischen Sinne. Aber werden wir den Mut und die Beweglichkeit gegenüber der Zukunft haben und auch die Selbstlosigkeit, die nötig ist zu einem guten Ende?
Sollte es uns möglich sein, zur ersten Kultur in der Geschichte zu werden, die sich über alle Zeiten hin auf hohem Stand hält? Dieses Ziel wäre unserem hochfliegenden Ehrgeiz wohl angemessen — wenn wir nur imstande wären, es auch zu erreichen.
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Ende
Gordon Rattray Taylor Zukunftsbewältigung How to Avoid the Future Wie diese Zukunft zu vermeiden ist 1975