54. Der theoretische Hintergrund der Wahrheitstheorie
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So wie ich immer wußte, daß ich eines Tages zurückkehren mußte zu meinem Herzen — und nichts anderes ist die Wahrheit — und daß ich das tun würde, irgendwann, so wußte ich auch immer, daß ich, wenn ich mich auf die Liebe zu einer Frau oder auf eine Frau einlassen würde, die Hölle auf Erden erleben würde.
Beides hängt eng zusammen, ja, jetzt begreife ich es langsam: Beides ist ein und dasselbe. Mich auf eine Frau und die Liebe einzulassen, das hieß nichts anderes als mich und mein Herz freizulegen, also die Wahrheit zu entdecken.
Wenn ich die beiden genannten Dinge immer wußte, so kommt mir doch erst jetzt, in dem Augenblick, wo ich dies schreibe, zu Bewußtsein, daß diese beiden Dinge identisch sind. Ich kann es immer noch nicht ganz fassen, aber ich weiß, es ist die Wahrheit. Ich wußte nicht, daß mich die beiden Bewußtheiten — die existentielle und die theoretische, die emotionale und die intellektuelle — eines Tages zusammenbringen würden und daß beide Bewußtheiten in eine Bewußtheit fallen würden.
In dem Moment, wo beide Wissen zusammenfallen, in dem Moment komme ich selber zusammen und werde endlich eins und einzig mit mir selber, verschwindet meine Spaltung. Es ist für mich eine völlig neue Erkenntnis, und sie fand jetzt eben statt: nicht etwa bevor ich mitten in der Nacht aus dem Schlaf heraus zu Papier und Stift griff, sondern während des Schreibens.
Ich wollte lediglich gerade darüber schreiben, daß ich immer wußte oder ahnte oder das Gefühl hatte, daß auf mich die Hölle wartet, wenn ich mich auf eine Frau einließe. Aus diesem Grunde genau tat ich dies nie oder nur selten. Ich war viele, viele Jahre einsam. Die Einsamkeit war schlimm. Aber das, was mich in oder nach der Liebe erwartete, das war — so befürchtete ich — noch schlimmer. Ich entschied mich für die Einsamkeit, weil ich panische Angst vor der Trennung, vor dem Verlust der Liebe — vor der Einsamkeit hatte.
Ich hätte nie gedacht, daß die Rückkehr zu meiner Wahrheit, von der ich zutiefst überzeugt war, daß es das einzig Richtige ist — wenngleich ich, ehrlich gesagt, nicht wußte, wie das tatsächlich und
konkret geschehen sollte —, nicht nur damit zusammenhängen würde, daß ich mich auf die Liebe und auf eine Frau einlasse, sondern daß dies ein und dasselbe ist. Jetzt weiß ich, daß dies genau der Weg war, auf dem ich zu meinem Herzen zurückkomme. Ich kannte das Ziel, aber ich wußte den Weg nicht.
Natürlich bereue ich überhaupt nicht, mich für die Liebe und das Leben entschieden zu haben. Wenngleich ich sagen muß, daß ich nicht etwa den Mut gehabt hätte, diese Entscheidung zu treffen. Ich konnte einfach nicht anders, das Leben in mir war einfach stärker. Ich mag mir zwar meine Gedanken gemacht haben, aber jene Entscheidung hatte nicht wirklich eine theoretische Grundlage.
In diesem Moment wußte ich es doch nicht mehr oder schob es beiseite, daß ich in die Hölle geraten würde. Ich liebte diese Frau ganz einfach. Es war nicht "das Leben" — es war die Liebe, es war die Frau. Alles war eins. Und gleichzeitig muß ich auch sagen, daß eine Art Entscheidung für das Leben, für die Frau und für die Liebe sehr wohl im Spiel war, eine bewußte Entscheidung und auch ein gewisser Mut.
Was zum Ganzen, zur ganzen Wahrheit in dieser Sache hinzukommt, ist, daß ich all das ohne die Hilfe eines Menschen, auch wenn es die professionelle Hilfe eines Psychotherapeuten war, nicht geschafft hätte. Allein hätte ich nicht den Mut gehabt, und ein Freund hätte mir diese Hilfe niemals geben können. Dafür war ich zu ängstlich und brauchte einfach zu viel Hilfe. Erst durch die Therapie und in ihr habe ich mich dahin durchringen können, die Liebe zu wagen. Erst indem ich wochen- und monatelang meine Ängste und mein Befinden angenommen, gefühlt und ausgesprochen habe, bin ich soweit gekommen, daß das Leben und die Liebe in mir zum vorsichtigen und langsamen Durchbruch gekommen sind. Erst durch die bewußte Entscheidung, mich mir selbst auszusetzen und eine Therapie zu machen, konnte letztlich die Liebe stattfinden.
Diese Therapie war buchstäblich meine eigene Therapie, und zwar in dreifacher Hinsicht: Sie hatte mich zum Objekt, sie erfolgte nach meiner Überzeugung und mit meiner eigenen Technik (nämlich die ganze Wahrheit zulassen, wissen und fühlen).
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Ich sagte, daß ich mich bewußt entschieden habe, mich mir selbst und dem Leben auszusetzen. Es war nicht etwa die Entscheidung, "eine Therapie zu machen" — ich wußte immer, was "Therapie" für mich bedeutete und in der Praxis bedeuten würde. Meine Art Therapie war, die Wahrheit zu sagen und voll und ganz anzunehmen, jede Regung meines Herzens, meiner Seele und meines Körpers zu fühlen, bewußt anzunehmen und mich danach zu richten und davon leiten zu lassen.
Im Grunde habe ich diese Entscheidung bereits mit 16 Jahren getroffen. Ich habe mich damals nur aufgespaltet: Einerseits wußte ich, daß es nur um die Wahrheit geht und daß ich in der Wahrheit leben müßte — ich konnte es nur nicht, irgend etwas hinderte mich daran. Andererseits begann ich — in dem Maße, wie ich noch gehindert war — mich für Psychotherapie zu interessieren: Meine eigene Wahrheit (meine eigene Theorie, nämlich die der Wahrheit) wurde von der psychotherapeutischen Theorie abgelöst, wobei beides auch Hand in Hand ging.
Ein Staffelstab wurde übergeben: Ich mußte meine eigene Wahrheit, meine Wahrheitstheorie aufgeben (aus bereits genannten Gründen), aber in der psychotherapeutischen Theorie war diese meine eigene Theorie recht gut aufgehoben, ja beide Theorien ähnelten sich recht, und ich konnte die psychotherapeutische Theorie übernehmen, konnte ihr vertrauen, ihr mich hingeben. Die Theorien gewisser Psychotherapeuten mußten für etwa zwanzig Jahre meine eigene Theorie ersetzten; und sie erfüllten diesen Zweck — weil sie meiner Theorie ähnelten — ziemlich gut.
Die Übernahme der psychotherapeutischen Theorie sollte und mußte natürlich die psychotherapeutische Praxis eines Tages einschließen. Daß mich das dann zu meiner eigenen Theorie zurückbringen würde, wußte ich in diesem Moment nicht.
Später, als ich tatsächlich die Psychotherapie praktizierte (als Patient) und mit ihr nicht zurechtkam, als ich bemerkte, daß sie nicht funktionierte, kam ich auf meine eigene Theorie, die ich als 16jähriger entworfen hatte (ein sehr einfacher, dennoch tiefer Entwurf), zurück.
Immer noch — die Sache mit der Liebe und dem Leben mußte in Gang kommen — brauchte ich den Angstauflöser Therapie, und zum Glück konnte ich aus der Therapie meine eigene Therapie machen; zum Glück ähnelte die dieser Therapie zugrundeliegende Theorie meiner eigenen.
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In einem gründlichen Gespräch mit meinem Therapeuten, das wir führten, nachdem meine ersten Therapieversuche gescheitert waren, ich aber dennoch die Hoffnung nicht verloren hatte, stellte sich heraus, daß unsere Theorien sogar nahezu identisch waren, auch wenn ich kaum mehr etwas mit Begriffen wie "Heilung" oder "Therapie" anfangen konnte. Auf jeden Fall war ich mit meiner eigenen Theorie bei meinem Therapeuten gut aufgehoben, konnte ich meine eigenen Ziele im Rahmen jener Therapie verfolgen.
"Genau so machen wir das", sagte mein Therapeut, als ich ihm darlegte, was ich vorhätte. Der Staffelstab war ja nicht umsonst von meiner eigenen Theorie in jene psychotherapeutische Theorie übergegangen: In ihr waren ich und meine eigene Theorie gut aufgehoben, zwischenzeitlich deponiert. Das zahlte sich jetzt aus: Psychotherapie und mein eigener Weg konnten in eins fallen.
Natürlich war das nicht irgendeine psychotherapeutische Theorie. Es gibt Hunderte von psychotherapeutischen Theorien. Die weltweit Tausenden und Millionen Menschen, die — wie ich — ihren Weg zu sich selbst zurück gehen wollen, dies aber alleine nicht schaffen und die ihren Stab übergeben müssen, die haben alle ihren eigenen Weg, alle ihre eigenen besonderen Vorstellungen und Bedürfnisse und greifen entsprechend auf eine der vielen psychotherapeutischen Theorien zurück. Sie vertrauen sich diesen an (oder sie vertrauen und folgen anderen Heilslehren oder -versprechen als den psychotherapeutischen).
Sie haben alle ihre eigenen persönlichen Anschauungen von dem, was sie tun sollten und was eine Therapie für einen Sinn haben soll, auch wenn sie aus diesen keine Bücher machen. Wenn wir uns mit Büchern beschäftigen und uns ihnen zum Teil anvertrauen, dann sollten wir nicht vergessen, daß es eigentlich so viele Bücher geben müßte, wie es Menschen gibt, auch wenn die meisten von uns sie noch nicht geschrieben haben. Jeder hat und schreibt sein eigenes, aber nur selten gedrucktes Buch.
Und so hatte auch ich "meine" psychotherapeutische Theorie, der ich folgte, bevor ich sie für mich adaptierte und weiterentwickelte, der ich mich theoretisch und praktisch anvertraute, als ich aus gewissen Gründen nicht mehr mir selber und meiner eigenen Theorie — der der Wahrheit — folgen konnte. Als meine Theorie sich für mich selbst als zu anspruchsvoll herausstellte.
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Ich mußte gewissermaßen einen Umweg nehmen. Ich kehrte nach und nach mit dem Umweg Psychotherapie auf meinen eigenen Weg zurück.
Jene psychotherapeutische Theorie und Praxis war die von Arthur Janov entwickelte Primärtheorie bzw. Primärtherapie. Heute bin ich wieder auf meinem eigenen Weg und kann meine eigene Theorie aufschreiben und meinerseits weitergeben und anderen als Staffelstab anbieten, falls Sie aus welchen Gründen auch immer ihre eigene Theorie nicht mehr oder gerade nicht zur Verfügung haben und ersatzweise auf eine andere — meine — zur Inspiration zurückgreifen müssen.
Ich hatte damals, als es darum ging, auf welchem Weg ich gehe, noch Interesse an Philosophie; ich ließ mich von meinem Verstand leiten, und — es war meine Wahrheit — das war auch richtig so. Es mußte alles logisch stimmen. Ich beschäftigte mich damals mit der Geist-Körper-Problematik. Was mich an Wilhelm Reich faszinierte, war seine Theorie der "funktionalen Identität" von Körperlichem und Geistigem, die Theorie des "energetischen Funktionalismus". Dort wurde nur das gesehen und nur danach gefragt, was den Antrieb zu was auch immer gab.
Dieser Antrieb war identisch mit dem Willen des Subjektes, er war der objektive Aspekt dessen, was sich im Subjekt als Wille, als Bedürfnis, als Wunsch manifestiert. Dieser Antrieb stand in direkter Verbindung mit der Zufriedenheit und der Ausgeglichenheit des Subjektes. In diesem Antrieb und in seiner möglichst vollständigen Ausführung, dem Gehen-Lassen, in der ungebremsten Ausstrahlung lag das, was Homöostase genannt wird: der Moment, wo alles restlos ausgeglichen ist und einen Zustand der kurzzeitigen Leere, der totalen Gelassenheit und der Zufriedenheit gefunden wird.
Warum der "objektive Aspekt dessen, was sich im Subjekt als Wille, als Bedürfnis, als Wunsch manifestiert" so wichtig sein soll, ja, wozu der überhaupt eine Rolle spielen soll, diese Frage stellte sich mir damals noch nicht.
Dieser Antrieb herrschte bei Wilhelm Reich in sämtlichen Phänomenen der Natur, und natürlich manifestierte er sich beim Menschen auch: als Gefühl; er wurde vom Menschen als Gefühl wahrgenommen. Alles, auch die menschliche Person, verstand sich als etwas innerlich Bewegtes, Getriebenes. Und man muß nur dieses Bewegende bejahen.
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Der energetische Funktionalismus faszinierte mich: Ich hatte das Bedürfnis nach einer Theorie, mit der ich alles, was ich in meinem Kopf hatte, zusammenkriegen konnte. Ich wollte wissen, wovon die Welt angetrieben wird, was der Grund allen Seins ist und wie das Sein und als was das Sein am besten zu verstehen sei. Mir ging es darum — wenn ich mich recht entsinne —, wie man die Welt erklären und alle Dinge unter einen Hut kriegen, auf welche Begriffe man sie bringen kann, was das letztliche Fundament ist, das Fundament des Fundaments.
Ich war begeistert von Reichs Theorie.
In Wilhelm Reichs energetischem Funktionalismus gab es schon keine "Dialektik" mehr, die ja bei Marx noch eine riesige Rolle spielte: Marx stellte die Hegel'sche Dialektik noch heraus und hob sie — bis in die Bezeichnung seines philosophischen Systems hinein — noch hervor. Marx hatte weder die Körper-Geist- ("Materialismus") noch die Subjekt-Objekt-Problematik gelöst: Das Subjekt sah sich in der Geschichte, also als Objekt. Man kann das auch nicht innerhalb der Philosophie lösen. Reich hat mit seinem energetischen Funktionalismus den Schritt zur Unterwindung der Dialektik getan, jedoch noch nicht zur Auflösung der Philosophie, wie es Max Stirner hundert Jahre vor ihm getan hatte. In gleichem Maße, wie Reich seine eigenen Traumata nicht verschmerzt hatte, im gleichen Maße blieb er Philosoph.
Reich blieb immer — bei aller faszinierenden Ganzheitlichkeit und bei aller Rückführung sowohl des Körperlichen als auch das Geistigen auf die Energie als deren gemeinsamen Nenner — bei der Begrifflichkeit von Körper und Geist. Wenn man sich mit der Körper-Geist-Frage beschäftigte, blieb in Reichs Theorie immer irgendwie etwas Unbefriedigendes. Etwas fehlte. Es mußte auf etwas anderes hinauslaufen. Es mußte irgendeinen Ausgang haben. Die Theorie von der "funktionalen Identität" von Körper und Geist befriedigte nicht wirklich.
Es war zwar nicht der psychologische und medizinische Aspekt von Wilhelm Reichs Theorie, der mich hauptsächlich oder besser gesagt vordergründig interessierte. Aber unterschwellig fragte ich mich bei aller Beschäftigung mit Theorien immer nach der Verbesserung meines seelischen Zustandes, ja nach der Erlangung des Heils.
Ich wußte immer, daß bei mir etwas nicht so gelaufen war, wie es hätte eigentlich laufen sollen. Das mußte irgendwie korrigiert werden. Das war mein eigentlicher Antrieb, auch wenn mir das nicht richtig bewußt war. Ich wußte damals nicht, daß ich einen "Staffelstab" in der Hand hatte.
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Eines Tages — mein Interesse war immer noch vordergründig philosophisch — bekam ich das Buch <Der Urschrei> von Arthur Janov in die Hände. Eine Freundin von mir hatte — im Gegensatz zu mir — weniger an Philosophie, sondern eher an Psychologie Interesse. Die psychologischen und psychotherapeutischen Theorien von Reich und Janov ähnelten sich, so daß sie mir — sie wußte, daß ich Reichianer war — dringend das Buch Janovs empfahl.
Obwohl es in Janovs Buch an keiner Stelle um philosophische Fragen ging, geschah nun etwas sehr Sonderbares: Meine Art des Denkens, nämlich jenes Denken, das nach dem Antrieb, nach dem Grund des Seins und danach fragte, was es mit dieser seltsamen Aufspaltung dieses Seins in körperliche und geistige Manifestationen und in Objekte und Subjekte auf sich hatte, änderte sich nun schlagartig und verschwand — und zwar über Nacht, mit einem Male. Daß Körper und Geist "funktional identisch" seien, interessierte mich plötzlich nicht mehr. Das war der eben genannte Ausgang.
Erstens interessierten mich "das Sein" und "die Natur" nicht mehr, auch wenn ich mich bis dahin höchstpersönlich als seiend, als Teil des Seins und Teil der Natur gesehen hatte und es angeblich zwischen mir und der Natur keinen Unterschied mehr gäbe (ich und die Natur waren — nach Reich — "sowohl verschieden als auch gleich").
Und zweitens hörte das philosophische Problem von Köiper und Geist — auch wenn es in einer brillanten Theorie von "funktionaler Identität" philosophisch gelöst war — ganz und gar auf, zu existieren, indem diese beiden Vokabeln einfach aus meinem Wortschatz verschwanden und erst später in einem ganz banalen und unspektakulär-unphilosophischen Sinn wieder auftauchten.
Nun gab es nach der Lektüre des "Urschreis" mit einem Male so etwas wie "Körper" und "Geist" nicht mehr, sondern nur noch "Person" und "Ich". Was bei Reich die Energie war, in die sich die Geist-Körper-Dualität aufgelöst hatte, das war bei Janov die Person, das Ich. Er sprach einfach nicht mehr von Körper oder Geist. Jedenfalls wenig; das Theoretische oder gar Philosophische spielte so gut wie keine Rolle bei ihm. Das Interesse hatte sich verlagert.
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Was oder wer z.B. friert oder hat Hunger? Mein Körper? Mein Geist? Unsinn! Ich friere, ich habe Hunger.
Das Ich war nun zu einem Sinnesorgan geworden, zum wichtigsten der Sinnesorgane. Der Existenz-Sinn oder Ich-Sinn, das Gespür für Sie selbst und Ihre Wahrheit, war der tiefste Sinn, viel tiefer als Schmecken, Sehen oder Riechen. Im Ich liefen alle Sinne zusammen.
Für einen Philosophen geben Janovs Bücher nichts her, sie bleiben mit ihrem dialektischen Physiopsychismus und ihrem psychophysischen Parallelismus weit hinter der Reich'schen Theorie zurück. Trotzdem war der "Urschrei" komischerweise für mich zunächst ein philosophisches, oder — um es mit Bernd A. Laska zu sagen — ein paraphilosophisches Buch (oder — modischer — ein postphilosophisches). Denn schlagartig war für mich die Philosophie beendet, hatte ich kein Interesse mehr an Philosophischem. Alle Philosophie — und sei sie noch so "ganzheitlich", alles erfassend, "synthetisierend", "die Gegensätze vereinend" usw. — hatte sich aufgelöst: Es ging nicht mehr darum, irgend etwas so vollständig wie möglich zu bezeichnen, zu beschreiben, zu denken, das Einigende unter den Gegensätzen zu wissen usw. Alle philosophischen Fragen hatten ihre Beantwortung gefunden: im Ich, in der Person. Im Ich liefen Körper und Geist zusammen. Das — der Ich-Sinn, das Ich-Erleben, der existentielle Sinn — war die Grundlage, der gemeinsame Nenner von Körper und Geist, nicht "die Energie". Und damit ist jede weitere philosophische Diskussion beendet.
Es hatte sich ausphilosophiert.
Denn nun war ja klar, wer dieses Ich, diese Person nur sein könne: natürlich ich selber! Welchen Sinn sollte es machen, von einem "Ich" zu sprechen, wo ich doch selber solch ein "Ich" war?
Es hatte sich also auch das Subjekt-Objekt-Problem in Luft aufgelöst: Ich hörte auf, das Ich substantivisch zu gebrauchen bzw. schrieb das Ich nur noch klein bzw. sprach nun nicht mehr von ihm in der dritten Person, sondern fortan nur noch in der ersten Person Singular: von mir selbst.
Einige Jahre später, als ich schon jedes philosophische Interesse verloren hatte, erfuhr ich, daß ein anderer Reichianer, also ein anderer Wilhelm-Reich-Schüler und -Anhänger, eine ähnliche Entwicklung durchgemacht hatte: Bernd A. Laska.
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Durch Laska lernte ich Max Stirner kennen, der schon im 19. Jahrhundert exakt die gleiche Entwicklung bzw. — als Philosoph — die gleiche Abwicklung genommen bzw. durchgemacht hatte. Diese Ent- und Abwicklung ist in Stirners Buch <Der Einzige und sein Eigentum> nachzulesen.
Hegel und Stirner gelten beide als Beender der Philosophie. Hegel im Sinne ihrer Vervollkommnung, im Sinne einer vollständigen Darstellung und Systematisierung aller Phänomene. Stirner im Sinne ihres wirklichen Endes:
"Ein Ruck tut Mir die Dienste des sorglichsten Denkens, ein Recken der Glieder schüttelt die Qual der Gedanken ab, ein Aufspringen schleudert den Alp der religiösen Welt von der Brust, ein aufjauchzendes Juchhe wirft jahrelange Lasten ab. Aber die ungeheure Bedeutung des gedankenlosen Jauchzens konnte in der langen Nacht des Denkens und Glaubens nicht erkannt werden."18)
Bernd A. Laska hatte bis 1982 die Zeitschrift <Wilhelm-Reich-Blätter> herausgegeben, deren Abonnent ich war. Es war überhaupt kein Zufall, daß es in der allerletzten Ausgabe dieser Zeitschrift (Heft 3/1982) um Arthur Janov ging. Der Reichianismus hatte sein Ende gefunden, und der beendete Reichianismus wies zu Janov.
Janov oder Stimer — das blieb sich gleich. Stirner war für Laska das, was für mich Janov war. Als ich Stirner las, waren mir dessen Gedanken nicht mehr neu. Ich nahm nur noch unspektakulär, aber emphatisch, zur Kenntnis, daß es einem anderen — nämlich Max Stirner — schon im 19. Jahrhundert so ergangen war wie mir.
Was einzig zählt, bin ich, ist meine Existenz. Und natürlich zählen auch die, mit denen ich es zu tun habe. Ich kümmere mich nur noch um mich und uns, nicht mehr um Philosophie. Daß ich manchmal nachdenke und meinen Verstand und Wörter gebrauche, das ist keine Philosophie.
Der Vollständigkeit halber sei noch gesagt, daß es bereits im 18. Jahrhundert einen Philosophen gegeben hat, der die gleiche para- oder postphilosophische Entwicklung genommen hatte: Julien Offray de La Mettrie. Auch La Mettrie habe ich durch Bernd A. Laska kennengelernt.
18) Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, Stuttgart 1972, S. 164
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Mein Interesse für Philosophie und vor allem Philosophiegeschichte war so intensiv oder systematisch auch wieder nicht; ich war schon immer zu intelligent und zu wenig intellektuell für dergleichen. La Mettrie war zunächst ein ganzheitlicher Philosoph.
Ganzheitlich-dialektische Philosophie hatte es lange vor La Mettrie und vor Hegel schon gegeben; genannt sei hier nur der mich als Jugendlichen ebenfalls faszinierende Nikolaus von Kues mit seiner "Intuition", durch die eine völlige Einheit des Gegensätzlichen erreicht wird. Es hat sicher viele andere großartige Philosophen gegeben, von denen wir nichts wissen, weil sie nicht lesen und schreiben konnten.
Auch La Mettrie hatte sich intensiv mit der Körper-Geist-Problematik auseinandergesetzt, wobei er irrigerweise für einen Materialisten gehalten wird. Die "Maschine", die La Mettries bekanntestem Buch den Titel gegeben hatte ("L'homme machine" — von La Mettrie selbst nicht als sein wichtigstes Buch bezeichnet), entspricht schon Reichs "Energie", d.h. sie ist schon die Aufhebung von Körper-Geist-Dualismus und -Dialektik.
Aber bald wurde aus dem Philosophen La Mettrie ein Paraphilosoph. Sein Hauptwerk heißt <Über das Glück oder Das höchste Gut> ("Anti-Seneca"). La Mettrie verläßt darin jede Art von Philosophie wie es Stirner und Janov nach ihm getan haben (gut, Janov war erst nie Philosoph geworden...).
Sicher hatten auch andere Philosophen zumindest Ansätze zur Paraphilosophie: Nietzsche oder Heidegger etwa, bei denen ich mich aber nicht auskenne.
Wenn ich hier die (Para)Philosophen genannt habe, so will ich damit überhaupt nicht die Lektüre von (para)philosophischen Büchern empfehlen. Man muß auch überhaupt keinen dieser (Para)Philosophen kennen, um in der Wahrheit leben zu können — ganz im Gegenteil. Philosophie und Paraphilosophie entstehen nur dort, wo die Wahrheit flöten geht; sie gehören — neben allen Formen von "Geist" — zu jenen am Anfang dieses Buches erwähnten Opiaten.
Nachdem ich nun also Janovs "Urschrei" gelesen und das Interesse an Philosophie verloren hatte, konzentrierte ich mich auf das Psychologische, vor allem das Psychotherapeutische. Aber nicht als Theorie, sondern als Technik — als Technik, ganz und gar ich selbst zu werden und als solcher in Zufriedenheit und mit der Welt eins zu sein.
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Ich hatte nun "meine" psychotherapeutische Theorie. Dieser vertraute ich meine Person zur Bewahrung an. Mein Herzblut ging auf diese über, hing an ihr; ich wurde ein überzeugter Anhänger Janovs.
Schon in der psychotherapeutischen Theorien von Wilhelm Reich hatte ich mich wiedergefunden, weil es in ihr genau darum geht, wonach auch ich suchte: zu mir zurück, wieder ich selber werden, alles Fremde an mir auflösen. Dann wurde diese Theorie von der Arthur Janovs abgelöst; Reichs Theorie war in Janovs gut aufgehoben. Janovs Theorie war umfassender, noch radikaler als Reichs.
Jetzt mußte ich — das war von Anfang an klar — den Sprung von der Theorie zur Praxis machen, jetzt war es so weit: Ich hatte die für mich beste Theorie gefunden und mußte mich nun praktisch einlassen: Das — die tatsächliche und nicht nur erträumte Rückkehr zu mir selbst — war ja der Kern meiner eigenen Theorie. Die Janovsche Theorie ähnelte zwar meiner eigenen, aber dennoch geriet die Praxis, als ich 1984 Patient an Janovs Institut Primal Europeen (Primärinstitut) in Paris wurde, zum Mißerfolg.
Dieser Mißerfolg hatte zwei verschiedene Gründe: Zum einen war ich zu ängstlich, zu vereist, zu verpanzert. Zum anderen hätte man von einer Therapie, deren theoretischer Gegenstand gerade die Gefühlsvereisung und die Widerstände gegen das Auftauen sind, eine entsprechend sanfte, einfühlsame und subtile Praxis erwarten dürfen. Janovs Praxis aber glich einem Fließband; so empfand ich es jedenfalls. Andere mögen zufrieden gewesen sein. Mein eigener Therapeut ist sicherlich Beispiel eines primärtherapeutischen Erfolgs. Aber andere Patienten, die ich kennengelernt habe, sind genau so enttäuscht worden wie ich. Manch einer wird nicht mehr am Leben sein.
Ich habe einen jungen Mann kennengelernt, der unter schweren Bedingungen das nicht geringe Geld für eine Therapie an Janovs Institut in Los Angeles aufgebracht hat (plus Reisekosten und die Lebenskosten dort), bei dem aber — wie bei mir — in der Praxis rein gar nichts passiert ist. Nichts.
Ich habe keinen Einblick in Statistiken, aber die Erfolgsrate muß weit unter der von Janov behaupteten liegen, und sicher verschweigt Janov schwerste Mißerfolge. Nun kann man ja den Patienten den Vorwurf machen, ihr Maul nicht aufgemacht zu haben. Aber nach der Lektüre Janovscher Bücher mußte man — auch und gerade als extrem Introvertierter — die Hoffnung bekommen, in seiner Praxis gut aufgehoben zu sein.
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Ich denke heute, daß selbst Autisten ein Hilfsangebot ohne Heilsversprechen gemacht werden kann, ja daß Heilsversprechen schädlich, aber auch unanständig sind. Gerade dann wird die Praxis viel subtiler — so subtil, wie sie angesichts schwerer Traumata sein muß.
Die therapeutische Praxis war für mich also ein totaler Flop. Damit war die Theorie in Frage gestellt. Janov war ohne Zweifel auf dem richtigen Weg, aber es gibt einen ganz entscheidenden und riesigen Fehler in seiner Theorie und Praxis: Er stellt nicht die Wahrheit in den Mittelpunkt. Natürlich weiß Janov, was wahre und was unwahre Gefühle sind. Ein Großteil seiner Schriften beschäftigt sich mit dem Thema der unechten, von den Patienten gespielten Gefühle. Das alles hätte er sich sparen können, wenn er nicht das Gefühl und den Schmerz, sondern die Wahrheit in den Mittelpunkt seiner Theorie gestellt hätte. Und seine Praxis wäre erfolgreicher geworden.
Janov schreibt: "Das Herausfinden und Entschärfen sekundärer Abwehrformen ist der heikelste und schwierigste Aspekt der Primärtherapie."19)
Wenn die Wahrheit in den theoretischen und praktischen Mittelpunkt gestellt wird, fallen diese Probleme weg. In der Wahrsagerei gibt es keine "Abwehr", die der Wahrheitsbegleiter "herausfinden und entschärfen" oder mit der er sich überhaupt befassen müßte. Der Kunde ist sein alleiniger Kompaß. Er — der Wahrsager — will nur seine Wahrheit sagen und sein, will von Anfang an nichts anderes als er selbst sein oder wieder werden. Wenn er Hemmungen, Verklemmungen und Ängste ("Widerstände") an sich bemerkt, die ihn dabei stören, so drückt er diese als Wahrheit aus und unterwindet sie. "Hemmung" und "Verklemmung" sind Begriffe der Subjektivität; "Abwehr" und "Widerstände" solche der Objektivität. In der Wahrsagerei geht es nur um das Subjekt und seine Wahrheit. Sowie und solange wir "objektiv" an unseren Kunden herangehen, halten wir ihn in der Entfremdung. An uns als Bedienstete der Wahrsagerei ist es nur, den Kunden zu ermutigen, wahr zu sein und immer mit seiner Wahrheit mitzugehen. Und wir müssen für die äußeren Bedingungen einer reibungslosen und einwandfreien Stunde der Wahrheit sorgen: keine Störung, Polsterung, Schalldichte usw.
Das, was bei Janov "Abwehr" heißt, heißt bei uns schlicht "Unzufriedenheit". Der Kunde wird bei uns lediglich zu allem ermutigt. Alles ist seine Wahrheit. Sollte sich eine Wahrheit als "Abwehr" he-
19) Arthur Janov, Gefangen im Schmerz, Frankfurt am Main 1981, S. 99
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rausstellen, dann muß sich das früher oder später als Unzufriedenheit äußern. Dann revidiert der Kunde seine Wahrheit und wandelt sie um.
Bei Janov heißt das Ziel Bewußtsein und Real-Sein. Das entspricht unserer Wahrheit. Aber der Weg dorthin lautet bei ihm, zu fühlen, vorzugsweise Schmerz. Am Anfang hat er sogar seine Patienten nach Mama und Papa rufen lassen. Nicht selten habe ich beobachtet, daß Janovs Patienten dessen Begrifflichkeit übernommen und sich ihm in ihrer Heilserwartung angepaßt haben. Bei uns lautet der Weg zur Wahrheit: Wahrheit. Heilserwartungen gibt es in der Wahrsagerei nicht, und auch keine Begriffe, die der Kunde nachbeten könnte. Der Weg heißt Wahrheit: sofort. Zumindest das, was von ihr übrig geblieben ist. Aber es ist, solange wir leben, immer etwas von ihr noch da. Diese Wahrheit mag gefühlvoll und auch schmerzlich, also "heilsam" sein, aber es ist ein großer Unterschied, den Kunden aufzufordern, zu fühlen, oder ihn zu ermutigen, wahr zu sein. Ich muß von Anfang an mich selbst entdecken, wenn ich mich verloren habe, nicht meine Gefühle. Freilich bestehe ich hauptsächlich aus Gefühlen, aber wenn ich mich auf Gefühle konzentriere, laufe ich Gefahr, neben mir zu sein und unechte Gefühle zu haben.
Durch und in der Wahrheit werde ich zum Subjekt, zur Person, zu mir selber. Bei Janov bin ich noch Objekt meiner selbst ("real"), stehen meine Gefühle noch außerhalb meiner selbst; in meiner Theorie und Praxis bin ich nur noch Subjekt ("wahr"). Wenn es so etwas wie "Identität" gibt, dann hat die eine einzige Grundlage: die Wahrheit: das, was die Person von sich wahrnimmt.
Ein Leidender schreibt in einem Internetforum, wo sich an Primärtherapie Interessierte austauschen und gegenseitig helfen:
"Ich möchte an meine Primärschmerzen ran, doch ist das so schwer. Ich bin durch meine Depression in einem dauernden Nichts-Fühlen. Wenn ich mich nicht ablenke und den ganzen Tag im Bett verbringe und sogar noch nachforsche und mein Unbewußtes befrage, was hinter der Depression liegt, dann passiert so gut wie überhaupt nix. Als wolle sich alles vehement wehren, die Gefühle rauszulassen. Ich komme mir vor, wie in einer Glasglocke. Mein Kopf sagt mir zwar, daß mich meine Mutter damals wahrscheinlich sträflich vernachlässigt hat, doch komme ich an das Gefühl nicht ran. Kann mir jemand helfen, endlich meine Urschmerzen zu fühlen? Depressiv arbeiten zu gehen ist nämlich ein einziges sich hin und her schleppen."
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Wenn dieser Leidende in die Wahrsagerei käme und keine primärtheoretische Vorbildung hätte, würde er nur seine Existenz in einer Glasglocke beklagen. Er wäre von vornherein — ohne jede Beschäftigung mit "Primärschmerzen", der "wahrscheinlich sträflichen Vernachlässigung durch seine Mutter" usw. — auf sich selber verwiesen. Nur aus dem Glasglocken-Gefühl heraus, aus dieser Wahrheit, kann seine Identität wachsen.
In der Erkenntnis, daß Janov sich das Problem der unechten Gefühle, die seine therapeutische Praxis zu Mißerfolgen führte, hätte sparen können, wenn er nicht das Gefühl und den Schmerz, sondern die Wahrheit in den Mittelpunkt seiner Theorie gestellt hätte, liegt der entscheidende Fortschritt, die wesentliche Weiterentwicklung der Janovschen Theorie und Praxis, und man kann deswegen von der Dreierfolge Reich-Janov-Töpfer sprechen. Freilich wird bei dieser Dreierfolge der Rahmen von Psychotherapie und überhaupt Wissenschaft gesprengt und verlassen.
Ich war — wollte ich mir treu bleiben — nach dem Desaster an Janovs Institut gezwungen, mir meine eigenen Gedanken zu machen, meine eigene Theorie zu entwerfen, neu zu entwerfen — wieder hervorzukramen. Ich kam wieder auf meine alte Theorie, die des 16jährigen, zurück: Nur die Wahrheit "heilt". Ich schreibe "heilt" in Anführungszeichen, weil ich an keine Heilung mehr glaube, weil es "Heilung" inzwischen in meiner Theorie nicht mehr gibt. Als 16jähriger hatte ich übrigens noch nicht von "Heilung" gesprochen, das kam später.
Der Satz muß streng genommen lauten: Nur die Wahrheit ist die Wahrheit. Nur wer sie lebt, ist er selber; nur wer in der Wahrheit lebt, lebt. Das ganze könnte man — im Stile irgendwelcher Gurus — noch endlos weiter vereinfachen: Nur wer ist, ist usw. Heilung spielt letzten Endes keine Rolle, es gibt sie letztlich nicht. "Heilung" ist nur eine nach einer Entfremdung entstandene Hoffnung. Gleichzeitig ist sie ein von außen herangetragener Druck, sich gemäß der Maschinerie zu verändern — also eine weitere Entfremdung.
Wenn — wie im Kapitel "Verletzung und Trauma" ausgeführt — eine unverschmerzt gebliebene Verletzung eine teilweise oder ganze Vernichtung ist, so kann alles, was infolge dieser Vernichtung geschieht — Heilserwartung — auch nur nichts sein.
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Heilung gibt es nicht. Sie ist Opium, Phantasie, Ersatz, aber deshalb noch nichts Wirkliches.
Solange wir Opium als etwas Wirkliches betrachten, ändert sich an uns und unserer Gesellschaft nicht das geringste. Folgendes passiert, wenn wir Drogen aufnehmen (Alkohol, Nikotin, Kokain usw.) oder in unserem Körper entwickeln (Phantasien, Fetische, Geist usw.): Wir verändern mit ihnen unsere Wahrnehmung (wollen unsere Wahrheit außer Kraft setzen). Unser Körper aber läßt sich nicht außer Kraft setzen. Wir merken nichts mehr (oder nur phantasiertes Wohlsein), wenn wir uns besoffen oder aufgrund mangelnder Aufmerksamkeit in der Kälte aufhalten (zu wenig Wahrheit). Aber am nächsten Tag liegen wir vielleicht mit einer schrecklichen "Krankheit" darnieder, weil wir gar nicht die nötigen Abwehrstoffe gegen die Kälte hatten, oder die Drogen unser Immunsystem außer Kraft setzten: Unser Körper reagiert bzw. wir reagieren auf einer tieferen Ebene. Opiate sind Nichts und vernichten uns immer weiter.
"Heilung" und "Krankheit" markieren einen Zwischenschritt in der Entwicklung des Menschen, nur eine gewisse Etappe. Wenn man genug Fühlung mit sich selbst hat und seine Wahrheit lebt, verschwindet der Begriff Heilung.
Heute, mit Einführung der Wahrsagereien, kann die Etappe "Heilung" ausgelassen werden, kann sie für unterwunden erklärt werden. Sie stellt nur noch eine Falle dar: einen Fluchtpunkt vor der Wahrheit. "Heilung" bringt Sie auf Abwege, lieber Leser; Sie sollten gleich in die Wahrheit, nichts als die Wahrheit gehen.
Ich bin nur noch ich selber, ich interessiere mich nicht mehr für das, was ich bin. Ja, mich gibt es gar nicht mehr, ich habe mich vergessen, es interessiert mich nicht mehr, was und wer ich bin; ich sehe nur noch zu, wie ich etwas zu essen kriege, einigermaßen zufrieden bin und daß mir niemand auf die Nerven geht.
Ich bin heute kein bißchen mystisch mehr. "Heilung" ist aus meinem Kopf, meinem Vokabular verschwunden, weil ich sie nicht mehr brauche. Aber das heißt nicht, daß Sie — falls Sie sich ein Problem sind — sie heute noch brauchen.
Es gibt jetzt etwas Besseres als "Heilung". Sie müssen nicht mehr "heile" oder "ganz" werden wollen — sie können jetzt gleich wahr und Sie selber werden.
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Wenn mir die Janovsche Theorie und Praxis letztlich doch nicht entsprochen hat, so konnte daraus nur folgen, daß ich meine eigene Theorie, meinen eigenen Weg wieder hervorhole. Diese Theorie habe ich jetzt aufgeschrieben. Es ist meine ureigenste Theorie, sie ist das Ergebnis meines eigenen Heilungsversuches.
Aber wenn diese Theorie meine ureigenste, nur auf mich anwendbar ist und nur für mich Gültigkeit hat, so kann sie vielleicht doch eine Hilfestellung für jemand sein, der seine eigene Theorie, seine eigene Wahrheit, seinen eigenen Weg verloren hat. Wenn es nämlich keine Heilung mehr gibt, dann sehr wohl die Möglichkeit der Verbesserung Ihres Zustandes hin zu mehr Zufriedenheit. Vielleicht kann meine Theorie — und die angebotene Praxis — eine Hilfe darstellen, auf den eigenen Weg zurückzufinden. Vielleicht bedarf jemand dieser Hilfe, so wie ich der Hilfe in Form von Psychotherapie bedurfte.
Mein Angebot lautet nicht mehr "Heilung" oder Psychotherapie. Mein Angebot geht über Psychotherapie und Heilung hinaus, meine Theorie ist — obwohl ganz und gar einfach — etwas völlig Neues. Sie verläßt jede Art Wissenschaft und jede Art Mystik, und Religion sowieso. Meine Theorie hat mit Wissenschaft und Religion — die im Grunde ein und dasselbe sind — nichts mehr zu tun. Aber wenn jemand sie und mein praktisches Angebot für sich auf seinem Weg zurück zu sich selber braucht, wenn er sie dafür braucht, seine Not zu wenden, wenn er mein Angebot annimmt, um wieder er selber zu werden, dann mag er in meiner Theorie eine "Heilslehre" sehen, dann mag er meine Theorie und die von mir ermöglichte Praxis als Etappe auf seinem Weg der Heilung betrachten. Ich kann ihn nicht heilen, und erst recht verspreche ich keine Heilung. Für mich ist auch nicht "jeder sein eigner Heiler". Jeder kann nur er selber sein.
Das Zeitalter der Psychotherapie ist vorbei. Wie überhaupt das Zeitalter der Wissenschaft vorbei ist. Jetzt kommt — für die, die es wollen — eine Zeit, wo man alles so sagt, wie man es empfindet, wie es einem vorkommt, erscheint: von innen heraus betrachtet, nicht aus der eingebildeten Sicht eines Äußeren — Gott, Natur, Materie, Geist — heraus. Diese innere Sicht und die daraus resultierende Sprache nannten die Philosophen, die Wissenschaftler des Denkens, Phänomenologie. Wir brauchen aber diese Draufsicht nicht mehr. Für uns gibt es nur noch "Phänomenologie".
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Und da uns der Kontrast dazu fehlt, und wir sie für keine Unterscheidung mehr brauchen, hat diese Bezeichnung keinen Sinn mehr für uns und wir verlieren auch sie aus unserem Vokabular.
Das, was an den verschiedenen Psychotherapien hilfreich und für den Prozeß der Wiederselbstwerdung förderlich war, ist, daß der Patient in ihnen — mal mehr, mal weniger, aber überall etwas — die ersten Schritte in die Richtung gehen konnte, mehr er selber zu sein, d.h. daß er teilweise seine Wahrheit, seine wahren Gefühle annehmen konnte. Wenn die Wahrheit als das "Heilsame", das "Heilmittel" erkannt wird, das allen erfolgreichen Selbstwerdungen zugrunde liegt, dann ist es folgerichtig, daß es nur um die Wahrheit gehen sollte, wenn der Entfremdete wieder er selber werden soll. Dann kann man gar nicht genug Wahrheit haben, und dann sollte einzig die Wahrheit, das wahre Sein des Hilfesuchenden in den Mittelpunkt des Interesses stellen.
Sämtliche Psychotherapien stellen aber verschiedene andere Dinge in den Mittelpunkt des Interesses. Es gibt keine, die deutlich sagt, daß es um die Wahrheit geht. Viele werden dies zwar voraussetzen, aber bei der Erreichung des für die jeweilige Therapie Wichtigen bleibt die Wahrheit zu einem großen Teil auf der Strecke, geht sie unter. Das im Zentrum der Therapien Stehende ist "die Kindheit", "die Vergangenheit", "die Sexualität", "der Schmerz" usw.
Anderen Therapien sind von vornherein nur das Verhalten und das Funktionieren wichtig; bei ihnen kommt die Wahrheit des Patienten nicht einmal vor; doch von diesen rede ich hier nicht einmal. Ich kritisiere hier lediglich die besten Psychotherapien, die der sog. humanistischen Psychologie. Doch selbst diese geben mit dem, was sie ins Zentrum ihres Interesses stellen, ein bestimmtes Verhalten des Patienten vor. Dieser hat ein Hilfsbedürfnis, er kommt allein einfach nicht mehr weiter. In seiner Not wendet er sich an Berufshelfer und -heiler. Diese sagen ihm nicht vorrangig, klar und eindeutig, daß er lernen muß, er selber zu sein, um weniger Streß zu haben.
Der Hilfesuchende ergreift in seiner Not die ihm gebotenen Strohhalme und folgt den Vorgaben der Psychotherapien; er folgt den Anweisungen, die die Therapeuten für richtig halten. Nun verhält sich der Hilfesuchende entsprechend den Worten seines Therapeuten oder des therapeutischen Theoretikers, und so bleibt er sich selber fremd.
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Erst der Helfende, der keine Vorgabe macht, der keine Anweisungen ausspricht, der kein Heilsversprechen gibt, der der Heilserwartung des Hilfesuchenden von Anfang an nicht entspricht und den Hilfesuchenden immer wieder nur auf sich selbst und seine Wahrheit verweist oder an seine wahren Gefühle erinnert, der dem Hilfsbedürftigen nicht mit Techniken begegnet, erst dieser Helfende ist wirklich im Sinne der Selbstwerdung hilfreich.
Die Selbstwerdung ist ein möglicherweise sehr schmerzlicher Prozeß. Dieser Prozeß ist um so stockender, je mehr Ausweichmanöver, Ausflüchte, Halbwahrheiten, Fetische usw. vorhanden sind, die die Psychotherapeuten mit ihren Vorgaben und Heilsversprechen bieten. Jeder bessere psychotherapeutische Prozeß führt in Ihre Richtung, zu Ihnen selbst, aber keiner wirklich und endgültig. Der Fortschritt, der mit meiner Theorie und Praxis getan ist, verläßt das Gebiet und das Paradigma Psychotherapie.
Viele haben eine zu große Angst, sich auf sich und auf die Liebe einzulassen, sie haben eine noch größere Angst als ich, obwohl ich mir keinen größeren Angsthasen vorstellen kann als der ich gewesen bin. Diese werden nie wieder sie selbst sein und nie wieder auf ihren eigenen Weg zurückkommen, weil ihre Angst zu groß ist.
Vielleicht liegt das Besondere in meinem Hilfsangebot — das, was es unter Hunderten von Hilfsangeboten auszeichnet — darin, daß es ein Hilfsangebot für besonders ängstliche Menschen und gleichzeitig sehr radikal ist. Vielleicht entsprechen erst meine Theorie und mein Hilfsangebot der abgründigen Angst der Menschen vor dem Leben. Vielleicht entsprechen sie noch mehr dieser panischen, endlosen und unbeschreiblichen Angst der Menschen vor sich selber und entsprechen noch mehr dem Eisklotz, in dem die Menschen gefangen sind, als jene Theorien und Praktiken von Wilhelm Reich und Arthur Janov, die doch schon sehr subtil, einfühlsam und genau waren.
Ohne die Vorarbeit, ohne das Wirken von Wilhelm Reich und Arthur Janov, logischerweise auch ohne deren Vorgänger Sigmund Freud und andere Freud-Nachfolger wie etwa Fritz Perls, die bereits selbst paradigmatische Wechsel vollzogen haben, wäre meine Theorie, die eine grundsätzlich neue Theorie ist, nicht entstanden. Die guten Ansätze des frühen Freud (die durchaus der Wahrsagerei entsprachen) gingen bald im Gelaber sowohl der Psychoanalytiker als auch ihrer
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Patienten verloren. Ich kann und will bei aller Neuerung die Tradition, in der ich stehe, nicht verleugnen und empfinde im Gegenteil neben der Dankbarkeit für den Mut und die Schaffenskraft der genannten Männer Stolz darauf, mich zu ihnen zählen zu dürfen. Gern möchte ich meinerseits, daß andere aus meinem Mut und meiner Schaffenskraft Nutzen für sich ziehen.
Der Begriff "Gestalt" aus der Gestaltpsychologie ähnelt meiner "jeweiligen Wahrheit", ist aber Philosophie und lenkt vom Wahren ab.
Die erwähnte Tradition, in der ich stehe, ist die der radikalen Aufklärung, die von Männern wie Julien Offray de La Mettrie, Max Stirner und — in unserer Zeit — Bernd A. Laska personifiziert wird. Möge der Geist dieser Tradition trotz aller Mängel in diesem Buch lebendig sein und dazu beitragen, die Fackel der Aufklärung — das Erkennen der Wahrheit, wie sie einfach und ungeschminkt ist —, die immer wieder unter der Macht von Eltern, die ihren Kindern ihre Wahrheit ausreden und ausrotten, auszugehen droht, in die nächste Generation zu tragen: zu deren Wohl.
Die fließende Wahrheit, das ist das, was in den Weisheitslehren des Ostens als Energie bezeichnet wird, was aber unter der Energie steckt. Es ist an der Zeit, der östlichen Weisheit, die das Subjekt nicht wahrnimmt und es ausschließt, die Person, die subjektive Wahrnehmung, die Würde des Individuums, das heißt die westliche und nordische Weisheit entgegenzuhalten. Auf die "Energie" der Asiaten antworten wir Europäer mit "Wahrheit". Die östliche Energie, die in uns fließt, ist unsere Wahrheit. Es ist Zeit, den europäischen Rationalismus zu radikalisieren und aus ihm Weisheit zu machen: unsere Emotionen als rational zu betrachten. Wir benötigen dann nicht länger das Pendant zu verflachtem, rein kognitivem Rationalismus, zu Intellektualität und Mechanismus. In allem ist Vernunft, Wahrheit, nicht nur im Denken. Das darf nicht zu dem Mißverständnis führen, daß wir in Emotionen denken, daß wir über Gefühle sprechen. Nein, Gefühle werden gefühlt, sie haben ihre eigene "Sprache". Instinkte und Interessen werden in der Tat gelebt und vertreten.
Die Engländer haben für "Aufklärung" und "Erleuchtung" nur ein Wort: enlightenment. Darin liegt etwas Wunderbares, und es deutet daraufhin, daß diese beiden Dinge tatsächlich wieder in eins fallen können.
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Das Wesentliche ist gesagt; worauf es ankommt und worum es geht, ist deutlich genug gemacht worden. Es wird ausreichen, um manche Menschen anzusprechen, sie zu inspirieren und ihnen vielleicht zu helfen. Einer der Zwecke dieses Buches — die Unterbreitung eines Hilfsangebotes — sollte trotz aller Mängel erfüllt sein.
Wer sich also in gleichem Maße vollständig innerlich befreien will wie er aber ängstlich ist, der ist bei uns genau an der richtigen Stelle.
Vielleicht muß dem Hilfsbedürftigen noch mehr Zeit, Raum und Ermutigung zukommen als bisher geschehen. Vielleicht braucht er noch mehr Zeit und die Möglichkeit, sich bei vollem Bewußtsein ganz zu verstecken, einzuigein, zu verkriechen und seine Angst haben zu dürfen, sich so ängstlich und eisig wahr- und anzunehmen, wie er nun einmal ist. Vielleicht braucht er es, sich so ängstlich und eisig sein zu lassen. Und dieses Sein, dem muß ein ganz besonderer Platz gegeben werden. Erst bei einem dicken Schutz und unter größter Sicherheit können verängstigte Menschen verängstigt sein und das geschehen lassen. Bis dahin fühlen sie so gut wie gar nichts. Ich erinnere mich daran, wie mir mein Therapeut sagte, daß fast alle seine Patienten ihn schon einmal vor lauter Angst aus dem Therapiezimmer geschickt haben, obwohl das schon sehr dunkel war und sie sich im Verborgenen fühlen konnten. Die Angst ist dermaßen schrecklich und gigantisch...
Mit diesem Sein (dem Ängstlich-Sein) ist der erste Schritt getan, später ganz man selber zu sein, in allen Gefühlen, auch denen, die Ihnen Freude bringen. Ängstlich sein zu dürfen, panische Angst haben zu dürfen und zu merken, daß man nicht an ihr stirbt, wenn man sich der Angst solcherart vorsichtig öffnet, ist der erste Schritt zum Auftauen des Eises.
Unter der Angst und unter dem Eis warten die anderen Dinge darauf, erweckt zu werden: die wärmeren, lebendigeren, freudvolleren. Dies ist für einige vielleicht erst im Rahmen meines Angebotes möglich. Wie man das nennen wird, was die Psychotherapie ablösen wird, dazu ist mir noch nichts eingefallen. Es gibt nur Bezeichnungen für die Dienstleistungen, die aus meinem Wissen heraus erwachsen und die ich Hilfesuchenden anbiete: Wahrsagerei, Zuhördienst, Abnahmestelle für seelisch belastendes Material und Selbstwerdungsstelle.
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Daß ich nicht mehr an Heilung glaube, heißt, wie schon gesagt, nicht, daß ich den Glauben an die Verbesserung unseres Zustandes und vor allem den starken und praktischen Willen, eine solche Verbesserung bis hin zu heiterer Entspanntheit zu erreichen, verloren hätte. Ich habe es anfangs sehr gut gefunden, als Arthur Janov auf "Heilung" bestand und diesen Begriff, der aus dem Vokabular der Therapeuten verschwunden war, ausdrücklich wieder einführte. Wenn ich die Begriffe "Heil" und "Heilung" nicht mehr verwende, dann im Sinne des Darüber-hinaus-Gehens, im Sinne eines Mehr. Wenn Sie so wollen, habe ich die Lehre vom Heil radikalisiert und auf die Spitze getrieben, habe ich sowohl eine Anti- als auch eine Super-Heilslehre geschrieben.
Ich verachte und hasse all jene, die uns ausreden wollen, daß es ein Heil in dem Sinne, daß wir wieder in den Vollbesitz unseres Bewußtseins und unserer Kräfte kommen, nicht gibt. Die, wenn sie seelische Nöte und eine entsprechende Problematik anerkennen müssen, diese Nöte nur durch chemische Eingriffe, durch Manipulierungen und Konditionierungen an der Würde des Einzelnen vorbei aus der Welt glauben räumen zu können, d.h. die das nach Erlösung schreiende Leid unterdrücken und ihm den Trost verwehren und vorenthalten.
Diese Leute lachten nur höhnisch, wenn vom Heil und von der Heilung die Rede war, und ich habe nichts mit ihnen gemein. Diese Leute lechzen dermaßen nach der Erlösung, daß sie winzige chemische Elemente mit ihrer kosmischen Heilserwartung befrachten: eine Heilserwartung, von der sie aber jeden Anflug von Bewußtsein panikartig verscheuchen. Wie schwarze Löcher saugen sie jede kleine Nachricht aus der Wissenschaft auf, die ihnen das Heil bringen könnte. Keine Pille aber kann Sie erlösen, nur die Anerkennung Ihrer selbst und die volle Übernahme der Verantwortung für Sie selbst, so wie Sie wirklich sind. Wenn das "Heil" etwas Mystisches und Irreales ist, dann sind es die "Gene" erst recht, dann sind die "biochemischen Determinanten" die lächerlichsten abergläubigen Hirngespinste.
Daß das Heil auch nur ein Hirngespinst ist, das zu kapieren, müßten jene Biochemie-Ingenieure der Seele ganze Himalajas an Schmarren und Sparren abtragen.
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Während ich mich von Janovs Primärtheorie löste, hatte ich eine eigene Heilslehre verfaßt, in der freilich schon die Wahrheit — und nicht, wie bei Janov, das Gefühl — als das entscheidende Element, als das einzige wirkliche "Heilmittel" ihren Platz hatte: Diese Heilslehre hieß "Wahrheitstherapie".
Heute ist die Wahrheit für mich kein Mittel mehr, wozu auch immer. Aus dieser Heilslehre habe ich — überarbeitet und begrifflich angepaßt — einige Kapitel in das vorliegende Buch übernehmen können.
Im folgenden dokumentiere ich einige Sätze aus jener Heilslehre, um den Paradigmenwechsel anschaulich und nachvollziehbar zu machen und um jedem Mißverständnis vorzubeugen, ich würde das Heil nicht würdigen:
Alles Unheil ist das Aufspalten, das Zerreißen des Ganzen, sind die inneren Konflikte zwischen Anlage und Erzwungenem: die Verzweiflung.
Das Unheil besteht im Bremsen, im Drängen gegen die Flußrichtung und gegen die Kraft der Wassermassen, der Lebensenergie; darin, gegen den Fluß schwimmen zu wollen; darin, sich nicht so nehmen zu können, wie man ist, sich nicht zu akzeptieren; darin, sich nicht wahrhaben zu wollen oder zu können und im Verdrängen dessen, das Sie ausmacht, im Verdrängen Ihrer Interessen und Bedürfnisse. Das Unheil besteht im Lügen und Leugnen. Das Unheil ist Verdrängung. Verdrängung ist sowohl Ursache des Unheils als auch das aktuelle Unheil.
Das Heil ist die Wahrheit, und die Lüge ist das Unheil. Lügen heißt, mich zerreißen und aufspalten: einen Teil von mir als quasi nicht-existent in die Ecke stellen und einen anderen Teil nach vorn schieben, auf das Podest stellen oder erfinden. Verdrängen heißt, einen Teil aus dem Ganzen, dem Heilen, zu drängen. Dadurch wird aus dem Ganzen das Unganze und Kaputte, aus dem Heil das Unheil. Zur Verdrängung gezwungen werden heißt, kaputt gemacht zu werden. Verdrängen heißt, mich selbst kaputt zu machen. Mich selbst zu heilen heißt die Verdrängung zu beenden, nicht mehr zu lügen und zu verleugnen und die Wahrheit anzuerkennen.
Unser Begriff des Heilens ist der der Kinder: "heile machen": d.h. ganz (engl, "whole") machen, in Ordnung und wieder zum Funktionieren bringen, von Störungen befreien. Wer geheilt ist, hat das Heil, d.h. ihm geht es gut, er kann sich von der Welt nehmen, was er braucht und fühlt sich wohl ("wohl" und "voll" hängen z.B. auch wieder mit "whole" zusammen. "Heilig" — zum Heiligen als dem Heilersatz kommen wir später — heißt auf englisch "holy".)
Heilung heißt Aufs-Ganze-Gehen: Etwas voll und ganz und bei vollem Bewußtsein zu durchleben. Wir peilen das Ganze an, wir gehen auf es zu und in es hinein.
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Das Heil ist die Zufriedenheit. Und Wiedererlangung der Zufriedenheit ist Ziel der Heilung.
Im Wort "Heil" kommt die uralte Suche und die ewige Sehnsucht der Menschen nach einem bestimmten letztlichen, einem idealen Zustand zum Ausdruck; einer Suche und einem Streben nach Erfüllung, Völle, Vollständigkeit, Ganzheit, Unversehrtheit, Zufriedenheit und Gesundheit, kurz: nach dem Heil. Dieser letztliche Zustand ist auch der des Bodens in dir, deine eigentliche und wahre Person, unter der es nichts anderes gibt.
Diese Sehnsucht selber ist die normalste und einfachste Sache der Welt: Jedes Lebewesen will, daß es ihm so gut wie möglich geht; daß es genau das bekommt, was es braucht: so ist das Leben angelegt. Der Baum zieht das aus dem Boden, was er braucht, und er streckt dazu seine Wurzeln aus. Bekommt er genug Nährstoffe, gedeiht er. Das Heil ist, genau das zu bekommen — nicht weniger und nicht mehr —, was das Lebewesen braucht. Das ist der ideale und optimale Zustand: Jetzt ist das Lebewesen ganz heile. Nach diesem Zustand strebt jedes Lebewesen, also auch der Mensch. Er nennt es das Heil.
Ist diese Suche bewußt, d.h. strebt das Lebewesen direkt nach der Befriedigung und weiß es, was es will, ist es heile. Weiß es das nicht, ahnt es nur undeutlich den angestrebten Zustand, kann aber nicht sagen, was es will, ist der Wunsch nach direkter, persönlicher, subjektiver, körperlich-seelischer Zufriedenheit nicht bewußt, winkt das Heil aus weiter Ferne: als Heiligkeit. Im Paradies, also dort, wo wir zufrieden sind, gibt es nichts Heiliges.
Den Platz des Begriffes "heilig" nimmt heute der Begriff "Heil" ein. "Heil" ist der schönste und tiefste der Gespinste, aber eben doch ein Gespinst, eine Flucht. Die Flucht vor Ihnen selber. "Heil" ist die Draufsicht, macht Sie immer zum Objekt. Sie flüchten aus Ihnen heraus in ein Objekt, leugnen Ihre Verantwortung für sich selbst, wollen nicht frei und eigen sein.
Der Begriff "Wohl", der den Begriff "Heil" ersetzt, kommt aus Ihrer Binnensicht, aus Ihnen selbst, wie Sie sich selbst — als Subjekt, als Person — wahrnehmen. Sie fühlen sich "wohl", nicht "heil".
Es geht aber auch um kein Wohl, es geht nur um die Wahrheit. Wenn sie sich gut anfühlt — um so besser. Wenn nicht — Grund, Ihre Wahrheit zu ändern, indem Sie sich in eine andere, neue Lage versetzen. Wenn Sie sich dann immer noch unwohl fühlen, haben Sie Pech, dann ist das Schicksal.
Die vorliegende Anti-Heilslehre, die Theorie von der Wahrheit, ist nichts anderes als ihr eigenes Herz, lieber Leser, Ihre eigene innerste Wahrheit.
Und diese Wahrheit, die Theorie und Praxis des Weges zu Ihnen selbst, die ist in meiner Theorie, auch wenn diese keine Heilslehre mehr ist, sicherlich einigermaßen gut aufgehoben.
Im Rahmen der von mir angebotenen Praxis kann, wenn er es denn benötigt und ihm keine andere Möglichkeit bleibt, jeder Schritte zu sich selbst zurücklegen, kann jeder ein Stück zu seiner eigenen Wahrheit, zu seinem eigenen Herzen, zu seiner eigenen Theorie zurückfinden, ja, die Praxis — im doppelten Wortsinn — ist nur der nötige Raum dazu.
Hier finden Sie — falls Sie es brauchen — stundenlange warme, dunkle, höchst sensible Aufmerksamkeit. Damit Sie sich selbst zur Kenntnis nehmen und verschmerzen können. Damit Sie im Schmerz endlich die Liebe und das, was Sie ausfüllt, entdecken können. Er kann dies selbstverständlich auch auf eine andere Art, auf seine eigene, besondere Art jenseits der Wahrsagerei tun.
Vielleicht hat er die Kraft, es alleine zu schaffen.
Vielleicht hat er Freunde oder Familienangehörige, die ihm helfen.
Vielleicht reicht ihm ein Tagebuch.
Vielleicht braucht er keine Hilfe.
Vielleicht muß er nicht die Angst auflösen wie ich einst.
Vielleicht hat er keine so große Angst.
Vielleicht braucht er keine Unterstützung.
Vielleicht braucht er andere Dinge; wir sind alle verschieden.
Vielleicht will er auch nicht ganz zu sich und seinem Herzen, zu seinen intimsten Dingen zurück.
Vielleicht will er nicht die ganze Wahrheit.
Vielleicht aber findet er die Liebe seines Lebens, mit und in der er sich öffnet und sein Herz und sich selbst und der Liebe offen legt. Denn: Beides — der Weg zu sich zurück und die Liebe — sind eins.
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Ende
deto-2014: Dieses schöne Buch wird nun auch bald 10 Jahre alt. Glückwunsch, Peter!
Peter Töpfer Die Wahrheit Sie sagen und in ihr leben Ein posttherapeutisches Manifest