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1. Höllenangst

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Die meisten Menschen antworten, wenn sie gefragt werden, was wahr sei, Dinge wie "die Erde ist rund" oder "es gibt Gott" oder "Gott gibt es nicht". Nur in diese Richtung geht ihr Denken beim Thema Wahrheit: nach außen. Wir reden in diesem Buch nicht von Wahrheiten wie 2 x 2 = 4 oder anderen "objektiven Wahrheiten". Wir reden hier auch nicht von sog. historischen Wahrheiten, die sich bei politischen Umbrüchen wandeln und für Erschütterungen sorgen. 

Wir reden von ganz anderen Dingen... Wir reden hier beispielsweise davon, daß Sie einem Menschen gegenübersitzen, der Ihnen — zumindest in diesem Moment — eigentlich völlig egal ist, mit dem Sie aber small talk führen oder von dem Sie sich ein Ohr nach dem anderen abkauen lassen. Wir reden hier davon, daß Sie nur so tun, als interessiere es Sie, was der andere sagt; daß Sie eine Maske des Verständnisses aufsetzen, in Wahrheit aber mit Ihren Gedanken ganz woanders sind. Wir reden hier davon, daß es Sie eigentlich ankotzt, mit diesem Jemand herumzusitzen und sich zutexten zu lassen, Sie aber gute Miene zum bösen Spiel machen.

Fühlen Sie langsam die Peinlichkeit? Sie wären eigentlich gern allein, zumindest diese Nervensäge los, aber irgendwie trauen Sie sich nicht, gemäß Ihren wahren Gefühlen zu handeln. Wird es Ihnen mulmig?

Vielleicht sind ja auch Sie die Nervensäge und merken gar nicht, daß Sie Ihrem "Gesprächspartner" auf den Sack gehen? Stellen Sie sich vor, dieser sagt plötzlich: "Weißt du überhaupt, was du da für ein langweiliges Zeug laberst?" Jetzt werden Sie rot. Und aus Peinlichkeit wird Pein. Es wird langsam sehr unangenehm, und Schmerz ist schon zu ahnen. Die Scham haut ordentlich rein, ihr Ego gerät aus der Fassung, und Ihrem Gesicht entgleiten die Züge.

Aber da wir gottseidank in einer verlogenen Gesellschaft leben, bleibt Ihnen diese Peinlichkeit erspart.

Begriffe wie "zutexten", "Ohren abkauen" usw. klingen nicht schön. Doch liegt das nicht daran, daß wir Angst vor der direkten Sprache der Jugend haben?

Sie sagen keiner Nervensäge: "Sei nicht sauer, aber ich habe keine Lust, dir zuzuhören" oder auch nur: "Entschuldige bitte, aber ich muß noch was einkaufen." Sie fühlen sich nicht wohl mit dem Langweiler. Warum aber sind Sie nicht ehrlich, wahrhaftig, echt? Weil der Langweiler Ihnen etwas bedeutet. Sie wollen ihn nicht vor den Kopf stoßen, weil Sie ihn irgendwie brauchen. Nicht gerade im Moment — da widert er Sie regelrecht an —, aber es kommt bestimmt der Moment, wo Sie etwas von ihm brauchen, oder wo er Sie verletzen könnte. Und davor haben Sie Angst.

Wenn Sie sich fragen, wovor Sie eigentlich Angst haben, kommen Sie vielleicht zum Ergebnis, daß Sie Angst vor der Einsamkeit haben; Angst davor, daß Ihnen jemand einmal keine Aufmerksamkeit schenken könnte, wenn Sie sie brauchen; Angst davor, daß Ihnen einmal jemand nicht zuhört, wenn Sie ihn volltexten.

Vielleicht brauchen Sie diesen anderen auch auf eine ganz andere Art und Weise. Vielleicht brauchen Sie sein Geld, seine Beziehungen? Vielleicht sind Sie von ihm auf eine andere Art abhängig und lassen sich korrumpieren?

Dämmert es Ihnen, worum es geht, wenn ich sage, die Wahrheit sei die Hölle? Versetzen Sie sich bitte erst einmal in die Lage zurück, wo Ihnen das letzte Mal etwas Ähnliches passiert ist. Gestehen Sie sich die Wahrheit ein und fühlen Sie es. Dann sehen wir weiter.

Neulich sah ich folgendes: 

Jemand war zu einem "Freund" gekommen, weil dieser ihm beim Hausbau helfen sollte. Er wollte sich den Handwerker sparen. Er brachte eine Flasche Schnaps mit, um ihm die Gefälligkeit abzukaufen. Dieser Freund trank sogleich vom Schnaps, ließ den Hilfsbedürftigen aber zappeln. Die ganze Zeit über hat sich der Hilfsbedürftige einen abgekrampft und einen auf lustig gemacht. Irgendwann nahm er seinen ganzen Mut zusammen und rückte endlich mit der Sprache heraus: 

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"Du, ich brauch' da mal..." Inzwischen waren aber beide betrunken. Unser Hilfsbedürftiger ist dann betrunken mit dem Auto nach hause gefahren und hat sich unterwegs erwischen lassen.

Sie wissen nicht, was brutal an "irgendeiner Wahrheit" wäre? Sie wissen nicht, wo "der Schmerz" sein soll, der dabei entsteht und aufgedeckt wird, wenn man beginnt, gemäß seiner Wahrheit zu leben? Beobachten Sie nur einen Tag, was Sie sagen und ob es die Wahrheit ist — ob es das ist, was Sie denken. Beobachten Sie einen Tag lang, ob Sie sich so verhalten, wie Ihnen innerlich zumute ist.

So, und dann stellen Sie sich vor, Sie würden ihr Leben ändern wollen, Sie würden ab morgen ein wahrhaftigeres Leben führen wollen. Was genau würde geschehen? Denken Sie an Ihre Frau, Ihre Kinder, Ihre Freunde, Ihre Eltern... Und dann sprechen wir uns wieder.

Aber vielleicht zählen Sie zu jenen, die sagen: "Das muß ja alles so sein! Wie soll es denn sonst sein?! Die Menschheit stirbt doch sonst aus."

 

Die meisten von uns halten die Verlogenheit für die Normalität, sie merken gar nicht mehr, was eigentlich wahr ist. 

Ehe- und Familienleben müssen z.B. einfach sein. Und jetzt kämpfen sie um die Erfüllung irgendeiner Vorgabe, ohne weder auf ihre Gefühle zu achten noch überhaupt auf den Gedanken zu kommen, daß es eine Vorgabe ist: Entweder kämpfen sie nun um die Aufrechterhaltung einer Ehe. Oder sie träumen davon, es irgendwann doch noch einmal zu schaffen, eine richtig funktionierende Ehe aufzubauen. Sie kämpfen gegen die Wahrheit an. Daß sich etwas aus Gefühlen entwickeln kann und alles andere Streß ist und aus der Welt geschafft gehört — auf diesen Gedanken kommen nur die wenigsten von uns. Meist gehen Beziehungen, mit denen Träume und Vorgaben erfüllt werden sollen, kaputt: Sie scheitern an den wahren Gefühlen, die innerlich für Druck sorgen. Oder aber diese Beziehungen sind unsere Gräber.

Von wegen die Wahrheit sei nicht brutal und ein neues Leben in Wahrheit begönne nicht mit Zähneklappern!

Sie kämpfen mit der Müdigkeit, während Sie einen Redeschwall über sich ergehen lassen, aber Sie sind "in Ordnung", ein "guter Kumpel". Eigentlich ahnen Sie nur, daß Sie auch von Zeit zu Zeit jemanden brauchen, der Ihnen zuhört. Oder jedenfalls so tut. So wie Sie. Es ist vielleicht nicht dieser Langweiler hier, dessen Ohr Sie brauchen werden, aber Sie haben Mitleid mit ihm, weil Sie wissen, wie es ist, vor den Kopf gestoßen zu werden und das Gesicht zu verlieren.

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Sie wissen, daß die Wahrheit sehr peinlich und schmerzlich sein kann. Deshalb schweigen Sie und warten auf einen günstigen Moment, sich unauffällig davonmachen zu können.

Alles beim Alten lassen. Die Illusion aufrecht halten.

Denn wir leben in Illusionen, mit denen wir uns schützen: vor der Einsamkeit, der Verlassenheit, dem abgrundtiefen bodenlosen Fall, dem Nichts. Die Illusionen sind jene Opiate, die uns so fühlen lassen, als hätten wir, was wir brauchen. Wir sind virtuell.

Sie ahnen nicht, welche Gefühle und welche Einsichten folgen werden, wenn Sie erst einmal diesen kleinen Schritt — den Langweiler höflich zu bitten, Sie nicht länger zu belästigen — in der Realität in Richtung mehr Wahrhaftigkeit gegangen sein werden. Wenn Sie den Mut haben, weiter diesen Weg zu gehen, tritt am Ende Ihr ganzes Leben vor Sie, in dem Sie nie wieder das erleben wollen, was Sie einmal erlebt haben: Einsamkeit.

Die Regel aber ist, daß wir in einer Illusion von Kommunikation, einer Illusion von Zweisamkeit und Zusammensein verbleiben. Und diese Illusion müssen wir — bei Strafe furchtbaren Schmerzes — aufrechterhalten. Sie ertragen alles nur noch unter Ausblendung Ihres ganzen Bewußtseins, Ihres Sinnes für Wahrheit. Sie sagen, so ist das Leben nun mal. Sie klammern sich an Konventionen. Man muß auch mal dem anderen zuhören können...

Sie können dem Langweiler nicht den Laufpaß geben; Sie blenden sowohl die Langeweile als auch Ihre Feigheit aus.

Es ist aber möglich, wieder normal, ungezwungen und natürlich zu werden und nach seinen Gefühlen und seiner Wahrheit zu leben. Man muß es nur wagen und tun. 

Aber erst einmal werden Sie es mit der Angst davor zu tun kriegen. Erst einmal wird Sie der Weg zur Natürlichkeit, zu Ihnen selbst, zu einem entspannten und wahrhaftigen Leben in die Vorhölle Ihrer Angst und Panik führen, bevor Sie es wagen werden, die wirkliche Hölle der Trauer, des Schmerzes und der Liebe zu betreten.

"Bewußtsein", das sind, so denken die meisten, Sie nicht selbst, sondern das ist ein Ding, ein Etwas, das man "erweitern" kann, indem man Bücher liest. In perfekter Verdrängung greifen Sie zu "bewußtseinserweiternden" Drogen und merken gar nicht, daß Sie gerade dabei sind, Ihr Bewußtsein zuzuschütten. Sie sagen, im Alkohol liegt die Wahrheit, aber ich sage Ihnen, wo sie wirklich steckt: in Ihrem Winseln und Zittern, wenn Sie nüchtern und hellwach sind und dann die Wahrheit sagen. Wenn Sie — anstatt sich in Illusionen sicher vor Gefühlen zu wähnen — die Wahrheit und Ihre Einsamkeit wirklich und ganz annehmen.

Von diesem Boden aus werden Sie echte Kommunikation kennenlernen. Aus Ihren verweinten Augen heraus, wenn Sie aus dem Schluchzen und Beben heraus zur Ruhe gekommen sein werden und Sie wieder die Welt ansehen können und Ihnen die Welt wie neu erscheinen wird, werden Sie sich wirklich auf andere Menschen einlassen und mit ihnen kommunizieren können. Dann werden Sie wieder in ihre Augen schauen können mit Kontakt und Gefühl — oder sie einfach sitzen lassen, wenn sie Sie langweilen.

Haben Sie den Mut, den Weg der Wahrheit zu gehen, werden Sie merken, daß Ihr ganzes Verhalten heute nichts als der Schutz vor dem Urschmerz und der Hölle ist. Warum haben Sie so eine Angst davor? — Weil Sie sie schon kennengelernt haben. Nie, nie wieder wollten Sie dieser Hölle noch einmal begegnen. Sie haben einen Grund, heute verlogen zu sein. Daß Sie sich langweilen lassen, kommt nicht von ungefähr, das ist nicht der normale und natürliche Gang der Dinge, und das wissen Sie eigentlich. So verhält sich niemand ohne inneren Zwang und ohne eine gewisse Erfahrung.

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2. Wohlfühlen und Erfahrung  

 

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Jeder weiß oder ahnt zumindest, daß es einen Zusammenhang zwischen dem aktuellen Zustand eines Erwachsenen und seinen in der Kindheit gemachten Erfahrungen gibt. Oft fällt die spontane Äußerung, wenn man einen Menschen in großen Schwierigkeiten stecken sieht: "Der hat eine schlimme Kindheit gehabt." 

Aber daß wir alle die Hölle erlebt haben, auch wenn wir einigermaßen funktionieren, das weiß so gut wie keiner. Gerade daran, daß wir nur funktionieren und im Umgang mit anderen und uns selbst unwahrhaftig sind, können Sie ablesen, daß wir kaputt gegangen sind — in der Hölle.

Was ist eigentlich wirklich schlimm an einer "schlimmen Kindheit"? Wie hängt eine solche mit dem Streß, den wir haben, wenn wir uns von einem Langweiler belästigen lassen, zusammen?

Dieses Buch ist kein psychologisches. 

Obwohl es in ihm auch um Kindheit geht, lautet eine seiner Nebenaussagen, daß die Beschäftigung mit Kindheit — inspiriert durch Psychologen — eine Flucht vor der schmerzlichen Wahrheit darstellt. Eine der Hauptaussagen lautet: Es gibt nur Gegenwart.

Dennoch wäre es unsinnig, jenen Zusammenhang zwischen Erfahrungen und heutigem Zustand nicht zu sehen. 

Wir dürfen diesen Zusammenhang jedoch nicht vor uns hertragen als intellektuelles Gelaber. Wir werden ihn unmittelbar an uns feststellen, wenn wir uns heute konsequent und total unsere wahren Gefühle haben lassen.

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Äußerlich und materiell sieht alles recht gut aus, uns fehlt es eigentlich an nichts. Warum fühlen wir uns dennoch so schlecht? Natürlich sind materielle Dinge wichtig für unser Wohlbefinden, aber es gibt viele Menschen in ziemlich widrigen klimatischen und wirtschaftlichen Umständen, die sich nicht unwohl fühlen. Es muß also etwas mit unserem Inneren und unserer bisherigen, möglicherweise frühkindlichen Geschichte, mit Veränderungen in unseren Inneren zu tun haben.


Ich bin der Meinung, daß jene wirtschaftlich schlechter gestellten Menschen einfach wahrer sein und bleiben konnten als wir und nie das verloren haben, worum es eigentlich beim Wohlfühlen geht: die Liebe, der Spaß und die Freude.

 

Eine Umfrage der <London School of Economics> zur Ermittlung der Gegend, in der die Menschen am glücklichsten sind, kam zu einem nur auf den ersten Blick überraschenden Ergebnis. Es stellte sich nämlich heraus, daß in dem Land, das geradezu sprichwörtlich für Armut steht, die Menschen die glücklichsten der Welt sind — Bangladesch —, während einer der reichsten Industriestaaten — ich glaube, es war Finnland — die höchste Selbsttötungsrate aufwies.

Es ist offensichtlich, daß Wirtschaft und Zufriedenheit zusammenhängen und daß ein Mensch — wenn er innerlich glücksfähig ist — um so zufriedener wird, je besser die materiellen Voraussetzungen sind. Aber es ist auch wahr, daß ein Mensch, gleich, in welchen materiellen Umständen er heranwächst, nicht vom Glücklichsein abgehalten werden darf. Uns allen ist klar, daß ein mit viel Liebe umsorgtes Kind, das es selbst sein darf, glücklicher ist und bleibt als ein ungeliebtes Kind, auch wenn die materiellen Verhältnisse bei diesem viel günstiger sind.

Ich versuche in diesem Buch — und das ist zugegebenermaßen paradox — eine Erklärung zu geben, woran das weitverbreitete Unwohlsein angesichts des materiellen Überflusses, in dem wir trotz aller Krise leben, liegt. 

Es ist paradox, weil ich nicht daran glaube, daß Erklärungen von außen irgendeinen Sinn haben, d.h. zu wirklichen Einsichten führen. Wirkliche Einsichten können nur innen entstehen.

Aber ist es nicht bereits gut und wichtig, die genannten Fragen überhaupt nur einmal klar und deutlich zu stellen? Vielleicht kann meine Erklärung zu einer Art Anregung, zu einer Art Ermutigung für den Leser werden, selbst in seine Tiefe hinabzusteigen, wo alle Antworten bereit liegen.

In diesem Buch werden Sie es aber auf keinen Fall mit den Wattebällchen der Psychotherapeuten zu tun bekommen, die mal eben mit Ihnen "über Ihre Kindheit sprechen" wollen, die Sie von einer "Krankheit" "heilen" und Sie "gesund" machen wollen. Wenn Sie sich lieber mit "Krankheiten" beschäftigen wollen; wenn Sie in Theorien flüchten möchten, in Ihre Gedanken über "Kindheit"; wenn Sie sich Ihr Unwohlsein "erklären" lassen wollen und sich weiter unwohl/w/j/e« wollen, dann ist dieses Buch für Sie das verkehrte.

Hier geht es um die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, die Wahrheit der Gegenwart. 

Hier gibt es keine "Heilung", sondern nur uns, so wie wir sind.

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3. Die Bedürfnisse  

 

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Wir nehmen jetzt einen kleinen Umweg und kommen später auf unseren eigentlichen Gegenstand wieder zurück. Dem Thema Wohlbefinden und Unwohlsein nähern wir uns am besten über die Bedürfnisse, die mit diesen Themen untrennbar verbunden sind. Fast immer habe ich irgendein Bedürfnis. Es gibt viele verschiedene Bedürfnisse: Ich brauche zu essen, zu trinken, Luft zum Atmen, eine gewisse Temperatur, Trockenheit, manchmal Nässe, um mich zu waschen, und ich brauche Schlaf; ich brauche Reize und Unterhaltung; ich habe das Bedürfnis, meinen sexuellen Trieb zu befriedigen usw. Alles in der Welt hängt mit unseren Bedürfnissen zusammen, und wir nehmen nur das von der Welt wahr, und nur das gehört zu unserer Welt, nur das ist die Welt, was wir brauchen. Alles andere kommt nicht in unser Gesichtsfeld.

Alles, womit wir zu tun haben, hat mit einem Bedürfnis zu tun; alles, was wir tun, tun wir, um ein Bedürfnis zu befriedigen. Selbst wenn wir in Askese, d.h. enthaltsam leben, entspricht das einem Bedürfnis. Alles, was wir tun, tun wir zu unserer Zufriedenheit.

Früher sprach man eher von Trieben als den tiefsten, nicht weiter zurückführbaren Dingen des Lebens. Bedürfnis und Trieb sind ein und dasselbe. Das eine betont mehr das Geschehen nach innen, also das Einverleiben, das Empfangen. Und das andere bezieht sich mehr auf das Geschehen von innen nach außen. Einmal bedarf ich einer Sache, brauche ich sie (von außen), muß ich etwas nehmen; das andere Mal bin ich innerlich getrieben, etwas nach außen zu tragen, los zu werden, zu geben. Eher Trieb ist z.B. männliche Sexualität; weibliche Sexualität ist eher Bedürfnis. Aber es ist das gleiche. Bedürfnisse werden — obwohl häufiger von Bedürfnisbefriedigung die Rede ist — so betrachtet eher erfüllt, Triebe durch Verausgabung und Verschwendung befriedigt. Der Mann ist sexuell eher befriedigt, die Frau vielleicht eher erfüllt, obwohl sie sicherlich in der Erfüllung auch ihren Frieden findet. Essen erfüllt uns im wahrsten Sinne des Wortes. Gefüllt, sind wir in der Regel zufrieden, jedenfalls zufriedener als leer. Unsere Erfüllung finden wir, wenn unser Leben eine besonders gute Wendung nimmt und ziemlich alle Bedürfnisse befriedigt werden.


Manchmal muß ich nach außen gehen, um mir etwas nach innen zu holen. Manchmal befriedige ich ein Bedürfnis nicht direkt, sondern tue etwas, um mich später damit zu befriedigen.

Bedürfnis heißt, wenn ein gewisses Gefälle vorhanden ist zwischen mir und meiner Umwelt: In mir ist etwas leer, und etwas anderes soll in diese Leere hineinstoßen, wird von dieser Leere hineingesogen. Die Spannung besteht auch zwischen meinem Zustand und dem Zustand, den ich mir erwünsche.

Man könnte ganze Bücher nur über die verschiedenen Bedürfnisse, die Schattierungen und die verschiedenen Charaktere dieser Bedürfnisse und deren Befriedigungen schreiben, doch wesentlich und wichtig ist für uns dies:

Ein Bedürfnis macht sich bemerkbar, und wir wollen dieses Bemerkte, dieses gefühlte Etwas, merklich los werden. Wir wollen dieses Bedürfnis nicht mehr bemerken. Deswegen trinken wir z.B. das Glas Wasser, nach dem wir bedurften. Danach sind wir in unserer Bedürftigkeit gestillt. Dann herrscht für kurze Zeit Stille und Frieden. Aber schon bald verlangt es uns nach etwas anderem oder wieder nach dem gleichen. Immer wieder ist die Befriedigung unser Ziel. Wenn unsere Bedürfnisse befriedigt sind, sind wir zufrieden.

Das Befriedigen der Bedürfnisse, der Moment, wenn wir zufrieden gestellt werden, ist eine angenehme, eine lustvolle Sache. Deswegen haben wir auch, wenn wir die Befriedigung in Aussicht haben, nichts dagegen, daß sich die Bedürfnisse immer wieder einstellen. Langeweile kommt nur dort auf, wo es nicht um echte und tiefe Bedürfnisse geht. Echte und tiefe Bedürfnisse melden sich mit der Urgewalt der Natur; sie nehmen uns mit auf abenteuerliche Wege, die wir gehen müssen und auf denen es keine Langeweile gibt.

Ich bedarf gewisser Voraussetzungen, um mich zufrieden zu stellen. Diese Voraussetzungen kann man ebenfalls als Bedürfnisse definieren: körperliche und geistige Unversehrtheit, handwerkliche Fähigkeiten, Intelligenz, Verteidigungsbereitschaft, Durchsetzungsvermögen usw. Ich bedarf bestimmter Fähigkeiten, um mir Dinge zu beschaffen, derer ich bedarf.

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Unversehrtheit und im vollen Besitze seiner körperlichen und geistigen Kräfte zu sein, ist Grundvoraussetzung. Und wenn wir uns verletzen, so ist es unser Bedürfnis, in Ruhe die Verletzung zu verschmerzen: Ein Fußballer muß sich nach einem Foul in Schmerzen winden und schreien: Er kann nicht sofort weiterspielen. Er braucht seine Verschmerzenszeit. Er muß protestieren und klarmachen, daß die Blutgrätsche nicht zu sein hat.

Werden die Schmerzen nur weggeeist, können noch tiefere Verletzungen folgen.

Man kann alles in der Welt mit Bedürfnissen verschiedenen Ranges in Zusammenhang bringen, die abwechselnd in den Vordergrund unserer Wahrnehmung treten.

Bedürfen und Brauchen ist ein und dasselbe. Auch Bedürfnis und Interesse.

Um befriedigt zu sein, um meinen Bedarf zu stillen, muß ich wissen, was ich brauche und wie ich es bekomme. Ich muß wissen, wie ein Haus gebaut wird, wie eine Kuh gemolken, wann auf dem Feld die Saat ausgebracht werden muß, wie man sich gegen Angreifer verteidigt, wie ich Geld verdienen kann usw.

Dieses Wissen ist die Wahrheit. Der Prüfstein ist der Erfolg.

Das bis jetzt genannte Wissen ist zumindest ein sehr großer Teil der Wahrheit. Wir kommen gleich zu weiteren Bedürfnissen und dem entsprechenden Wissen, der entsprechenden Wahrheit.

Diese Wahrheit — wie decke ich ein Dach, wie verdiene ich Geld usw. —, muß erlernt werden. Die Suche nach dieser Wahrheit ist zeitlich mehr oder weniger begrenzt und findet in einem definierten Rahmen statt (die Dachdeckerlehre).

Die Wahrheit um die materiellen und technischen Voraussetzungen unseres Lebens wird im allgemeinen gewußt. Alle Techniken, die der Befriedigung von Bedürfnissen dienen — wie kommen wir an die Früchte am Baum heran? —, sind bis ins Detail erläutert und werden als wahr akzeptiert. Es ist ein unglaubliches und kaum in Frage gestelltes Wissen darüber vorhanden, wie Autos gebaut werden müssen usw. Diese Wahrheiten füllen ganze Bibliotheken. Man sehe sich nur einmal kurz eines dieser Spezialgebiete an. Mir fehlt jedes Bild, um die Fülle an technischem Wissen zu beschreiben, das sich inzwischen aufgetürmt hat.

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Aber kommt der Ingenieur oder Grundlagenforscher nach hause, stellt sich heraus, daß er von der Wahrheit in bezug auf sein eigenes Leben, auf seine Gefühle, auf die angekündigten "weiteren Bedürfnisse", so gut wie nichts kennt, daß ihm seine eigene Existenz eigentlich ziemlich spanisch vorkommt.

Wie viele Menschen gibt es, die große Teile von Wahrheiten bezüglich der technischen Beherrschung der Natur kennen und über enorme, schier unglaubliche Fähigkeiten verfügen — und trotzdem nicht zufrieden, ja von der Suche nach Sinn ernsthaft beunruhigt oder sogar regelrecht besessen sind? Oder die sich eines Tages einfach und plötzlich umbringen?

Es wird in diesem Buch nicht um die Wahrheiten der technischen Lebensbewältigung gehen — obwohl sie ebenfalls zu den Voraussetzungen eines zufriedenen Lebens zählen. Wir wollen sie keinesfalls geringschätzen. Doch liegen sie in Hülle und Fülle vor, und an sie muß nicht erinnert werden. Das Wissen um die technische Lebensbewältigung muß erworben werden und wird ziemlich leicht erworben; wir brauchen uns hier nicht darum zu kümmern.

Es ist sogar so, daß es in unseren zivilisierten und industrialisierten Ländern ein Zuviel an Technik gibt, die der Befriedigung von Bedürfnissen dienen soll. Diese Bedürfnisse sind aber nicht die grundlegenden Bedürfnisse, deren Befriedigung uns tatsächlich zufrieden stellen würde. Es sind Scheinbedürfnisse.

Die Befriedigung der Scheinbedürfnisse sorgt für einen Raubbau an der Natur, und zwar der äußeren und der inneren. Und damit drohen die Grundlagen für die Befriedigung unserer wirklichen Bedürfnisse zerstört zu werden. Wir veranstalten ein Riesentheater, um Scheinbedürfnisse zu befriedigen, die uns kein bißchen glücklich machen. Wir leben in einer total mechanisierten Welt. Und wir veranstalten dieses absurde Theater, weil wir Angst haben, zur Ruhe zu kommen und unsere wirklichen Bedürfnisse zu spüren.

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Neben der Wahrheit, wie ich z.B. ein Dach decken muß, gibt es aber auch Wahrheiten — d.h. erkannte Bedürfnisse —, die brauche ich überhaupt nicht zu lernen, die weiß ich von ganz alleine. Und

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damit kommen wir jetzt zu jenen "weiteren Bedürfnissen", um die wir uns sehr wohl kümmern müssen, obwohl es gar nichts zu lernen gibt. Diese Wahrheiten sind im Vergleich zu den bisher genannten sonderbar: Sie sind selbstverständlich; man braucht keine besonderen Wörter dafür, ohne daß sie deswegen weniger genau oder weniger deutlich wären. Ganz im Gegenteil sind sie viel greifbarer, fühlbarer als das technische Wissen eines Berufes, das fast ausschließlich aus Wörtern und Zahlen besteht.

Zur Befriedigung dieser Bedürfnisse brauche ich keine besonderen Fähigkeiten und keine besondem Techniken. Letztlich hängt zwar alles von Fähigkeiten und Fertigkeiten ab oder mit diesen zusammen, aber hier, bei diesen Bedürfnissen, geschieht der Lernprozeß von ganz alleine und ist ziemlich kurz: Als Neugeborener suche ich mit meinem Mund die Brust meiner Mutter, mit meiner Haut die Haut meiner Mutter, und diese Suche dauert nicht lange. Es ist mir mitgegeben und angeboren, es ist meine Anlage. Meine Instinkte brauchen keine Lehre. Habe ich einmal ihre Brust erreicht — und das sollte von größter Einfachheit sein —, habe ich es für die Zukunft ein für alle Male "gelernt".

Es gibt also Wahrheiten über Bedürfnisse und deren Befriedigung, die ich mir über mehr oder weniger lange Zeit aneignen muß, und solche, die ich so gut wie ganz von alleine weiß und zu deren Befriedigung ich kein Weltraumprogramm aufstellen muß, sondern die unmittelbar befriedigt werden.

Zu diesen elementaren und tiefen Bedürfnissen zählen — ganz besonders in der Kindheit — die nach Geborgenheit, Anerkennung, Bestätigung, Verständnis, Wärme, Kontakt, Aufmerksamkeit, Zärtlichkeit, Zuwendung, Vertrauen — all das, was man unter Liebe versteht. Erst das Bedürfnis nach Liebe — der Einheit von Liebe nehmen und geben — ist es, das uns wirklich zufrieden stellt. Wenn befriedigt.

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4. Verwandlungsanfällige Bedürfnisse  

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Die Befriedigung der Gesamtheit meiner Bedürfnisse führt mich zur Zufriedenheit. Das sind tiefe oder weniger tiefe Bedürfnisse: solche, die leichter, und solche, die schwerer zu befriedigen sind. Solche, deren Befriedigung eher in Gefahr ist als andere. Ein kleiner Bär findet leicht irgendwo eine Höhle, wo er sich vor Wind und Wetter und Raubtieren schützen kann. Aber er findet keine andere Mutter mehr, wenn die seine gestorben ist oder aus einem anderen Grunde nicht mehr da ist. Vielleicht findet er eine Person, die seine Mutter einigermaßen ersetzt, d.h. die seine Bedürfnisse nach Liebe und Zärtlichkeit befriedigen kann. Aber das ist in freier Wildbahn unwahrscheinlich. Und auch die Menschenkinderbrauchen ihre richtige Mutter. Ein Ersatz ist nur ein Ersatz, und die wahren Bedürfnisse werden dann nicht wirklich befriedigt.

Ich möchte jetzt — wie bereits angedeutet — der Verständlichkeit halber die Bedürfnisse in zwei Gruppen aufteilen. Das Kriterium der Einordnung eines Bedürfnisses in die jeweilige Gruppe ist die Bedeutung und die Tiefe des Bedürfnisses, ist die Möglichkeit und die Gefahr, daß die Quelle seiner Befriedigung verschwinden kann und ist vor allem die Tatsache, daß das Bedürfnis bei Verschwinden der Quelle seihst verschwinden bzw. verdrängt werden kann. Das Kriterium ist die Verdrängungs- bzw. Verwandlungsanfälligkeit.

Alle Bedürfnisse sind für unser Wohlbefinden wichtig, aber es gibt einmal Bedürfnisse, die so gut wie unanfällig für Verdrängung sind, d.h. die eigentlich nicht verschwinden können, weil die Quellen ihrer Befriedigung kaum verschwinden können: z.B. das Bedürfnis nach einer bestimmten Temperatur; das Bedürfnis, mich aus der Kälte in Wärme zu bringen. Ich kann dieses Bedürfnis fast immer fühlen. Weil ich es auch befriedigen kann: durch Heizung und Kleidung. Es kann aber durchaus auch dazu kommen, daß ich selbst dieses Bedürfnis nicht mehr wahrnehme: wenn ich schiffbrüchig bin und zu lange in eisigem Wasser treibe. Irgendwann schaltet sich das Bedürfnis ab, verdränge ich es. Dann verlasse ich das Reich des Lebendigen.


Das Bedürfnis nach einer bestimmten Temperatur ist durchaus zutiefst elementar. Im allgemeinen ist für seine Befriedigung gesorgt, und jeder hat von ihm Kenntnis, weswegen wir es in diesem Buch nicht behandeln brauchen.

Das wäre die erste Gruppe.

Und dann gibt es jene Bedürfnisse — die zweite Gruppe —, die ziemlich oft verdrängt werden, die — zumindest in unserer Zivilisation — sehr verwandlungsanfällig sind. Verwandlungsanfällig heißt: sehr leicht frustrierbar.

Verdrängt werden in unseren Zeiten und Breiten die elementaren Bedürfnisse und das Wissen um sie — all das, worum es eigentlich und wirklich geht und was uns einen Sinn im Leben gibt, nämlich die Sinnlichkeit und die Liebe. Wir brauchen mehr als physische Wärme. Das sind die Bedürfnisse, zu deren Befriedigung überhaupt erst das Dach gedeckt wird und die sich unterhalb aller möglicher Bedürfnisse befinden und diesen zugrunde liegen.

Und zwar werden sie dann verdrängt, wenn ihre Nichtbefriedigung zu einem zu großen Schmerz führt und dies zu oft geschieht. Leider ist das in unseren Zeiten und Breiten sehr oft der Fall.

Analog zur ersten Gruppe könnte man also sagen, daß hier die Quelle der Befriedigung von Bedürfnissen (eine Wärmequelle) zu oft versiegt oder nicht in ausreichendem Maße vorhanden ist, weswegen das Bedürfnis irgendwann aufhört, wahrgenommen zu werden, und verschwindet. Dann kann ich plötzlich in den warmen Golfstrom treiben, aber es nützt mir nichts mehr: Ich habe jetzt das Bedürfnis nicht mehr. Falls ich noch am Leben bin, kann ich jetzt kein zufriedenes Leben mehr führen, weil ich ein wichtiges Bedürfnis nicht mehr habe und also nicht befriedigen kann.

Nicht mehr haben, nicht kennen und nicht wahrnehmen ist das gleiche. Und wenn ich es nicht mehr wahrnehme, bin ich also nicht mehr im Besitz der Wahrheit. Man kann also — entsprechend den zwei Gruppen von Bedürfnissen — von zwei Gruppen von Wahrheiten sprechen.

Der große Prüfstein, ob man in der Wahrheit lebt, ist entsprechend, wenn wir es mit der Liebe, mit den Dingen des Herzens und einer Liebesbeziehung zu tun haben. Erst dann erweist sich wirklich unsere Wahrhaftigkeit, erst dann stellt sich wirklich heraus, ob wir wahr sind und zufrieden sein können.

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Je elementarer die Bedürfnisse sind, desto weniger muß ich wissen, um sie zu befriedigen. Und umgekehrt muß ich eine Hochschule absolvieren, um Dinge wie etwa die Theorie vom Entstehen und Funktionieren der schwarzen Löcher am Himmel zu erlernen.

Die Befriedigung der elementaren Bedürfnisse bedarf also keines großen Wissens — es sind sehr einfache Wahrheiten — und eigentlich gar keiner Sprache.

Je weniger elementar, je weiter hinten in der Rangfolge stehend das Bedürfnis ist und je mittelbarer seine Befriedigung ist, desto mehr haben wir es mit wörtlicher oder körperlicher Sprache zu tun. Es gibt Wörter, die ich ausdrücklich gebrauchen und also wissen muß, um an bestimmte Dinge heranzukommen: "Ich hätte bitte eine Diode zum Verlöten meines Transistorrundfunkgerätes."

Obwohl die Suche nach der Wahrheit, was die weniger elementaren Bedürfnisse der ersten Gruppe betrifft, befristet ist (auch wenn sie zehn Semester dauern kann), dann als mehr oder weniger abgeschlossen gilt (ich weiß jetzt, was ein schwarzes Loch ist) und die meisten von uns nicht ewig kosmologische Rätsel lösen wollen, verbringen wir komischerweise unser ganzes Leben damit, ausgerechnet das elementare Wissen zu lernen —jenes Wissen, das ja eigentlich gering ist und, wenn überhaupt, in Sekunden erlernt wird.

Jedenfalls wollen wir es lernen und verstehen; jedenfalls versuchen wir unser ganzes Leben lang, es zu verstehen, suchen wir die Wahrheit.

Wir wollen das große Geheimnis des Lebens endlich herauskriegen und sind ein Leben lang auf der Suche nach einer Wahrheit — nämlich die unsere elementaren und uns Sinn gebenden Bedürfnisse betreffende —, die doch eigentlich überhaupt kein Wort braucht. Wir lesen ganze Bücher...

Wir sind auf der Suche nach dem Sinn des Lebens.

Warum? Weil wir diese elementaren — die Sinnlichkeit und die Liebe betreffenden — Bedürfnisse und Wahrheiten verdrängen mußten und verloren haben.

Der daraus resultierende Mangel an Wissen, dieses definitive Nichtwissen, was den Sinn unseres Lebens angeht, hängt unmittelbar mit der Massenhaftigkeit an Wissen, die die nachrangigen Bedürfnisse der ersten Gruppe betreffen, zusammen.

Was die zweite Gruppe anbelangt, haben wir so gut wie keine Wahrheit mehr. Die Befriedigung der Bedürfnisse der ersten Gruppe wird in unserer Zivilisation zu einer schier unglaublichen Perfektion getrieben. Das geschieht, um die einfachen Bedürfnisse der zweiten Gruppe bzw. deren Befriedigung zu ersetzen. In dem Moment, wo die elementaren, sinnlichen Bedürfnisse nicht befriedigt werden, nehmen sie die Gestalt von nachrangigen Bedürfnissen der ersten Gruppe an: Dann wird "mit Liebe" die Schwarzwälder-Kirsch-Torte kredenzt. Jetzt muß das Essen oder eine bequeme Fortbewegungsart oder eine bestimmte Art, gegen Regen abgeschirmt zu sein, den Sinn des Lebens liefern, was freilich unmöglich ist. Leider sind nur die Bedürfnisse der zweiten Gruppe dazu in der Lage. Wir können noch so schnelle und schicke Autos bauen, noch so exklusive Häuser bauen, noch so exquisite Kleider tragen, noch so exotische Speisen zu uns nehmen — es wird alles wenig Sinn haben.

Sinn und Zweck dieses Buches ist es, jene erwähnte Suche nach dem Wissen, das die Bedürfnisse der zweiten Gruppe betreffen, abzukürzen. Dieses Wissen ist die Große Wahrheit. Ziel dieses Buches ist es, die Suche — nach endlosen Semestern des Studiums, wo es nichts zu studieren gab — zu einem Ende zu führen. Das Studium muß abgebrochen und die nackte elementare Wahrheit, bei der Wörter keine besondere Rolle spielen, muß gefühlt werden.

Der Sinn dieses Buches ist der Anstoß zur Erlangung jenes elementaren Wissens: die Wahrheit darüber, was wir wirklich und eigentlich wollen, was wir im Grunde brauchen und was wirklich Sinn macht.

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5. Die Verwandelbarkeit von Bedürfnissen  

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Eines der elementaren Bedürfnisse eines neugeborenen Kindes ist — wir sagten es bereits — das nach direktem, warmem, angenehmem Kontakt zwischen unserer Haut und der Haut unserer Mutter, nach zärtlicher und herzlicher Berührung durch unsere Mutter nach unserer Geburt. Wir sind wir, aber wir entstehen aus und in etwas Anderem. Wir hatten nach unserer Entstehung neun Monate lang dieses Etwas, das wir irgendwie selbst sind, um uns herum. Und dann kamen wir aus diesem Etwas — jetzt können wir uns nicht so schnell davon entwöhnen, wir brauchen noch einige Jahre etwas Ähnliches, ähnlich Schönes: Das ist der Körper unserer Mutter mit allem drum und dran, nur eben von außen diesmal.

Drinnen, aber auch draußen noch, sind wir kaum unterscheidbar von unserer Mutter.

Dort drinnen in unserer Mutter hatten wir nie Hunger, wir brauchten nicht einmal etwas einnehmen — alles war einfach da. Wir hatten kaum ein Wissen davon, was wir brauchen und wie wir es bekommen: Es floß über eine Schnur in uns ein. Wir waren noch eher Teil unserer Mutter, als daß wir schon ein Selbst gehabt hätten; wir waren ein Teil von ihr und bildeten einen Teil ihrer Wahrheit.

Dieser Kontakt zwischen uns Neugeborenen und unserer Mutter war also sehr eng, sehr innig und sehr sinnlich. Auch von außen fühlte sich der Körper unserer Mutter — aus dem wir ja im doppelten Sinne sind und der wir ja gewissermaßen selber sind — äußerst gut an. Es fühlte sich an, wie sich später kaum noch etwas anfühlen wird.

Fühlte er sich wirklich so an? War es wirklich dieses schöne, wunderbare Gefühl, das wir ja wollten, brauchten, dem wir noch längst nicht entwöhnt waren? Und war das Gefühl im Mutterleib wirklich so schön und wunderbar?

In den meisten unserer Fälle muß das bezweifelt werden. Das Sinnliche, das wir brauchen, wonach wir uns unsagbar sehnen, wenn wir es nicht bekommen, das gab es für uns nicht. Das gibt es erst heute in Ansätzen durch die Praxis der Sanften Geburt.

Bei uns aber ging es nicht so reibungslos und sanft vonstatten. Jemand, der sanft auf die Welt gekommen und sanft empfangen worden ist, der dürfte sich für dieses Buch nicht interessieren.

Vielleicht sind Sie aber, lieber Leser, auch ohne Verletzung auf die Welt gekommen und haben sich erst später und aus einem anderen Grund auf die Sinn- und Wahrheitssuchc gemacht, die bis heute nicht aufgehört hat. Vielleicht ist ein anderes Ihrer elementaren Bedürfnisse, bei dem die Sinnlichkeit und die Liebe eine große Rolle spielt, nicht befriedigt worden.

Wenn ein elementares Bedürfnis eines Kindes wie z.B. das nach direktem Kontakt zu seiner Mutter auf Dauer nicht befriedigt wird, hört es eines Tages auf, gefühlt und gewußt zu werden. Das Kind strebt in grausamer Verzweiflung nach Bedürfnisbefriedigung, findet diese aber nicht. Es wartet, wartet und wartet und, wenn es etwas älter ist, sucht und sucht es. 

Auf dieser furchtbaren Suche nach dem Elementaren, nach dem Originalen, nach dem Eigentlichen, entdeckt es aber andere Dinge: Es entdeckt seinen eigenen Daumen. Oder es nimmt die Wärme einer Decke wahr und gibt dieser Decke eine Bedeutung, die sie an sich nicht hat. An das Elementare denkt das Kind nicht mehr — es denkt jetzt an die Decke: Diese Decke ist in Reichweite, und es greift nach ihr.

Niemand soll seinem Kind ein Kuscheltier wegnehmen. Aber wenn man ein Kind richtig herzen würde und richtig körperlich und sinnlich lieben würde, es lange und mit echter Liebe streicheln würde, würde es das Interesse am Kuscheltier verlieren. Die Wahrheit des Kindes lautet jetzt: Ich liebe und brauche mein Kuscheltier. Die Mutterliebe gibt es zu einem Teil nicht mehr in der neuen Wahrheit.

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6. Das bei der Verwandlung Übrigbleibende: die Sehnsucht  

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Eine der Aussagen dieses Buches ist es, daß, wenn unsere elementaren sinnlichen Bedürfnisse als Kinder nicht befriedigt worden sind, wir uns danach ein Leben lang auf der Sinnsuche befinden. Es besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Sinn zwischen uns und unserer Mutter, den wir nicht hatten, und dem Sinn, den wir ein Leben lang nicht finden können. 

Seitdem wir uns vergeblich nach dem Sinn gesehnt hatten, suchen wir ihn, sehnen wir uns danach, ihn zu finden. Denn Bedürfnisse kann man nicht einfach verdrängen, sie verschwinden nicht einfach und entziehen sich nicht ohne Folgen dem Wissen — sie hinterlassen dabei etwas: die Sehnsucht.

Diese Aussage ist an sich nicht neu, und ich stehe mit ihr bei weitem nicht allein da. Weswegen ich das Buch geschrieben habe, wird aus anderen Aussagen hervorgehen, die ich später machen werde und die die Art und Weise betreffen, wie wir den Sinn wiederfinden können.

Wir haben das elementare, primitive, urige, völlig wortlose Wissen von dem, was wir brauchten, wir haben unsere Wahrheit verdrängen müssen, weil wir das Gebrauchte nicht bekamen und diese ausbleibende Bedürfnisbefriedigung zu schmerzlich war. Wir haben den Schmerz abgeschaltet, verdrängt, weil es keinen Sinn mehr hatte, ihn zu fühlen, weil es irgendwann einmal keinen Sinn mehr hatte, zu schreien: Niemand kam; niemand gab uns, was wir brauchten.

In der schmerzenden Hölle fragten wir uns, wie das geschehen kann, was doch geschah und was doch völlig sinnlos war. Doch im Schmerz war noch das enthalten, wonach wir uns sehnten. So lange wir die Schmerzen fühlten, solange wußten wir auch, warum wir diese Schmerzen hatten — weil die Liebe nicht da war — und was wir überhaupt schmerzlich vermißten. Erst in dem Moment, wo wir uns zum ersten Mal in unserem Leben so gut wir konnten den Schmerz verbissen haben, wo wir zum ersten Mal zum Indianer geworden sind, zum Jungen, der nicht weint, erst in diesem Moment haben wir auch das Wissen von dem, was wir eigentlich brauchen und wollen, zum ersten Mal in unserem Leben verloren. 

Seitdem sind wir überhaupt nicht mehr sicher, ob das, was wir haben und treiben, wirklich das ist, was wir wollen.

Jetzt haben wir zum ersten Mal unsere Wahrheit verloren und suchen seither nach ihr. Jetzt, nachdem wir stundenlang in unserer endlosen und kosmischen Einsamkeit umsonst geschrieen haben, war es plötzlich so, als brauchten wir den sinnlichen Kontakt zu unserer Mutter gar nicht. Alles war plötzlich ganz anders, und auch wir waren ganz anders, fühlten uns jetzt viel lebloser. Alles war plötzlich so sinnlos. Und wir waren allein, von der Welt abgeschieden. Aber wir hatten keine Schmerzen mehr. Solange wir die Schmerzen noch hatten, war es nicht sinnlos, da war alles noch da, die Welt und wir, alles bewegt. Doch dann hatte es sich in uns zu sehr bewegt...

Aber eine diffuse Erinnerung blieb mit uns, blieb in uns, blieb uns. Und — ganz ohne Worte — fragten wir uns jetzt, was das alles soll. Wir hatten keine Wahrheit mehr. Wir wollten aber — ganz ohne Worte — die Wahrheit wieder wissen. Wir wollten verstehen, was und warum es geschehen war.

Nur war es nicht zu verstehen. Die Sinnlosigkeit ist nicht zu verstehen.

Wir haben uns verloren, weil wir in einem Grundbedürfnis nicht befriedigt worden sind und dieses Bedürfnis jetzt nicht mehr wahrnehmen. Ab jetzt haben wir eine andere Wahrheit. Unsere bisherige Wahrheit — ich schwimme in einer bewegten, anregenden, wunderbaren Welt, zu der ich gehöre, die zu mir gehört, die mir gehört (alles ist eins) — gilt nicht mehr. Diese Wahrheit ist nicht mehr, sie ist mit dieser Welt verschwunden. Aber das, was wir jetzt diffus denken und empfinden, das halten wir auch für wahr, das entspricht unserer Erfahrung: das Kuscheltier ist da, wir sehen und fühlen es. Aber das ausgebliebene Original, das Ausbleiben des Elementaren, hinterläßt in uns auch eine andere Wahrheit: In der Welt gibt es Sinnlosigkeit, Verzweiflung und Katastrophen. Die Welt ist ein Problemfall; sie ist uneins und zwei: die Welt, wie sie ist, und die Welt, nach der ich mich sehne. Ich fange an, in der Vergangenheit zu leben.

Die Wahrheit hat sich gewandelt. Von nun an kennen wir unsere eigentliche, die primäre Wahrheit — alles ist schön — nicht mehr. Die alte Wahrheit bleibt aber gleichzeitig untergründig bestehen: als mehr oder minder diffuse Sehnsucht.

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Können wir die Verwandlung unserer Urwahrheit wieder rückgängig machen? Und falls danach noch Interesse besteht: Wie kann das von statten gehen?

Die Antwort auf diese Fragen wird uns gerade jene untergründige, mehr oder minder diffuse, mehr oder minder qualvolle Sehnsucht geben. Diese ist das Resultat einer Katastrophe und ist selbst die Katastrophe; aber sie ist es auch, die uns auf die Spur zu unserer tiefen Wahrheit und zur Zufriedenheit führen kann.

Wenn wir in unseren Grundbedürfnissen nicht befriedigt werden, lernen wir, wie wir unsere Bedürfnisse verschwinden lassen können. Entweder durch Verhärtung: Wir machen uns ganz hart, damit wir das Bedürfnis nicht mehr fühlen. Unsere Muskeln ziehen sich zusammen und erdrücken die Nerven. Oder wir machen später mit einer seltsamen Erscheinung Bekanntschaft: die Ersetzung des Wirklichen durch Phantasie. 

Noch später entdecken wir Stoffe, deren Wirkung der Phantasie sehr ähnlich ist bzw. die diese anregen und die ebenfalls fast die gleiche sinnliche Erfahrung hervorrufen wie das, was wir in der Wirklichkeit nicht haben konnten: Drogen. Beide — Phantasie und zugeführte Stoffe — wirken in unserem Gehirn als ein und dasselbe: Ersatz für das Wirkliche. Einmal sind die Wirkstoffe ("Opiate") körpereigene Drogen — Wörter, Begriffe, Geist, Spiritualität. Das andere Mal werden außerhalb des eigenen Körpers hergestellte Drogen eingenommen: in unseren Breiten meist Sprit, Spiritus, Himbeergeist usw.

Wenn Sie von Ihrer Freundin verlassen werden, warten Sie Tag für Tag, Stunde um Stunde auf sie. Jedes Klingeln des Telefons, jedes Geräusch kündigt sie an. In jedem Moment muß ihr Anruf kommen. Daß sie Ihnen gehört, daß Sie beide zusammengehören, das erscheint Ihnen als die völlige Richtigkeit und Selbstverständlichkeit; sie muß wieder zurückkommen. Sie stellen sich bildhaft vor, wie sie zurückkommt; Sie träumen. Ohne diese Phantasien könnten Sie die Trennung scheinbar nicht überleben. Sie müssen sich einbilden, Ihre Ex-Freundin gehört noch zu Ihnen. Dann gehen durch Ihren Körper fast die gleichen Sensationen wie Sie sie haben, wenn es echt wäre: Sie lachen vor sich hin, freuen sich usw.

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Es ist erstaunlich, wie Ersatz wirkt, und wie gut er wirkt: Sie können es an sich selber leicht feststellen, lieber Leser: Beobachten Sie sich einmal, wenn sie am Tage irgendwo unterwegs sind und träumen. .. Wenn Sie sich etwas vorstellen... Ist das nicht fast so schön, als wenn Sie das, wovon Sie träumen, tatsächlich hätten? Sie mußten doch auch schon vor sich hinlachen oder schmunzeln, wenn sie an etwas gedacht haben. Oder Sie haben das in der U-Bahn bei anderen Menschen beobachtet. Das bezieht sich auf reine Phantasie ohne Mittel von Außen. Ich will hier gar nicht von den Glücksgefühlen sprechen, die mit Mitteln erreicht werden können.

Wahrheit ist — darauf komme ich später im Kapitel "Was ist Wahrheit?" ausführlicher zurück — die Gesamtheit der Informationen, die ich aus mir und aus der Welt erhalte und die alle in mir — in meinem Ich oder meinem Gehirn — zusammenlaufen. Von innen erfahre ich, was ich brauche; von außen erfahre ich, was dafür da ist. Wahrheit ist dort, wo etwas gebraucht wird; sie ist die Kommunikation und das Zusammenkommen zwischen Gebendem und Nehmendem (was eins und umkehrbar ist).

Wenn ein kleiner Junge seine Mutter verliert, kommen die Dinge, die brauchen und gebraucht werden wollen, nicht mehr zueinander. Das bewirkt im schlimmsten Falle, daß der Junge das Bedürfnis abtötet: Dann fließen die Informationen nicht mehr aus seinem Inneren zu ihm (weil sie ja auch nicht mehr von außen zu ihm fließen). Sein Ich ist von seinem Kern, seinem Herz, abgetrennt, nicht mehr sinnlich, d.h. nervlich-kommunikativ verbunden. Es gibt dann keine Wahrheit mehr, und der Junge wird dann herzlos.

Die Opiate nun können vortäuschen, ich hätte das Gebrauchte einverleibt, als wäre die Mutter — oder das, was sie mir gibt: Wärme und Sicherheit — noch da.

Anders gesagt werden dann die wirklichen und eigentlich gebrauchten Dinge zu einem Teil nicht mehr gebraucht: Ich erreiche eine gewisse Zufriedenheit auch ohne sie. Die Bedürfnisbefriedigung findet nur virtuell statt — als ob —, aber meine Bedürfnisse sind dann fast genau so wenig mehr zu bemerken, als wenn ich sie ohne Opiate und wirklich befriedige.

Entsprechend sind die vorgetäuschten Informationen eine Art Ersatzwahrheit oder verwandelte Wahrheit. Später braucht der Junge Sprit oder Spiritualität anstatt eine Mutter. Das ist dann seine Wahrheit. Das ist das einzige, was er wirklich denkt.

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Tatsächlich aber läßt sich das Wirkliche nur zu einem Teil durch Geist oder andere Ersatzbefriedigungen ersetzen. Das Wunderschöne, das wir sinnlich-wirklich erwartet hatten und das ausgeblieben ist, können und wollen wir nicht völlig vergessen. Und als Säuglinge sind wir auch noch nicht mit genügend Gehirn für Phantasie und eigene Opiatherstellung ausgestattet; wir können auch noch nicht zur Flasche greifen. Wir können uns nur abhärten. Aber das Eigentliche, die echte Bedürfnisbefriedigung, läßt sich wirklich ganz und gar nicht ersetzen.

Was bleibt, ist eine große, eine riesige Sehnsucht nach dem Sinnlichen und Wirklichen. Das Leben kann doch nicht sinnlos sein! Also haben wir einerseits nie aufgehört, verstehen zu wollen und den Sinn im Sinnlosen, in der Sinnlosigkeit — in rein gedanklichen Konstruktionen — zu suchen. Und andererseits haben wir später versucht, jenes total sinnliche Gefühl des Einsseins mit unserer Mutter, das wir nie wirklich hatten, irgendwie herzustellen und doch noch zu erleben. Wir kannten es ja: aus unserer Erwartung und vielleicht aus Ansätzen von Kontakt, aus unvollständigem Kontakt. Wir wollten aber alles: vollständig.

Wir werden nicht eher Ruhe geben und zur Ruhe kommen, bevor wir dieses Gefühls — das Gefühl der vollständigen Befriedigung — habhaft sind. Die Sehnsucht ist nicht totzukriegen.

Wir bleiben unruhig und grüblerisch, wir sehnen uns nach dem Totalen, nach dem Grenzenlosen, nach dem, hinter dem nichts mehr übrig bleibt, hinter dem nichts mehr ist und nichts anderes mehr kommt. Dann wäre die Welt wieder eins.

Da ist etwas, hinter dem nichts mehr kommt, das wissen wir genau. Da ist eine Erfahrung, ein Ausleben, ein Bis-an-die-Grenze-Gehen, ein völliges Durchdrehen, ein vollständiger Rausch ohne jedes Rauschmittel. Erst wenn wir diesen phantasielosen Rausch erlebt haben; wenn wir alles gesagt, alles ausgesprochen, kein Geheimnis mehr übrig gelassen, wenn wir — längst jede Peinlichkeit weit hinter uns gelassen habend, weil wir voll und ganz zu ihr gestanden haben — aus unserem Körper gegangen sind, wild in Ekstase getanzt haben werden; wenn wir jede Verklemmung von uns abgeschüttelt haben, erst dann werden wir an dieser Stelle sein, hinter der es nichts mehr gibt. Dort werden wir sagen können: Ich bin völlig ich, da ist nichts anderes mehr, was ich sein könnte. Ich fühle mich zu hundert Prozent, ich habe das vollständige Körpergefühl, was ich bin.

Es ist eine Wahrheit, die mein ganzes Leben lang in mir geschlummert, rumort und gedrängt hat. Ich werde erst an dem Tag beruhigt und zufrieden sein, wenn diese ganze Wahrheit raus ist. Es ist da etwas, was in mir drängt, was in mir sehnt. Was es ist, ist völlig egal. Daß es etwas Tiefes, etwas Endgültiges, etwas Bodenmäßiges ist, ist klar. Es fühlt sich sehr nach etwas Definitivem an.

Es ist die Sehnsucht, völlig frei zu drehn, die Sehnsucht nach dem totalen Kontrollverlust. Ganz aus mir herauszugehen. Alle Verklemmungen verlieren. Sich voll hinzugeben. Sich voll gehen zu lassen. Einfach nur ganz und gar auszuflippen. Sich sämtliche Verklemmungen abzuschütteln in einem wilden, völlig wilden und unkontrollierten Tanz. Die totale Raserei bei vollem Bewußtsein. Die unbändige Bewegung. Das totale Loslassen.

"Where is the feast that we were promised? 
Only believing in animal lust." 

Wo bleibt das uns versprochene Fest? 
Der Glaube nur an animalische Lust.

(The Lords of the New Church)

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Peter Töpfer  Die Wahrheit Sie sagen und in ihr leben  Ein posttherapeutisches Manifest

www.detopia.de