Start    Weiter

53. Der existentielle Hintergrund der Wahrheitstheorie

 

 

 

289-295

Ich wußte schon immer — wahrscheinlich vom Tage meiner Zeugung an —, daß es das nicht sein kann: Daß das, was das Leben sein soll, Unsinn ist. Ich habe es nie wirklich ernst genommen. Ich wußte, daß das Leben tatsächlich stattfinden kann, aber daß es mit dem, was ich in und außer mir vorfand, nicht viel zu tun hatte.

Ich habe eigentlich von Anfang an nichts mit meinen Eltern zu tun gehabt und von Anfang an mein eigenes Ding gemacht. Ich habe nie andere Kinder verstehen können, wie sie mit ihren Eltern etwas zu tun haben konnten. Ich lebte von Anfang an in einer Parallelwelt. Ich bin auch nie davon ausgegangen und habe von daher auch nie eine Hoffnung gehabt, daß meine Eltern mit mir — meinem wahren Ich — etwas anfangen können.

Ich habe mich immer gefragt, was das sollte: daß wir da nebeneinanderherleben und daß wir überhaupt alle auf der Welt waren. Ich hatte keine Ahnung, wozu das sein sollte, wozu das irgendwie gut sein und was das überhaupt bezwecken sollte. Mir fällt — wenn ich mich in die Zeit, als ich Kleinkind war, zurückversetze — nichts, absolut nichts ein, was auch nur der Hauch eines Grundes gewesen sein könnte, daß dieses seltsame Ding, genannt Leben, stattfinden müßte. Ich wußte es nicht. Ich sah keinen Lebensgrund.

Heute sehe ich manchmal Bäume im Wind, wo ich mir sage: "Hm, das gefällt mir irgendwie." Aber — ich möchte hier den Säugling in mir weiter sprechen lassen — es ist nur der Hauch, ein ganz dünnes Bißchen eines Schattens von Motiv, dem Leben irgendein kleines bißchen Sinn zu geben. Doch eigentlich ist nicht viel da.

Wenn ich all die Menschen sehe, die das gleiche Theater abziehen wie es meine Eltern getan haben, fällt mir nichts dazu ein. Es ist die Hölle. Sie setzen Kinder in die Welt, ohne auch nur den Hauch einer Ahnung zu haben, was das soll und welches Verbrechen sie damit begehen. Und dann wird dieses Verbrechen mit Motiven entschuldigt, nein, nicht mal entschuldigt — es wird mit Motiven erklärt, es wird arrogant proklamiert —, die völlig leer sind. Dünn. Mir fehlt eigentlich jedes Wort, um die Dünne zu beschreiben, die die Menschen als Grund angeben, Kinder in die Welt zu setzen.

289/290

Neulich sagte mir ein Vater, daß er im Umgang mit seinem Sohn sicherlich "Fehler" gemacht hätte (das kann ich bestätigen), aber zumindest hätte er überhaupt etwas getan. Er sagte, daß nur dort, wo man etwas täte, man auch Fehler machen könne. 

Er hatte von der fundamentalen Kritik, die ich an der zivilisierten Menschheit übe, nichts verstanden. Ich bin schlicht der Meinung, daß ein Zivilisierter nicht weiß, was "Person" heißt. Dieser Vater blieb im Rahmen dieser Zivilisation, d.h. er kann nicht dahin hinabstoßen, wo man fühlt. 

Er sagte mir, daß es leicht sei, zu kritisieren, aber er hatte gar nicht erst verstanden, was ich kritisiere. Statt dessen glaubte er mir sogar noch einen Vorwurf machen zu müssen, nicht das Risiko eingegangen zu sein, einen Fehler zu machen. Offenbar war es der "Erhalt der Menschheit" wert, eine Person zu mißbrauchen und sie hinauszuschicken unter die Zivilisierten. 

Oder der Spaß, den ein an Selbstbewußtsein und Wahrheit mangelnder Zivilisierter hat, wenn er eine Ähnlichkeit mit einem Kind entdeckt, oder welches Motiv auch immer: Hauptsache, eine unschuldige Person in diese Welt der Schuld hinausschicken und sie dieser schuldigen Menschenwelt und ihren Höllenqualen aussetzen. Ein Motiv wird uns schon einfallen. 

Ich will hier schon gar nicht Politiker erwähnen, die von Kindern als "demographischer Waffe" sprechen. Wenn ich mich noch länger mit jenem Vater unterhalten hätte, hätte er mich wahrscheinlich noch gefragt: "Wer, glaubst du denn, zahlt deine Rente eines Tages?"

Für wen, glaubt dieser Vater, hat er es — wenn auch mit Fehlern — getan und riskiert? Für seinen Sohn? Für die Rentenkasse? Für die Menschheit? Was, um Himmels Willen, ist der Grund, bewußt und absichtlich Personen herzustellen (zu "zeugen") und sie in die Welt zu schicken? 

Eigentlich weiß ich, für wen er es getan hat: für sich. Die Motive möchte ich nicht wissen. Purer Egoismus oder besser gesagt — weil ich das Wort Egoismus meist positiv verwende — purer Egotrip, oberflächlich und billige Genüsse auf Kosten einer Person.

290


Lieber Leser, ich kann Ihnen leider nicht sagen, für wie abartig ich diese Einstellung halte. Mir fehlen schlicht die Worte. Nicht nur daß ich von keinem Kind eine Rente bezahlt haben möchte — ich halte dieses ganze Räsonieren auch aus dem einfachen Grunde abartig, weil alles auf dem Rücken eines Kindes geschieht, das überhaupt nicht gefragt worden ist, ob es geboren werden und ob es an sich "Fehler" begangen haben möchte. Ganz zu schweigen davon, ob es damit einverstanden sei, für andere arbeiten zu sollen.

Für mich stand schon damals, als Säugling, fest: Die Menschheit ist durch und durch gottserbärmlich fertig; alles läuft vollständig verkehrt. Sie ist völlig erdrückt unter einer ganzen unendlichen Katastrophe, die kein Wort hat.

Natürlich meint das vor allem mich selber. Aber ich wußte und habe es mir nie ausreden lassen, daß ich nicht an meiner Katastrophe Schuld habe. 

Jener erwähnte Vater gehört zu den Menschen, die glauben, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben, und nun etwas faseln, man müsse sich mit den Eltern versöhnen und ihnen vergeben. Wieso? Nein, ich habe mich nie von meiner Wahrheit abbringen lassen, das zu fühlen, was ich nun einmal fühle, gegenüber wem auch immer. Wenn es Versöhnung gibt, dann nur in Wahrheit. Ich weiß auch, warum der besagte Vater Versöhnung predigt: Weil er Angst vor seinem Kind hat und dem, was dieses ihm sagen könnte. Er hat ein schlechtes Gewissen und will das mit "Versöhnung" zuschütten.

Die zivilisierte Menschheit stellt eine Abfolge von Katastrophen dar. Grund für diese Abfolge ist die Abwesenheit, zumindest die nahezu vollständige Verwandlung von Wahrheit.

Diese meine Haltung blieb durch all die Jahre meiner Kindheit und Jugend bestehen. Sie wurde nicht gerade zum Positiven gewendet durch all die Dinge, die ich in diesen Jahren erleben mußte... Lieber Leser, denken Sie bitte nicht, ich hätte die Späße des Lebens nicht gehabt wie Sie. Ich behaupte nur, daß ich die Wahrheit, die meine Person hatte, nie vergessen habe. Eine Person nimmt die Dinge wahr, wie sie sind. Deswegen werden auch in der Zivilisation alle Personen vernichtet. Meine Person wußte immer, daß sie eine abgrundtiefe, unermeßliche und unbeschreibliche Angst hat, die sie wohl nie verschmerzen können wird. Und, lieber Leser, ich war immer der Mutigsten einer gewesen und bin es heute noch. Also erzählen Sie mir bitte nicht, daß nur ich diese Angst hätte. Ich kenne meine Mitmenschen, glauben Sie mir: Die haben noch mehr Angst als ich. 

291/292

Um Mißverständnissen endgültig vorzubeugen: Ich halte mich für nicht mehr traumatisiert als die meisten Menschen in unserer Zivilisation. Ich weiß nur besser um meinen und unseren Zustand, und die Späße des zivilisierten Lebens reizen mich bedeutend weniger als die meisten. Zum Beispiel der Spaß, Personen ungefragt in die Zivilisation zu setzen und sie für diese abzurichten, sie der verzweifelten Verwirrung auszusetzen und ihnen den Sinn zu stehlen.

 

* * *

 

Dann kam das Jahr 1977 und mit ihm eine kurze Zeit der Freiheit. Kurz eröffnete sich mir die Sicht, was das Leben für ein Abenteuer sein kann. Ich erinnere mich allein an eine Nacht, in der ich gemeinsam mit Freunden eine Passion von Bach hörte; es war die reine Magie. Das Leben machte in dieser kurzen Zeit Freude, und ich sah auch einen Sinn in ihm. Ich habe bereits im Kapitel "Die Weisheit der Jugend" erzählt, wie schnell diese Zeit aber verging und ich wieder den Spaß am Leben und den Sinn verlor.

So vegetierte ich dann bis 1997 dahin. "Dahinvegetieren" ist eigentlich genau das falsche Wort, Das Wort "vegetieren" (lat. vegetatio — Belebung, belebende Wirkung) in diesem Zusammenhang ist natürlich falsch, denn in mir gab es keine Vegetation. Besser müßte es heißen: So quälte ich mich durch die Jahre dahin. Ich war vom Anfang meines Lebens an eine Art Eisklumpen gewesen: völlig in mir zurückgezogen. Nach außen hin sah es oft nicht so aus — ich konnte auch aus mir herausgehen, sogar mehr als die meisten anderen —, aber es ist trotzdem die Wahrheit. Was mich am meisten auszeichnete (und zu großen Zügen heute immer noch auszeichnet), war diese riesige, katastrophale Angst. Angst insbesondere vor Frauen. Es war also kein Wunder, daß ich keinerlei wirkliche emotionale Bindung eingehen und keinen Sinn in meinem Leben finden konnte.

Ich hatte seit 1984 versucht, mit mehreren Psychotherapien an meinem Zustand etwas zu ändern, wobei ich jedoch so sehr entfremdet war, daß ich gar nicht angeben konnte, warum ich mich überhaupt wirklich in Psychotherapie begab und was ich von dieser erwartete. Ich war dermaßen hilflos und verloren, daß ich nicht einmal wußte, welche Art von Hilfe ich brauche: Hilfe wozu?

292


Es war also abermals kein Wunder, daß diese Therapien keine nennenswerte Wirkung hatten. Ich habe die beste Therapie gewählt, die es gibt. Es ist die einzige Psychotherapie, die weiß, was "Person" heißt. Aber die Therapie, die ich brauchte, mußte noch erfunden werden — es war keine Therapie mehr.

1997 sagte ich mir, daß das so nicht weitergehen konnte. Immerhin fühlte ich jetzt meine Unzufriedenheit deutlicher und dringlicher: Ich mußte etwas unternehmen! Ich wußte jetzt deutlich, daß mein Leben völlig sinnlos war: eine einzige fragliche Existenz. Und daß ich etwas an Zufriedenheit anstreben sollte. Ich wußte jetzt, daß ich einen Sinn finden mußte.

Und ich litt so sehr unter etwas, wovon ich erst später begriff, daß es emotionale Bindungslosigkeit war. 

Ich wußte, daß ich vom ersten Tag meines Lebens an eine ungeheure Angst hatte, aber jetzt mußte ich mich ihr stellen. Ich wußte, daß diese Angst die Ursache für die Einsamkeit war, und ich wußte vor allem, daß mich dieser Weg der Wahrheit in die Hölle führen würde: genau in die Hölle, vor der ich jene kolossale Angst hatte.

Ich konnte mich nicht einfach ein bißchen auf eine Frau einlassen, wie ich es vielleicht heute könnte, nein — ich wußte, daß es dann um alles oder nichts, um Leben und Tod gehen würde. Und deshalb hatte ich so eine riesige, höllische, unbeschreibliche Angst davor. Frauen waren und sind für mich zum Teil immer noch immer übermächtige, übersinnliche, aus einer anderen Welt, aus einer übermächtigen Welt stammende Wesen. Sie sind und waren mir aber gleichzeitig auch völlig verbunden und gleichgesinnt und von gleicher Natur, gleichem Wesen. Hölle und Himmel in einem. Ich konnte den Himmel nicht haben, weil mich die Hölle im Himmel erwartete.

Ich ging, diesmal mit klareren Motiven, zu meinem Therapeuten aus den 1980er Jahren zurück und sagte ihm, daß ich es noch einmal probieren müsse und wolle. Ich mußte meine Einsamkeit beenden.

Ich wußte, was geschehen würde — nämlich die Hölle der Trennung. Es würde zum Urschmerz des Verlustes kommen. Zum Brechen meines Herzens. Und deshalb, aus panischer Angst, war ich einsam geblieben. Aber die Einsamkeit war noch schlimmer, noch absurder.

293


Jetzt mußte ich mich auf eine Frau einlassen und dafür meinen ganzen Mut zusammennehmen. Jetzt begann mein Weg der Wahrheit.

Ich wollte nichts anderes mehr fühlen als was ich gerade fühlte. Ich bin aufs Ganze gegangen. Mit der Beziehung und auch danach, in der Trauer und im Urschmerz. Und gehe noch immer aufs Ganze. Ich habe natürlich nicht bewußt nach einem Szenario gehandelt in jener Beziehung. Alles andere als das. Es stellt sich nur jetzt — im Nachhinein — so dar. Ich bin immer nur nach meiner jeweiligen Wahrheit gegangen, ohne nachzudenken. Erst heute verstehe ich und erkenne ich das Szenario.

Ich hatte keine Ahnung von einem "Szenario", aber was ich sehr wohl wußte, ist, daß ich nur in der Wahrheit bleiben wollte und geblieben bin. Das sehr wohl ganz bewußt und in Folge einer Entscheidung, die ich irgendwann einmal getroffen habe, als ich begriff, daß es allein meine Wahrheit ist, die mich vor dem Verrücktwerden schützt, sonst nichts.

Meine Freunde faßten sich in den schlimmsten Zeiten an den Kopf und sagten: 

"Natürlich macht er es falsch. Er leidet doch wie ein Idiot, er sagt es doch selber, daß er wie ein Wolf jault und Rotz und Blasen heult seit Monaten. Also macht er etwas falsch. Das kann es ja nun wirklich nicht sein. So was mache ich jedenfalls nicht."

Ja, tatsächlich, ich empfehle meine Wahrheit niemandem. Ich zeige sie nur als eine Möglichkeit. Für mich habe ich es richtig gemacht. Meine Gefühle hätten es auch gar nicht anders zugelassen. Es war meine Wahrheit, und ich war in ihr. Und der Schmerz war mir egal. Im Gegenteil: In ihm war die Liebe enthalten, die ich nie mehr aufgeben werde:

"There will be no white flag above my door, 
I'm in love and always will be."
(Dido)

 

Nur meine Phantasie — daß es doch nicht so ist, wie es ist, und daß es doch nicht endgültig vorbei ist und eines Tages alles gut werden würde — und die Hoffnung hat mich als Kind gerettet. Heute rettet sie mich nicht mehr, heute verhindert sie, daß ich wahr werde, ganz wahr.

Und hier hat die Spekulation ihr Ende: 

Ich werde diese Sehnsucht und diese absolut grausame Vorstellung von der Endgültigkeit wahrnehmen und fühlen. Ich werde mich weiter phantasieren lassen, aber ich werde eines Tages auch die ganze Wahrheit akzeptieren.

Wenn ich mir vorstelle, wie es wäre, diese Sehnsucht und diese Angst vor der Endgültigkeit nicht mehr zu haben — wenn ich frei davon und überhaupt frei wäre —, packt mich die Panik. Die Panik besteht darin, daß ich die Liebe verlieren könnte. Daß die Liebe nur in der Phantasie existiert, daß es nur eine Hoffnung ist, spielt keine Rolle: besser eine Phantasie als gar nichts. Dieses letzte Bißchen, dieses letzte Verbliebene will ich nicht auch noch verlieren. Ich habe bei meiner Freundin einen Geschmack dieser Liebe kennengelernt. Deshalb hänge ich so an ihr und an der Illusion.

Größere Fortschritte konnte ich in den acht Jahren meines Weges nicht machen. 

Schneller geht es nicht. Aber waren "Fortschritte" mein Ziel? Nein. 

Der Sinn war, mich auf den Weg zu begeben und auf ihm zu gehen und nicht, auf ihm Fortschritte zu machen. Situation für Situation, Gestalt für Gestalt, Wahrheit für Wahrheit. Schritt für Schritt. Der Sinn war, in der jeweiligen Gegenwart Sinn zu erlangen, durch Wahrheit.

Alles andere ist Schicksal.

294-295

 

 

  ^^^^


Peter Töpfer  Die Wahrheit Sie sagen und in ihr leben  Ein posttherapeutisches Manifest

www.detopia.de      https://detopia.de