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3.  Der Soldatenstaat Sparta 

Toynbee-1950

 

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Als Plato seine Utopie schrieb, ließ er sich von den wirklichen Einrichtungen des spartanischen Stadtstaates anregen. Dieses Gemeinwesen war die stärkste unter den Großmächten der hellenischen Welt seiner Zeit. Wenn wir die Ursprünge des spartanischen Systems betrachten, sehen wir, daß die Spartaner vor der Notwendigkeit standen, ihren eigenen Gewaltstreich zu vollbringen und für diese Aufgabe ihre »besondere Einrichtung« zu schaffen, da sie in einem früheren Stadium ihrer Geschichte eine abweichende Richtung eingeschlagen hatten. Die Spartaner verließen an einem bestimmten Punkt ihrer Geschichte die allgemeine Entwicklungs­linie der hellenischen Stadtstaaten.

Die Spartaner reagierten in besonderer Weise auf die Herausforderung, die im 8. Jahrhundert v. Chr. an alle hellenischen Gemein­wesen erging. Zu dieser Zeit hatte infolge der unmittelbar voraufgehenden sozialen Entwicklung das Anbaugebiet im Mutterland der hellenischen Gesellschaft auf der griechischen Halbinsel und im Gebiet des Ägäischen Meeres begonnen, geringere Erträge zu bringen, während die Bevölkerung in raschem Anwachsen war.

Die »normale« Lösung, die man für dieses gemeinsame Problem fand, war die Vermehrung des gesamten in hellenischen Händen befindlichen Ackerlandes durch die Entdeckung und Eroberung neuer Gebiete in Übersee. Unter den zahlreichen neuen Stadtstaaten, die als Ergebnis dieser allgemeinen überseeischen Expansion entstanden, war eine Gründung, Tarent, die behauptete, spartanischen Ursprungs zu sein.

Aber vorausgesetzt, daß dieser Anspruch überhaupt mit der geschichtlichen Wirklichkeit in Einklang steht, ist der Fall von Tarent einzig. Außer Tarent gab es nicht eine hellenische Stadt in Übersee, die auch nur der Überlieferung nach eine spartanische Kolonie war. Aber selbst die tarentinische Tradition unterstreicht nur die Tatsache, daß die Spartaner das allgemeine hellenische Bevölkerungs­problem des 8. Jahrhunderts in der Hauptsache nicht durch die sonst übliche Gründung überseeischer Kolonien, sondern auf ihre eigene Weise zu lösen suchten.  

   wikipedia  Tarent  


Als den Spartanern auch ihr ausgedehntes und fruchtbares Ackerland im Tale des Eurotas zu klein geworden war für die wachsende Bevölkerung, richteten sie nicht wie die Chalzidier, Korinther oder Megarer ihren Blick auf die See.

Das Meer ist weder von der Stadt Sparta aus zu sehen, noch von irgendeinem Punkt der Ebene, in der es liegt, ja nicht einmal von den Höhen, die es unmittelbar umgeben. Die Bodengestalt, die die spartanische Landschaft beherrscht, ist die hohe Gebirgskette des Taygetos. Dieser erhebt sich am westlichen Rande der Ebene so steil und hat einen so geraden und ununter­brochenen Rücken, daß er den Eindruck einer gewaltigen Mauer macht. Schaut man nun gegen diese Mauer, dann fällt der Blick unwillkürlich auf die Lagada, eine Schlucht, die die Gebirgskette rechtwinklig aufspaltet, gerade als ob ein titanischer Erbauer der Ebene und des Gebirges in der sonst unübersteigbaren Schranke absichtlich diese eine Lücke gelassen hätte, um seinem Volk ein Ausfallstor zu schaffen.

Als nun die Spartaner im 8. Jahrhundert v.Chr. den Bevölkerungsdruck zu spüren begannen, schauten sie zu den Bergen auf, und ihr Blick fiel auf die Lagada; so suchten sie einen Ausweg über den Gebirgspaß, wie ihre Nachbarn in der gleichen Zwangslage einen Ausweg über das Meer suchten. An dieser ersten Wegscheide kam den Spartanern Hilfe vom Apollo von Amyklä und von der Athana vom Ehernen Hause. 

 

Der Erste Messenische Krieg (etwa 736-720 v.Chr.), der zur gleichen Zeit stattfand wie die ersten hellenischen Nieder­lassungen an der thrazischen und sizilischen Küste, ließ die Spartaner als Sieger hervorgehen. Und das Land, das sie so in Hellas eroberten, war größer als dasjenige, welches in Übersee die chalzidischen Kolonisten in Leontini oder die angeblichen eigenen Kolonisten der Spartaner in Tarent gewannen. Aber der Geist Spartas, der es führte und der »seinen Fuß nicht gleiten ließ«, als es in Messenien sein Ziel erreicht hatte, »behütete« es dadurch doch nicht »vor allem Übel«. Im Gegenteil, die übermenschliche — oder unmenschliche — Starrheit des späteren Verhaltens Spartas war wie das mythische Geschick von Lots Weib offensichtlich ein Fluch und kein Segen.

Die besonderen Nöte der Spartaner begannen, sobald der Erste Messenische Krieg mit ihrem Siege geendet hatte; denn es war leichter für sie, die Messenier im Felde zu schlagen, als sie in Friedenszeiten dauernd niederzuhalten.

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Diese besiegten Messenier waren keine Barbaren wie die Thrazier oder die Sikuler, sondern Hellenen, die dieselbe Kultur und dieselben Leidenschaften hatten wie die Spartaner selbst; an Kriegstüchtigkeit waren sie ihnen beinahe gleich und an Zahl vielleicht sogar überlegen. Der Erste Messenische Krieg (etwa 736-720 v.Chr.) war ein Kinderspiel im Vergleich mit dem Zweiten (etwa 650-620 v. Chr.). In diesem erhoben sich die unterworfenen Messenier, hart gemacht durch ihr Unglück und erfüllt von Scham und Wut, daß sie sich einem Schicksal gefügt hatten, das keine andern Hellenen hatten über sich ergehen lassen, gegen ihre spartanischen Herren; und sie kämpften in dieser zweiten Runde verbissener und länger, um ihre Freiheit wiederzugewinnen, als sie in der ersten gekämpft hatten, um sie zu bewahren.

Ihrer verspäteten Heldenhaftigkeit gelang es am Ende doch nicht, einen zweiten Sieg der Spartaner zu verhindern. Und nach diesem beispiellos hartnäckigen und verbissenen Kriege behandelten die Sieger die Besiegten mit noch nie dagewesener Härte. Aber mit den weitblickenden Augen der Götter gesehen, hatten die messenischen Aufrührer ihre Rache an Sparta geübt, in dem Sinne, in dem Hannibal seine Rache an Rom nehmen sollte. Der Zweite Messenische Krieg änderte die Lebensweise der Spartaner vollständig und gab der Geschichte ihres Staates einen ganz anderen Verlauf. Es war einer jener Kriege, in denen das Eisen bis in die Seelen der Oberlebenden dringt. Und er war eine so schreckliche Erfahrung, daß er das Leben der Spartaner für immer an Elend und Eisen band und ihr Gemeinwesen in eine Sackgasse der Entwicklung führte. Sie konnten nicht vergessen, was sie durchgemacht hatten, konnten sich nie entspannen und waren deshalb niemals in der Lage, aus der Sackgasse ihrer Nachkriegsreaktion heraus­zufinden.

Die Beziehungen zwischen den Spartanern und ihrer menschlichen Umwelt in Messenien waren der gleichen Ironie des Schicksals unterworfen wie die Beziehungen der Eskimos zu ihrer natürlichen Umwelt in der Arktis. In beiden Fällen haben wir das Schauspiel eines Gemeinwesens, das den Mut hat, es mit einer Umwelt aufzunehmen, die seine Nachbarn abschreckt, um mit diesem äußerst gewaltigen Unternehmen einen besonders reichen Lohn zu gewinnen.

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In der ersten Phase scheint diese Kühnheit durch ihren Erfolg gerechtfertigt zu werden. Die Eskimos finden auf dem arktischen Eis bessere Jagdgründe als ihre weniger abenteuerlustigen indianischen Vettern auf den nordamerikanischen Prärien; und die Spartaner gewinnen im Ersten Messenischen Krieg ihren hellenischen Brüdern jenseits der Berge reichere Ländereien ab als die chalzidischen Kolonisten den Barbaren jenseits des Meeres. 

Aber in der zweiten Phase führt die — nicht umkehrbare! — kühne Tat zu einer unausweichlichen Strafe. Die besiegte Umwelt macht jetzt ihren wagemutigen Besieger zum Gefangenen. Die Eskimos werden Gefangene des arktischen Klimas und müssen ihr Leben bis in die kleinsten Einzelheiten nach seinen unabänderlichen Erfordernissen gestalten. Und die Spartaner, die im ersten Kriege Messenien erobert haben, um für sich zu leben, werden im zweiten und in der ganzen Folgezeit gezwungen, ihr Leben aufzugeben für die Aufgabe, Messenien zu halten. Sie müssen jetzt und für alle Zeit als die gehorsamen und demütigen Sklaven ihrer eigenen Herrschaft über Messenien leben.

Die Spartaner rüsteten sich zu ihrem Gewaltstreich, indem sie bestehende Einrichtungen neuen Erfordernissen anpaßten.

»Die Weise aber, auf die jene primitiven Einrichtungen, welche sonst bei allen griechischen Völkern vor der steigenden Kultur geschwunden sind, zu den Ecksteinen des spartanischen Staatsorganismus hergerichtet worden sind, nötigt uns die höchste Bewunderung ab. Es ist nicht möglich, hierin nur etwas durch eine von selbst vor sich gehende Entwicklung Gewordenes zu erblicken, die zielsichere und methodische Art, wodurch alles dem einen Ziel dienstbar gemacht worden ist, drängt uns, darin das Eingreifen einer bewußt ordnenden Hand zu sehen ... Es darf wohl ausgesprochen werden, daß die Existenz eines oder mehrerer in demselben Sinne wirkender Männer, die mit vollem Bewußtsein die primitiven Einrichtungen zu der Agoge und dem Kosmos umgebildet haben, eine Notwendigkeit ist.«*

 

* M. P. Nilsson, Die Grundlagen des spartanischen Lebens; Klio, Bd. XII, S. 340.

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Die hellenische Überlieferung schrieb nicht nur den Wiederaufbau der lazedämonischen Gesellschaft nach dem zweiten Krieg — ein Wiederaufbau, der Sparta zu dem machte, was es war und bis zu seinem Zusammenbruch blieb —, sondern auch alle vorhergehenden und weniger ungewöhnlichen Ereignisse der sozialen und politischen Geschichte Spartas »Lykurg« zu. Aber »Lykurg« war ein Gott; und moderne abendländische Gelehrte, die einen menschlichen Urheber des »lykurgischen« Systems finden wollten, neigten dazu, ihren Mann in Chilon zu sehen, einem Ephoren, der anscheinend um 550 v. Chr. im Amt war und den Ruf eines Weisen hinterlassen hat. Vielleicht gehen wir nicht sehr fehl, wenn wir das »lykurgische« System als das fortgesetzte Werk einer ganzen Reihe spartanischer Staatsmänner ansehen und als Entstehungszeit etwa die auf den Ausbruch des Zweiten Messenischen Krieges folgenden hundert Jahre annehmen.

Was das spartanische System vor allem charakterisiert, ist die »völlige Mißachtung der menschlichen Natur«. Das ist die Ursache seiner erstaunlichen Wirksamkeit, aber auch seiner verhängnisvollen Starrheit und seines späteren Zusammenbruchs. Im Grunde genommen ruhte die ganze Last der Staatsgewalt auf den Schultern der freigeborenen Spartiaten, die allein die Herrschaft über Messenien zu behaupten hatten. Gleichzeitig war innerhalb der Gemeinschaft der Spartiaten selbst der Grundsatz der Gleichheit nicht nur aufgestellt, sondern weitgehend durchgeführt.

Gleichheit des Besitzes gab es zwar nicht; aber jeder spartiatische »Gleiche« erhielt vom Staat eins der Lehen oder Landlose von gleicher Größe oder Ertragsfähigkeit, in die das Ackerland Messeniens nach dem Zweiten Messenischen Kriege aufgeteilt worden war. Und jedes dieser Landlose, die von messenischen Leibeigenen bestellt wurden, war so berechnet, daß es einen »Gleichen« und seine Familie bei einem Lebensstandard von »spartanischer« Einfachheit ernährte, ohne daß diese selbst zu arbeiten brauchten. Infolgedessen war jeder »Gleiche«, so arm er auch sein mochte, wirtschaftlich in der Lage, seine ganze Zeit und Kraft dem Kriegshandwerk zu widmen. Und da jeder »Gleiche« zu dauernden kriegerischen Übungen und Dienstleistungen verpflichtet war, wie reich er auch sein mochte, wirkte sich in Sparta die Ungleichheit des Besitzes nicht in einem wesentlichen Unterschied in der Lebensführung aus.

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Was die erblichen Standesunterschiede betrifft, so scheint der spartanische Adel außer der Wählbarkeit in den Staatsrat kein politisches Vorrecht behalten zu haben. Im übrigen ging er in der Masse der »Gleichen« auf. Insbesondere waren die dreihundert Ritter unter dem »lykurgischen« System weder ein Adelsklub, noch eine Reitertruppe geblieben. Sie waren jetzt ein Elitekorps der schweren Infanterie geworden, das sich aus allen »Gleichen« nach Verdienst ergänzte, so daß diese sich eifrig um die Zulassung bewarben.

Am deutlichsten aber drückt sich der Geist der Gleichheit in der Stellung des Königs aus, die im »lykurgischen« System wenig hervorragend war. Obwohl die Könige weithin durch Erbfolge auf den Thron gelangten, war die einzige wirkliche Gewalt, die sie noch ausübten, der Oberbefehl über den Wehrdienst. Sonst hatten sich, von bestimmten zeremoniellen Pflichten und Rechten abgesehen, die mehr malerisch als bedeutend waren, die regierenden Könige sowohl wie alle anderen Mitglieder der beiden königlichen Familien derselben strengen und lebenslänglichen Zucht zu unterwerfen wie die gewöhnlichen »Gleichen«. Als gesetzmäßige Erben erhielten sie dieselbe Erziehung; und ihre Thronfolge verschaffte ihnen keine Befreiung.

So galten unter dem »lykurgischen« System in der Bruderschaft der spartiatischen »Gleichen« die Unter­schiede der Geburt und des Erbrechtes wenig oder nichts. Und obwohl gewöhnlich freie spartiatische Geburt Voraussetzung für die Aufnahme in die Bruderschaft war, hätte kein Bewerber jemals daran gedacht — nicht einmal im Kreise seiner Mitbewerber, geschweige denn in der Öffentlichkeit —, etwas zu sagen, was dem jüdischen »Wir haben Abraham zum Vater« entsprechen würde. Denn spartiatische Geburt allein berechtigte noch nicht zur Erhebung in den begehrten, wenn auch mühevollen Stand eines »Gleichen«.

Dagegen war spartiatische Geburt, wenn sie auch normalerweise erforderlich war, keine Conditio sine qua non. Sie verurteilte nur ein Kind — sofern es nicht als Schwächling verworfen und ausgesetzt und auf diese Weise befreit wurde — dazu, die harte Prüfung der spartanischen Erziehung über sich ergehen zu lassen. Und diese Prüfung berechtigte einen Knaben nur, sich um Aufnahme in die Bruderschaft der »Gleichen« zu bewerben, sobald er volljährig wurde. Wie ein Kind sie bestand, war letzten Endes weit wesentlicher als sein Stand.

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Es gab geborene Spartiaten, die versagten; diese wurden nicht in die Bruderschaft der »Gleichen« aufge­nommen, sondern wurden zum Heulen und Zähneklappern in der Finsternis des nicht beneidens­werten Standes der »Geringeren« verdammt. Umgekehrt gab es Fälle — diese waren allerdings selten —, in denen Knaben nichtspartiatischer Geburt zur spartanischen Erziehung zugelassen wurden. Und wenn diese »fremden Knaben« den Anforderungen entsprachen, wurden sie, so scheint es, genau so in die Reihen der »Gleichen« aufgenommen wie ihre spartiatischen Klassenkameraden.

In solchem Maße verwarf das spartanische System die Ansprüche von Geburt und Erblichkeit. Aber der Gott Lykurg ging noch weiter in seiner Verachtung der »menschlichen Natur«. Der spartanische Sozialreformer wagte es, sogar in die Ehe im Interesse der Eugenik einzugreifen, und tat, was er konnte, um das von ihm gewünschte Menschenmaterial durch Züchtung zu erhalten, lange bevor man etwas von Zuchtwahl wußte. Die Aushebung war für die ihr unterworfene Klasse, das heißt für alle freige­borenen und nicht nach der Geburt ausgesetzten Spartiaten allgemein. 

Die Kinder wurden schon im Alter von sieben Jahren aus ihrem Elternhaus geholt und in die Erziehungs­mühle gesteckt. Und schließlich wurden auch die Mädchen nicht nur wie die Knaben eingezogen und ausgebildet, sondern auch weitgehend in der gleichen Weise behandelt. Auch für sie war die Aushebung allgemein. Und die spartanischen Mädchen wurden nicht etwa in besonderen weiblichen Fertigkeiten ausgebildet oder von den Männern getrennt gehalten. Auch sie wurden nach dem Wettkampfsystem erzogen; und wie die Knaben nahmen sie nackt vor männlichen Zuschauern an den öffentlichen Wettkämpfen teil.

Was nun die Züchtung des Menschenmaterials betrifft, so strebte das spartanische System sowohl nach Quantität als auch nach Qualität. Es sorgte für Quantität — im Verhältnis zu dem kleinen Maßstab, nach dem die spartanische Gesellschaft aufgebaut war —, indem es sich an die einzelnen erwachsenen Spartiaten wandte und durch Belohnungen und Strafen ihr Verhalten zu beein­flussen suchte. Der absichtliche und eingefleischte Junggeselle wurde wegen schändlichen Mangels an Gemeinschaftsgeist vom Staate bestraft und von den Jüngeren beschimpft. Andererseits war ein Vater von drei Söhnen von der Einziehung befreit, und ein Vater von vier Söhnen war aller Verpflichtungen gegenüber dem Staat enthoben.

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Gleichzeitig sorgte man in Sparta für Qualität, indem man bewußt zu eugenischen Zwecken gewisse primitive Sitten bezüglich des Geschlechtsverkehrs am Leben hielt, die Überreste eines der Einrichtung von Ehe und Familie voraufgehenden Systems von Geschlechtsgruppen gewesen zu sein scheinen. Ein Spartiat gewann volkstümlichen Beifall, statt sich öffentlicher Verdammung auszusetzen, wenn er dafür sorgte, daß die Qualität der Kinder seiner Ehefrau dadurch verbessert wurde, daß sie ihr von einem Vater gezeugt wurden, der ein besserer Mann — oder ein besseres Menschentier — war als er selbst. 

Und es scheint sogar, daß eine spartiatische Frau das auch von sich aus straffrei einrichten konnte, wenn ihr Ehemann offensichtlich unter­durchschnittlich war, aber nicht die Initiative ergriff, ihr einen Ersatz­mann zu stellen. Der Geist, in dem die Spartaner ihre Eugenik ausübten, wird uns an einer Stelle von Plutarch verdeutlicht, an der er sagt, daß der spartanische Sozialreformer...

»in den sexuellen Gepflogenheiten der übrigen Menschheit nichts als Gewöhnlichkeit und Eitelkeit sah. Man trägt Sorge, daß den Hündinnen mit den besten Rüden und den Stuten mit den besten Hengsten gedient wird, die nur irgend aufzu­treiben sind. Aber die Frauen schließt man ein und hält sie unter dauernder Bewachung und Aufsicht, um ja sicher zu sein, daß sie ausschließlich ihren Ehemännern Kinder gebären, als ob das eines Ehemannes geheiligtes Recht wäre, selbst wenn er schwachsinnig, greisenhaft oder krank ist. Mit dieser Übereinkunft mißachtet man die beiden auf der Hand liegenden Wahrheiten, daß schlechte Eltern schlechte Kinder, und gute Eltern gute Kinder hervorbringen, und daß die ersten, die diesen Unterschied zu spüren bekommen, diejenigen sind, welche die Kinder haben und welche sie aufziehen müssen.«

Was die Erziehung der spartiatischen Kinder betrifft, die auf diese Weise gezüchtet, und deren beste schließlich für die Aufnahme unter die »Gleichen« und die Belehnung mit einem Landlos ausgewählt wurden, so stützte sich das spartanische System wiederum auf die Überreste einer der Einrichtung der Familie voraufgehenden gesellschaftlichen Organisation. In dieser lernte das Kind, wenn es der persönlichen Obhut der Mutter nicht mehr bedurfte, nicht in einem patriarchalischen Hauswesen den Beruf des Vaters, sondern wurde mit den Geschlechts- und Altersgenossen seines Stammes nacheinander in einer Reihe von Gruppen erzogen.

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Die »lykurgische« Reform nahm dieses System der »Altersklassen« an, paßte es aber gleichzeitig ihrer eigenen erzieherischen Absicht an, indem sie eine gemischte Abteilung einführte, in der die Kinder aller Altersstufen vereinigt waren, so daß die älteren bei der Ausbildung der jüngeren behilflich sein konnten. Diese Jugendgruppen dienten zur Vorbereitung und waren Nachbildungen der »Messen« der Erwachsenen. Letztere waren Vereinigungen von »Gleichen« verschiedener »Altersklassen« aus den vierzig »Jahresklassen« (vom 21. bis zum 60. Lebensjahr einschließlich), die Wehrdienst zu leisten hatten.

Der Höhepunkt der dreizehnjährigen Erziehung eines spartanischen Knaben in seiner Gruppe war, am Ende seines 20. Lebensjahres, die Bewerbung um Aufnahme in eine der »Messen«; dieses war der einzige Weg zur Zulassung in die Bruderschaft der »Gleichen«. Die Aufnahme in eine »Messe« konnte nur durch einstimmige Wahl erfolgen; eine einzige »schwarze Kugel« hatte die Zurückweisung des Bewerbers zur Folge. Ein erfolgreicher Bewerber blieb, einmal aufgenommen, vierzig Jahre lang aktives Mitglied seiner »Messe«, es sei denn, daß er entweder seiner Verpflichtung nicht nachkam, Lebensmittel und Geld zur gemeinsamen Verpflegung beizusteuern, oder des nicht wiedergut­zumachenden Vergehens der Feigheit vor dem Feind überführt wurde.

Die Hauptmerkmale des spartanischen Systems sind: Beaufsichtigung, Auslese und Spezialisierung; ein Geist des Wetteifers und die gleichzeitige Anwendung von Belohnung und Bestrafung als positiven bzw. negativen Anreizes. Und sie kennzeichnen nicht nur die Erziehung, sondern auch das gesamte Leben der erwachsenen Spartiaten. Von dem Augenblick an, in dem der Spartiat als Siebenjähriger von seiner Mutter weggeholt wurde, war er ununterbrochen der Disziplin unterworfen, bis ihm die Vollendung des 60. Lebensjahres Befreiung vom Wehrdienst brachte. 

Das äußere und sichtbare Zeichen dieser Disziplin war die Bestimmung, die 53 Jahre Waffendienst vorschrieb. Denn der Spartiat, der als Kind vom Elternhaus in eine Jugendgruppe übergeführt worden war, gewann nicht die Freiheit, in einem eigenen Heim zu leben, wenn er in eine »Messe« aufgenommen, mit einem Landlos belehnt war und die gesellschaftliche Pflicht zu heiraten erfüllt hatte.

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 Die »Gleichen« waren zwar gezwungen, eine Ehe zu schließen, doch war es ihnen nicht gestattet, ein »Familien­leben« zu führen. Der spartiatische Bräutigam mußte sogar seine Hochzeitsnacht in der Kaserne verbringen. Und wenn auch das Verbot, zu Hause zu schlafen, mit zunehmendem Alter für ihn gemildert wurde, so war es ihm doch dauernd strengstens verboten, zu Hause zu essen.

»Lykurg sorgte dafür, daß die Spartiaten nicht die Freiheit hatten, zu Hause im voraus eine Mahlzeit einzunehmen und dann mit vollem Magen zur Messe zu kommen. Wenn ein Spartiat in der Messe keinen Appetit zeigte, wurde ihm von seinen Tischkameraden vorgeworfen, er sei ein Schlemmer und Weichling, der die gemeinsame Kost nicht vertrüge, und wurde er wirklich überführt, so erhielt er eine Geldstrafe. 

Berühmt ist der Fall des Königs Agis. Dieser war (nach Beendigung seines siegreichen Zermürbungskrieges gegen Athen) nach langer Abwesenheit aus dem Felde heimgekehrt. Der König wünschte, nur ein einziges Mal mit seiner Frau zusammen zu speisen, und sandte jemand zur Messe, der seine Portion holen sollte. Aber der Heeresrat ließ sie nicht herausgeben; und als der Vorfall am nächsten Tage zur Kenntnis der Ephoren kam, verurteilten sie den König zu einer Geldstrafe.«*

Es ist selbstverständlich, daß ein System, welches der »menschlichen Natur« in so grausamer Weise Hohn sprach, nur mit starkem äußerem Zwang durchgesetzt werden konnte. Dieser Zwang wurde in Sparta durch die öffentliche Meinung ausgeübt, die denjenigen, welcher gegen das Gesetz der Gesellschaft verstieß, grausamer bestrafen konnte als die Ephoren mit ihren Peitschen es taten. Das bringt ein athenischer Beobachter** deutlich zum Ausdruck, der das spartanische System in letzter Stunde, kurz vor seinem Zusammenbruch, studiert hat.

 

  * Plutarch, Apophthegmata Laconica, Lycurgus, Nr. 6.
** Xenophon, Respublica Lacedaemoniorum, Kap. 9.

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»Eine der bemerkenswertesten Leistungen Lykurgs ist die, daß er erreicht hat, daß man in Sparta einen ehrenhaften Tod einem Leben in Schande vorzog. Tatsächlich zeigt die Erfahrung, daß die Spartaner in den Schlachten weniger Tote zu verzeichnen haben als Heere, die sich der Furcht hingeben und es vorziehen, das Feld zu räumen. So zeigt es sich dabei, daß der Mutige größere Aussicht hat, zu überleben, als der Feige. Der Mut macht das Leben leichter, angenehmer, reibungsloser und sicherer ... 

Und ich will es nicht unterlassen, zu erklären, wie Lykurg dafür sorgte, daß die Spartaner danach handelten. Er sorgte dafür, indem er dem Tapferen ein sicheres Glück, dem Feigen aber ein sicheres Unglück verbürgte. In anderen Gemeinwesen besteht die einzige Strafe eines Feiglings darin, daß er als solcher gebrandmarkt wird. Im übrigen steht es ihm frei, nach seinem Belieben mit tapferen Männern zusammen zu arbeiten und zu spielen. In Sparta dagegen würde sich jedermann schämen, einen Feigling als Messenkameraden oder Partner bei den Leibes­übungen zu haben. Und es wird oft vorkommen, daß der Feigling bei der Zusammenstellung der Mannschaften für ein Ballspiel übergangen und im Chor auf die am wenigsten ehrenvolle Stelle gestoßen wird. Er wird auf der Straße und bei Tisch jedermann den Vortritt zu lassen und den Jüngeren Platz zu machen haben. 

Seine weiblichen Hausgenossen dürfen sich nicht sehen lassen, und er wird ihre Vorwürfe wegen seines Mangels an Männlichkeit über sich ergehen lassen müssen. Ja, er wird selbst darauf verzichten müssen, eine Hausfrau in seinem Hause zu haben, und noch obendrein eine Geldstrafe zu zahlen haben. Niemals wird er sich mit geölter Haut außer dem Hause sehen lassen und überhaupt nichts tun dürfen, was sonst Spartaner tun, deren Ehre unbefleckt ist. Andernfalls würde er von denen, die besser sind als er, körperlich gezüchtigt werden. So bin ich meinerseits durchaus nicht überrascht, daß in einem Gemeinwesen, in dem Feigheit mit einer so schrecklichen Strafe geahndet wird, der Tod wünschenswerter ist als ein Leben in solcher Schande und Unehre.«

Aber Bestrafung allein, so unbarmherzig sie auch sein mochte, hätte niemals das spartanische Ethos schaffen oder zu dem daraus hervor­gegangenen Heldentum begeistern können. Der Zwang, der die Spartaner zu dem machte, was sie waren, war nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich.

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Denn diese unerbittlichen Menschen, deren geschlossene öffentliche Meinung das Leben für jeden von ihnen unerträglich machte, der gegen ihre allgemeinen Lebensregeln verstoßen hatte, waren in solchen Fällen gerade deshalb erbarmungslos, weil jeder einzelne von ihnen auch von sich selbst verlangte, diesen Regeln entsprechend zu leben.

Dieser »kategorische Imperativ«, der in jedem wahren spartiatischen »Gleichen« fest verankert war, war die letzte treibende Kraft, die das »lykurgische« System trotz seiner Mißachtung der »menschlichen Natur« mehr als 200 Jahre lang wirksam bleiben ließ. Sein Wesen wird in dem zweifellos erdachten, aber deshalb nicht weniger aufschlußreichen Gespräch dargelegt, das Herodot den Achämenidenpadischah Xerxes und den verbannten spartanischen König Demaratus führen läßt, der im Stabe des Großkönigs diente, als dieser von den Dardanellen in Richtung auf die Thermopylen zog. 

Xerxes hat Demaratus gefragt, ob er irgendwelchen Widerstand zu erwarten hätte; und Demaratus hat ihm geantwortet, daß er, einerlei, was die andern Hellenen tun würden, in bezug auf seine eigenen spartanischen Landsleute (obwohl er persönlich keine Ursache hätte sie zu lieben) versichern könnte, daß sie ohne jede Rücksicht auf zahlenmäßige Unterlegenheit kämpfen würden. Als nun Xerxes nicht glauben will, daß frei handelnde Truppen, wie es die Spartaner voraussetzungsgemäß sind, sich freiwillig einem Gottesurteil unterziehen würden, in das seine eigenen Heere nur aus Furcht vor ihrem Befehlshaber und mit der Peitsche getrieben werden könnten, antwortet Demaratus:

»Wenn die Spartaner auch frei sind, sind sie doch nicht völlig frei. Auch sie dienen einem Herrn in der Form des Gesetzes; und dieses fürchten sie weit mehr, als dich deine Diener fürchten. Sie zeigen es dadurch, daß sie alles tun, was immer ihr Herr befehlen mag; und seine Befehle sind stets dieselben: <Im Kampf ist es verboten, sich vor den Feinden zurückzuziehen, wie stark diese auch sein mögen. Die Truppen haben ihre Schlachtordnung zu bewahren und zu siegen oder zu sterben.>«

Dies war der Geist, der die Leistungen der Spartaner beseelte; und diese Leistungen haben dem Wort »spartanisch« die Bedeutung gegeben, die es noch heute in jeder Sprache hat. Die Heldentaten der Spartaner sind so bekannt, daß es nicht nötig ist, hier von ihnen zu berichten.

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Steht nicht die Geschichte von Leonidas und den Dreihundert in den Thermopylen im siebenten Buch Herodots? Und die Geschichte vom Knaben und dem Fuchs in Plutarchs »Leben des Lykurg«? Und geben nicht diese beiden Geschichten allein schon ein vollständiges Bild von dem »Gewaltstreich« spartanischer Männer und Knaben? 

 

Aber wenn wir uns nicht von den Spartanern abwenden können — und, seien wir ehrlich, wir können es nicht —, ohne vorher einen Blick auf die Kehrseite ihrer Einrichtungen geworfen zu haben, brauchen wir uns nur die beiden letzten Jahre der Erziehung eines spartanischen Jünglings vor Erreichung der Volljährig­keit vor Augen zu halten. Diese Jahre, von denen mehr als von allen andern die Entscheidung über seine Aufnahme in eine »Messe« abhing, mußte er wahrscheinlich im Geheimdienst verbringen. Dieser Geheimdienst war nichts anderes als eine offizielle »Mordbande«, die das flache Land Lakoniens durchstreifte — tagsüber in Deckung bleibend und nachts wie ein wahres Negotium perambulans in tenebris herumpirschend —, um jeden Heloten zu beseitigen, der Anzeichen von Widerspenstigkeit oder vielleicht nur Spuren von Charakter und Fähigkeit gezeigt hatte. 

Während Sparta auf der einen Seite das mannhafte Heldentum eines Leonidas forderte und auch hervorbrachte, um seinen Namen mit unver­gleichlichem Kriegsruhm zu bedecken, machte es so auf der andern Seite seine Söhne zu jugendlichen Verbrechern, damit die schwache Minderheit der spartiatischen »Gleichen« die überwältigende Mehrheit der »Geringeren«, »Abhängigen«, »Neuzu­gehörigen« und »Sklaven« beherrschen konnte. Alle diese hätten nichts lieber getan, als mit der Handvoll Herren aufgeräumt, wenn sie nur gekonnt hätten. Wenn sich die Spartaner unter dem »lykurgischen« System auf die erhabensten Höhen menschlichen Handelns erhoben, stiegen sie auch in seine dunkelsten Tiefen hinab.

Jeder Zug des »lykurgischen« Systems, sei er materiell oder geistig, böse oder gut, war auf ein einziges Ziel gerichtet; und dieses fest umrissene Ziel wurde wirklich erreicht. Unter dem »lykurgischen« System war die lazedämonische schwere Infanterie die beste der hellenischen Welt. Sie war jeder anderen hellenischen Truppe von derselben Waffengattung weit überlegen.

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Nahezu zwei Jahrhunderte lang fürchteten die Heere der anderen hellenischen Mächte, dem lazedämon­ischen in offener Schlacht zu begegnen. In der Ausbildung sowohl wie in der Haltung waren die Lazedämonier unerreichbar. Aber gerade deshalb war im »lykurgischen« Sparta kein Platz für verschiedene nichtsoldatische Berufe.

Die Einseitigkeit der »lykurgischen« Agoge springt jedem Besucher des heutigen Museums in Sparta in die Augen. Denn dieses Museum ist gänzlich verschieden von jeder andern modernen Sammlung erhaltener hellenischer Kunstwerke, sei es in Griechen­land oder anderswo. In andern derartigen Sammlungen sucht, findet und verweilt der Besucher bei den Werken der »klassischen Zeit«, die sich annähernd mit dem 5. und 4. Jahrhundert v.Chr. deckt. Im Museum von Sparta dagegen fehlt die »klassische« Kunst.

Dem Besucher fallen hier zunächst die »vorklassischen« Ausstellungsstücke auf, die dazu angetan sind, ihn in ihren Bann zu ziehen: zarte Elfenbeinschnitzereien und eindrucksvolle mehrfarbige Keramiken, die von Künstlern bemalt sind, welche eine Begabung sowohl für die Zeichnung als auch für Farbe hatten. Wenn diese Überreste früher spartanischer Kunst auch nur Bruchstücke sind, zeigen sie doch auch so noch unverkennbar das Gepräge des Ursprünglichen und Persönlichen. 

Und der Besucher, der sie hier zum erstenmal sieht, schaut sich erwartungsvoll nach der Fortsetzung um; aber vergeblich; denn diese frühe Blüte spartanischer Kunst ist ein Versprechen ohne Erfüllung. An der Stelle, an der man die Denkmäler einer spartanischen Abart der »klassischen« Kunst erwartet, ist eine große Lücke; und das Museum von Sparta enthält außer der frühen Kunst im wesentlichen nur noch eine Menge seelenloser und genormter Skulpturen aus der späthellenistischen und frühen Kaiserzeit. 

Zwischen den beiden Gruppen der Ausstellungsstücke des Museums von Sparta klafft ein tiefer Abgrund; und dieser Abgrund erklärt sich aus dem Zeitraum, den er umfaßt. Der Zeitpunkt, an dem die frühe spartanische Kunst abbricht, ist annähernd die Zeit des Ephorats Chilons in der Mitte des 6. Jahrhunderts v.Chr. Die fast ebenso plötzliche Wiederaufnahme »künstlerischer Produktion« in der Verfallszeit fällt nach 189 bis 188 v.Chr.; und dies ist die Zeit, in der, wie man weiß, das »lykurgische« System durch die überlegte Politik eines fremden Eroberers abgeschafft wurde, nachdem Sparta gewaltsam in den Achäischen Bund eingegliedert worden war.

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Kunst war in Sparta so lange unmöglich, als das Leben der Stadt durch dieses gußeiserne System in die Eingleisigkeit des Militarismus gezwängt war.

Die Lähmung, der die spartanische Malerei und Plastik mit der Agoge verfielen, war auch für die Musik verhängnisvoll, in der die Spartaner ebenfalls früh Verheißungsvolles geleistet hatten. Die Behörden hielten sogar die Bürger der Stadt davon ab, eine Kunst zu pflegen, die der des Soldaten so nahe verwandt ist, daß sie in unserer modernen abendländischen Welt als die beste Vorbereitung für die militärische Ausbildung angesehen wird. Den Spartanern war es ferner verboten, an den großen panhellenischen athletischen Wettkämpfen teilzunehmen; und zwar deshalb, weil die berufliche Betätigung im Laufen, Springen und Kugelstoßen eins war, und die berufliche Betätigung im Handhaben von Speer und Schild und im Exerzieren auf dem Paradeplatz etwas gänzlich anderes, von dem Herz und Sinn des Spartiaten auf keinen Fall abgelenkt werden durften.

So wurde Sparta dafür bestraft, daß es an der Wegscheide des 8. Jahrhunderts v.Chr. eigensinnig und wagemutig seinen eigenen Weg eingeschlagen hatte. Und es verurteilte sich — im 6. Jahrhundert — selbst zu dieser Strafe; nämlich stehenzubleiben — mit präsentierter Waffe wie ein Soldat bei der Parade —, in einer Zeit, in der die übrigen Hellenen gerade einen der bedeutendsten Schritte nach vorn im gesamten Verlauf ihrer Geschichte machten.

Es erfordert eine Anstrengung unseres Vorstellungsvermögens, wenn wir uns vergegenwärtigen sollen, daß die Bruderschaft der spartiatischen »Gleichen« die früheste hellenische Demokratie war, und daß die Neuaufteilung des messenischen Ackerlandes unter die Angehörigen des spartiatischen Demos in gleiche Landlose das Schlagwort der Revolution wurde, die Athen in der nächsten Generation erschütterte. In Sparta war die neue Bewegung, die sich vorzeitig in der »lykurgischen« Reform geäußert hatte, dazu verurteilt, in diesem verfrühten Ansatz steckenzubleiben; denn das »lykurgische« System brachte dem spartanischen Leben zunächst zwar eine Veränderung, dann aber Erstarrung für immer. Es war nicht in Sparta, und nicht in Reaktion auf die besondere Herausforderung, die der Zweite Messenische Krieg für die Spartaner bedeutete, daß diese neuen Tendenzen im hellenischen Leben schöpferische Akte bewirken sollten.

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Der schöpferische Akt des 6. Jahrhunderts v.Chr. war die Reaktion auf eine Herausforderung ganz anderer Art; und diese Herausforderung erging in erster Linie an jene hellenischen Gemeinwesen, welche auf die vorhergehende Herausforderung des 8. Jahrhunderts nicht mit der Eroberung des hellenischen Nachbarlandes, sondern wie die Chalzidier und Megarer mit überseeischer Kolonisation reagiert hatten.

 

Nachdem das Bevölkerungsproblem in Hellas auf diese Weise für etwa zweihundert Jahre gelöst — oder aufgeschoben — worden war, erhob es sich infolge des überall gleichzeitig eintretenden Stillstandes der territorialen Ausdehnung der hellenischen Welt aufs neue, und zwar dringender als zuvor. Im Osten wurde die hellenische Expansion im 6. Jahrhundert v.Chr. durch den Aufstieg neuer Großmächte zum Stehen gebracht. Dort erhob sich das saitische Ägypten, das lydische Reich in Kleinasien, und schließlich das weit mächtigere Achämenidenreich, das jene beiden Mächte zunächst bedrohte und dann ganz verschlang. 

In demselben Jahrhundert kam die hellenische Expansion im westlichen Mittelmeer zum Stehen durch das Zusammengehen der bisher rivalisierenden levantinischen Kolonialvölker — Phönizier und Etrusker —, die jetzt entdeckten, daß sie durch politisches Zusammengehen ihre Unterlegenheit den Griechen gegenüber an Zahl und Lebenskraft ausgleichen konnten. Zu gleicher Zeit begannen die eingeborenen Barbaren des Westens zu lernen, wie sie sich gegen alle levantinischen Eindringlinge in gleicher Weise behaupten konnten, indem sie diese mit ihren eigenen Waffen bekämpften. 

So wurde die hellenische Expansion rundherum zum Stehen gebracht. Und diese Herausforderung trieb die Hellenen an, die sich wieder erhebende soziale Frage dadurch zu lösen, daß sie das Wachsen nach außen, das ihnen nicht mehr möglich war, durch ein inneres Wachstum zu höherer sozialer Ordnung ersetzten, zu dem sie noch fähig waren. Nachdem ihre Landwirtschaft bisher nur den eigenen Bedarf gedeckt hatte, gingen sie jetzt zur Ausfuhr landwirtschaftlicher Produkte und zu Manufakturen über; von einem Regime örtlicher Selbstversorgung zu einem Regime des internationalen Warenverkehrs; von der Natural- zur Geldwirtschaft; und von einer auf die Geburt zu einer auf den Besitz gegründeten politischen Ordnung.

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Und die Führung in dieser erfolgreichen Reaktion hatte Athen; ein »schwarzes Schaf«, das an der früheren Bewegung der überseeischen Kolonisation nicht teilgenommen hatte, aber andererseits auch Sparta nicht in seine messenische Sackgasse gefolgt war.

Die Art der athenischen Reaktion muß hier nur deshalb beschrieben werden, um den Gegensatz zwischen dem hellenischen Fortschritt unter der Führung Athens und Spartas unhellenischer Unbeweglichkeit deutlich zu machen. Und dieser Gegensatz wird sichtbar im Unterschied zwischen dem attischen und dem spartanischen Geldwesen. Die neue Erfindung des gemünzten Geldes hatte ihren Weg nach Sparta gefunden, bevor das »lykurgische« System erstarrt war. Und auch später fuhr es fort, eine nicht unbedeutende Rolle in der Bruderschaft der spartiatischen »Gleichen« zu spielen; denn der Beitrag eines »Gleichen« zum Betrieb seiner »Messe«, den er unter Androhung des Verlustes seiner Zugehörigkeit zu leisten hatte, war ja teilweise in Geld und teilweise in Natura zahlbar. 

Aber obwohl die spartanischen Reformer des 6. Jahrhunderts das gemünzte Geld aus Lakonien nicht gänzlich verbannen konnten oder wollten, gelang es ihnen doch, diese Einrichtung wie alle andern, die sie vorfanden, ihrem Zweck anzupassen. Sie erlaubten ihren Landsleuten, eiserne Scheidemünzen zu besitzen, die für den täglichen Gebrauch zu schwer und unhandlich waren und chemisch so behandelt wurden, daß sie zu minderwertig waren, um selbst in größerer Menge einen wirklichen Handelswert zu haben. So wurde Lakonien dadurch, daß es Münzen erhielt, die jenseits seiner Grenzen keine Gültigkeit hatten, ebenso wirksam, als wenn es gar keine gehabt hätte, von dem internationalen Zusammenhang finanzieller Beziehungen ausgeschlossen. 

Inzwischen wurden die »Eulen der Athene« die gangbare Münze in der gesamten Mittelmeerwelt, und die gelegentliche Ankunft einer ganzen Schar dieser Zugvögel in Sparta rief unter den Behörden der Stadt eine noch größere Bestürzung hervor als die Einfuhr eines Musikinstrumentes mit mehr als sieben Saiten. Selbst der Spartiat Gylippus, der vielleicht am meisten dazu beigetragen hatte, daß Athen im Großen Kriege von 431-404 v.Chr. auf die Knie gezwungen wurde, indem er den athenischen Versuch, Sizilien zu erobern, vereitelte, wurde am Tage nach dem Friedensschluß, als sein Diener die Mitteilung machte, daß »ein Schwarm von Eulen in der Ziegelei« war, gezwungen, in die Verbannung zu gehen.

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So hatte das »lykurgische« System, das die Spartaner schufen, um ihre Herrschaft über die Heloten in ihrem eigenen Staat zu behaupten, die Wirkung, daß sie sich darüber hinaus gegen die ganze hellenische Welt verteidigen mußten. Aber die größte Ironie in Spartas Situation lag in dem Umstand, daß es, als es alles, was das Leben lebenswert macht, dem einen Zweck, ein unüberwindliches Kriegsinstrument zu schaffen, geopfert hatte, nicht wagen konnte, die so teuer erkaufte Macht auch wirklich zu gebrauchen.

Denn unter dem »lykurgischen« System war das gesellschaftliche Gleichgewicht so genau ausgewogen, und die soziale Spannung so hoch, daß die leichteste Störung des Status quo verheerende Rückwirkungen haben konnte. Und eine solche Katastrophe konnte durch einen Sieg, der die ständige Beanspruchung der Arbeitskraft erhöht hätte, fast ebenso leicht herbeigeführt werden wie durch eine Niederlage, die den Weg für einen Einfall in das eigene Staatsgebiet freigemacht hätte. 

Schließlich brachten denn auch der verhängnisvolle Sieg des Jahres 404 v.Chr. und die verhängnisvolle Niederlage des Jahres 371 das Unglück über Sparta, das es niemals aufgehört hatte zu fürchten, seit es ihm gelungen war, sich zur furchtbarsten Kriegsmacht seiner Welt zu machen. Aber der spartanischen Staatskunst gelang es, den Tag des Unheils, von der Vollendung der »lykurgischen« Reform an gerechnet, um fast zweihundert Jahre aufzuschieben; und zwar dadurch, daß sie die Größe zurückwies, die die Umstände Sparta beständig aufzudrängen suchten.

In dieser Geistesverfassung wichen die Spartaner immer wieder der Herausforderung aus, die ihnen infolge der persischen Gefahr angebotene Führung in Hellas zu übernehmen. Sie lehnten es 499 v.Chr. ab, den aufständischen kleinasiatischen Griechen Hilfe zu senden; sie kamen 490 zu spät, um bei Marathon noch mitkämpfen zu können; und nachdem sie sich in den Thermopylen und bei Platää unter eigenem Protest mit Ruhm bedeckt hatten, traten sie 479-478 vom Oberkommando der Befreiungsstreitkräfte zurück. Um sich nicht der Gefahr auszusetzen, welche die Größe mit sich gebracht hätte, verzichtete Sparta absichtlich darauf und ließ es geschehen, daß Athen sie sich aneignete.

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Und doch konnte es selbst um diesen hohen Preis sein Schicksal schließlich nicht abwenden. Denn die große Weigerung Spartas, die Herausforderung von 499-479 v. Chr. anzunehmen, konnte ihm nicht mehr als eine vorübergehende Befreiung aus seinem Dilemma erkaufen. Dadurch, daß die Spartaner dem Wagnis einer Annahme das entferntere Übel vorzogen, den Athenern ihre gute Gelegenheit zu überlassen, machten sie es möglich, daß die Bedrohung der hellenischen Freiheit in Form einer athenischen Gefahr wiederkehrte. Und diesmal sahen sie sich einer Herausforderung gegenüber, der sie nicht mehr aus-weichen konnten. 

»Die wesentliche .... Ursache des Peloponnesischen Krieges war«, wie Thukydides meinte, »die Furcht, die der Aufstieg Athens zur Größe den Lazedämoniern einflößte; und diese Furcht trieb sie an, zu den Waffen zu greifen« — auf die Gefahr hin, daß sich der »Sanitäts­kordon« ihres Peloponnesischen Bundes auflöste, und der athenische Feind jenseits des Isthmus zu ihrem Verderben dem messenischen Feind im eigenen Lande die Hand reichte.

431 v.Chr. gelang es der korinthischen Diplomatie, Sparta dazu zu zwingen, die Führung in Hellas schließlich doch zu übernehmen. Und im Großen Kriege von 431-404 leistete die Spartanische Kriegsmaschine — jetzt zum erstenmal auf eine ernste Probe gestellt — alles, was ihre Urheber beabsichtigt und die Nachbarn gehofft oder gefürchtet hatten. Der Alpdruck eines Bündnisses zwischen Athen und den Heloten wurde keine Wirklichkeit, nicht einmal, als 425 der athenische Stratege Demosthenes in glänzender Weise in Pylos an der messenischen Küste Lakoniens einen Stützpunkt errichtete. 

Dagegen ließen der Zug des spartanischen Befehlshabers Brasidas nach der thrazischen Küste und der Verschleiß der athenischen Kraft durch Nikias' sizilische Expedition in Athen die Befürchtung aufkommen, daß es den Peloponnesiern gelingen könnte, sich mit den hellenischen Untertanen Athens jenseits des Ägäischen Meeres zu verbinden; denn dann hätte Athen in seinem eigenen Element von einer mit jonischen Seeleuten bemannten und mit persischem Golde finanzierten Flotte überwältigt werden können. 

Als dieses erste Stadium der Selbstzerfleischung der hellenischen Gesellschaft im Jahre 404 zu Ende kam, war es Athen und nicht Sparta, das am Boden lag. Aber die Prophezeiung des spartanischen Königs Agis — geäußert in dem Augenblick, als die Würfel fielen —, daß »dieser Tag« sich als »der Anfang eines großen Unheils für Hellas« erweisen würde, wurde für die Sieger nicht weniger als für die Besiegten Wahrheit; denn die Größe, die Sparta jetzt zögernd und unfreiwillig von seinem Nebenbuhler zurückgewann, war ein wahres Nessushemd.

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Die Spartaner kamen durch ihren siegreichen Krieg von 431-404 v. Chr. in eine merkwürdig mißliche Lage. Ein gründlich, aber nur für feindliche Berührung mit seinen Nachbarn geschultes Volk sah sich plötzlich durch das Ergebnis eines besonderen Krieges gezwungen, friedliche Beziehungen anzuknüpfen, für die es nicht nur unvorbereitet, sondern infolge seiner eigenartigen Einrichtungen, Gebräuche und sittlichen Grundsätze sogar gänzlich ungeeignet war. Diese Besonderheiten hatten die Spartaner entwickelt, um mit einem früheren Problem fertig zu werden, und sie hatten ihnen in der engen Umgebung, auf die sie vorher beschränkt gewesen waren, übermenschliche Stärke gegeben. 

Jetzt rächten sie sich aber an diesem eigenartigen Volk, indem sie es unfähig machten, in der weiteren Welt zu leben, in die das Kriegsglück es schließlich gestellt hatte. Die Genauigkeit, mit der es sich seiner früheren Umgebung angepaßt hatte, machte ihm jede Umstellung auf eine neue Umgebung geradezu unmöglich; und gerade die Eigenschaften, die das Geheimnis seines Erfolges in der einen Situation gewesen waren, wurden in der ändern seine schlimmsten Feinde. Die Spartaner richteten sich zugrunde, als sie infolge ihres Sieges mit den Waffen Athen mit der Macht auch die Verantwortung abnehmen mußten, nachdem sie es vorher nur in Schach gehalten hatten.

Der Unterschied zwischen einem Spartaner in seinem Lande und einem Spartaner im Ausland war in Hellas sprichwörtlich. Denn während er sich in seiner gewohnten Umgebung zugegebenermaßen über den hellenischen Durchschnitt in persönlicher Zucht und Uneigennützigkeit erhob, blieb er mindestens ebenso weit darunter, wenn er in eine fremde Umgebung kam. Die skandalöse Sitten­verderbnis des spartanischen Regenten Pausanias, den die Umstände an die Spitze eines panhellenischen Heeres auf persischem Boden gestellt hatten, war eine furchtbare Warnung gewesen und hatte viel dazu beigetragen, daß die spartanische Regierung 479-478 v.Chr. beschloß, von der Führung in Hellas zurückzutreten. 

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Diese Entscheidung wurde später gerechtfertigt, als Sparta in und nach der zweiten und letzten Phase des Großen Krieges von 431-404 v.Chr. gezwungen war, Pausaniasse zu Dutzenden ins Ausland zu schicken. »Wir haben getan, was wir nicht hätten tun sollen, und wir haben ungetan gelassen, was wir hätten tun sollen, und bei uns ist kein Heil.« So oder ähnlich muß nach der Schlacht bei Leuktra der Gedankengang eines spartanischen Staatsmannes wie des Königs Agesilaus gewesen sein, der alt genug war, sich an das Ancien régime zu erinnern.

In diesem Jahre 371 v.Chr. diente die Mehrzahl der spartiatischen »Gleichen« in Garnisonen außerhalb der Grenzen Lakoniens, und zwar in anderen hellenischen Staaten, die einst freiwillige Verbündete Spartas gewesen waren, jetzt aber nur noch durch nackte Gewalt in ihrem Abhängigkeitsverhältnis gehalten werden konnten. Die Besten von ihnen waren vom Heeresdienst abberufen worden und hatten politische und Verwaltungsstellen inne. In diesen machten sie sich in kleinerem Maßstab durch ihre spartanische Taktlosigkeit, Gewalttätigkeit und Korruption ebenso berüchtigt wie Pausanias, bis schließlich der achtbare Titel eines »Schiedsrichters«, den diese spartanischen Zuchtmeister im Ausland führten, ein Inbegriff des Hassenswerten für die Hellenen geworden war.

Diese spartiatischen »Gleichen«, die den spartanischen Namen zu einem unehrenhaften machten, hätten ohne Zweifel die herkömmlichen spartanischen Tugenden geübt, wenn das Schicksal es ihnen vergönnt hätte, die Erwartungen, mit denen man sie erzogen hatte, zu erfüllen, indem es sie auch weiterhin ihr Lagerleben an den Ufern des Eurotas hätte führen lassen, bis das lazedämonische Heer für den Feldzug mobilgemacht wurde, der mit Leuktra enden sollte.

Zu ihrem eigenen und ihres Landes Unglück fehlten alle diese Männer in jener schweren Stunde; und in dem lazedämonischen Kontingent des Heeres, das unter dem Oberbefehl des Königs Kleombrotus 371 von den Thebanern bei Leuktra entscheidend geschlagen wurde, kämpften nur vierhundert Spartiaten neben den dreihundert »Rittern«, die die ständige Leibwache eines im Kriegsdienst befindlichen spartanischen Königs bildeten. Diese Zahl bedeutet wahrscheinlich, daß in dieser kritischen Situation in der lazedämonischen Linieninfanterie nur jeder zehnte Mann ein Spartiat war, während normalerweise vier von zehn Lazedämoniern Spartiaten waren.

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Es ist fraglich, ob ohne diesen Rückgang der spartiatischen Quote bei Leuktra auf ein Viertel ihrer normalen Stärke selbst die Tapferkeit der thebanischen Infanteristen und das taktische Genie ihres Befehlshabers Epaminondas, der die Kampfkraft seiner Truppe aufs beste auszunutzen verstand, imstande gewesen wären, ihren geschichtlichen Erfolg davonzutragen und die über zweieinhalb Jahrhunderte lang unbesiegbaren Lazedämonier zu schlagen.

So zwang sein Sieg über Athen im Großen Krieg von 431 bis 404 v.Chr. Sparta dazu, seine »Gleichen« vom Heer, das sie nicht ohne Gefahr entbehren konnte, zu nichtmilitärischen Ämtern abzukommandieren, die ihnen nicht ohne Gefahr anvertraut werden konnten. Aber auch noch in anderer und weniger auffälliger Weise führte dieser Sieg Sparta zum Ruin. Das geschah z.B. auch auf die Weise, daß es zu spät und deshalb mit verheerender Wirkung der sozialen Erschütterung ausgesetzt wurde, die die Einführung der Geldwirtschaft zur Folge haben mußte, von welcher es so lange in unnatürlicher Weise abgesperrt worden war. »Der Zeitpunkt, an dem in Lazedämon der gesellschaftliche Verfall und die Korruption einsetzten, fällt mit dem Augenblick zusammen, in dem es das athenische Reich überwältigte und sich mit Edelmetall vollstopfte.«* 

Und die Einführung der Geldwirt­schaft hatte ihrerseits wieder eine ebenso erschütternde Umwälzung in der spartanischen Einstellung zum Privat­eigentum. Das konservative Sparta konnte allerdings nicht so weit gehen, zuzulassen, daß Immobiliar­vermögen frei gehandelt werden konnte. Aber im Laufe des 4. Jahr­hunderts — der genaue Zeitpunkt steht nicht fest — erhob die spartanische Volks­versammlung einen Antrag zum Gesetz, nach dem »der Inhaber eines Familiengutes oder eines Landloses das Recht erhielt, dieses zu seinen Lebzeiten zu veräußern oder letztwillig frei darüber zu verfügen«*.

Dieses Gesetz hatte eine beträchtliche Verminderung der spartiatischen »Gleichen« zur Folge; und das muß viel schwerwiegender gewesen sein als die verhältnismäßig geringen Verluste an Spartiaten bei Leuktra und mindestens ebenso schwerwiegend wie der Verlust von Messenien, der ebenfalls eine Folge der Niederlage war. Als Aristoteles seine »Politik« schrieb, waren die Folgen dieses unheilvollen Gesetzes schon bemerkbar.

 

* Plutarch, Das Leben des Agis, Kap. 5

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Zur Zeit des Königs Agis des Märtyrers, der in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts v.Chr. den Thron bestieg, »lebten nur noch siebenhundert Spartiaten, von denen vielleicht noch hundert eigenes Land oder ein Landlos hatten, und der Rest völlig verarmt und entrechtet war«*.

Eine andere auffällige Erscheinung des gesellschaftlichen Verfalls Spartas war »die gräßliche Weiberherr­schaft«. Wie die ungünstige Verteilung des Besitzes war auch die schlechte Verteilung des Einflusses und der Autorität zwischen den Geschlechtern in Sparta schon zur Zeit des Aristoteles festzustellen. In der Legende von den Erlöserkönigen Agis und Kleomenes, die ein Jahrhundert später in Sparta regierten, spielen edle Frauen, die hier die Helden begeistern und ermutigen, trösten und betrauern, eine ebenso hervorragende Rolle wie im Neuen Testament. 

Diese Legende läßt vermuten, daß trotz der tadelnden Bemerkungen des Aristoteles über das Verhalten der spartanischen Frauen während Epaminondas' Einfall in das Eurotastal im Winter 370-369 v.Chr. diese doch durch ihre Tugenden ihren in sittlichen Dingen bestimmenden Einfluß auf ihre Ehemänner und Söhne in der Verfallszeit Spartas erlangten. Wenn dies wirklich der Fall ist, fällt dadurch einiges Licht auf den Zusammenbruch des »lykurgischen Systems«. 

Obwohl dieses System die Frauen so gut wie die Männer erfaßte, waren die Frauen und Mädchen seinem Druck doch nicht in dem Maße ausgesetzt wie ihre Brüder und Gatten. Und wenn wir zu Recht annehmen, daß der sittliche Niedergang des spartanischen Mannestums die Strafe für die übermäßig strenge und starre »lykurgische« Gemütsverfassung war, dann liegt die Vermutung nahe, daß es die größere Freiheit von unnatürlichem Zwang war, die den Frauen die sittliche Spannkraft ließ, sich in der Prüfung des Schicksals, die den Geist ihrer Männer brach, zu beugen und wiederaufzurichten.

Die Grabschrift auf das »lykurgische« System hat Aristoteles in Form einer allgemeinen Betrachtung geschrieben:

»Die Völker sollten sich nicht zu dem Zweck auf den Krieg vorbereiten, um Nachbarn, die es nicht verdienen, zu unterjochen ... Das Hauptziel jeder Gesellschaftsform sollte es sein, die militärischen Einrichtungen wie alle andern auf den Frieden einzustellen, in dem der Soldat keinen Dienst zu tun hat.

 

*  Plutarch, Das Leben des Agis, Kap. 5.

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Das wird durch die Erfahrung nahegelegt. Denn kriegerische Staaten bestehen im allgemeinen nur so lange, wie sie Krieg führen, und gehen zugrunde, sobald sie aufhören Eroberungen zu machen. Der Frieden läßt ihr Schwert stumpf werden. Und die Ursache liegt darin, daß die entlassenen Soldaten nicht wissen, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen.«

 

So richtete sich das »lykurgische System« schließlich selbst zugrunde. Aber es hatte ein zähes Leben. Obwohl die »lykurgische« Agoge nur zu dem Zweck geschaffen worden war, Sparta den dauernden Besitz von Messenien zu ermöglichen, wurde sie doch aus reinem Konservativismus noch nahezu zwei Jahrhunderte lang beibehalten, nachdem Messenien unwiderruflich verloren war. König Kleomenes der Märtyrer ersetzte zwar noch die viertausend in Messenien verlorenen spartiatischen Landlose dadurch, daß er das Sparta östlich des Taygetos im Eurotastal verbliebene Gebiet in gleich viele Landlose aufteilte. 

Aber der königliche Revolutionär versäumte es, bei dieser Gelegenheit sein Land auch von dem alten Fluch des Heldentums zu befreien. Da die siebenhundert noch vorhandenen Spartiaten nicht einmal ein Fünftel der Landlose übernehmen konnten, in die die Güter der verbliebenen hundert spartiatischen »Gleichen« jetzt aufgeteilt wurden, gab Kleomenes vermutlich dreitausend Heloten und Periöken das spartanische Bürgerrecht, um die Reihen seiner neuen Bürgerschaft aufzufüllen. Aber diese dreitausend waren nur der kleinere Teil der noch vorhandenen Heloten. Denn Kleomenes befreite sechstausend weitere gegen eine Kopfsumme und nahm — am Vorabend der Schlacht von Sellasia, als sein Gegner Antigonos Doson Tegea erreicht hatte — zweitausend dieser Freigelassenen in sein Heer auf. Und als 195 v.Chr. die Römer in Lakonien einfielen, fanden sie immer noch Heloten in ihrer alten gesellschaftlichen Stellung vor.

Die beachtlichste Tat, zu der sich der starre spartanische Konservativismus noch aufraffen konnte, war der Versuch der königlichen Märtyrer Agis und Kleomenes, das »lykurgische« System zu erneuern und dem Leichnam neues Leben einzuhauchen, volle 150 Jahre nachdem der große spartanische Sieg über Athen das Schicksal dieses Systems besiegelt hatte.

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Bei diesem letzten verzweifelten Gewaltstreich wurde das aufgegebene Rad des spartanischen Lebens durch äußerste Kraftanstrengung in konservativem Sinne rückwärts einmal ganz herumgedreht. Und diese gewaltsame Bewegung zerbrach nun endlich den schon längst aus den Fugen geratenen Mechanismus. Kleomenes' Eingriff tötete einen Körper, der nicht mehr zu retten war. Die Hand, die das geknickte Rohr wieder aufrichten wollte, zerbrach es; und der Hauch, der eine neue Flamme entfachen sollte, brachte das glimmende Licht ganz zum Erlöschen.

Danach gab sich Sparta ganz der Erinnerung an die Vergangenheit hin und zeichnete sich — wenn das eine Auszeichnung ist — durch nichts anderes aus als durch den besonderen Eifer, mit dem es sich jener ins Spielerische verfeinerten Pflege der Überlieferung hingab, die in der ganzen hellenischen Welt während der ersten beiden Jahrhunderte des römischen Reiches Mode war. Die Spartaner liebten es wie alle ihre Zeitgenossen, Ehreninschriften in einer Karikatur ihres altertümlichen Dialektes abzufassen. Aber in Sparta artete diese harmlose pedantische Altertümelei zu krankhafter Grausamkeit aus. 

Das »lykurgische« System hatte einen alten Fruchtbarkeitsritus, der darin bestand, Knaben am Altar der Artemis Orthia zu geißeln, im Blick auf seine eigenen finsteren, aber doch noch aufs Nützliche gerichteten Zwecke zu einem Wettstreit im Ertragen von Schmerzen umgewandelt. Dieser Brauch wurde zur Zeit Plutarchs noch übertrieben; und es war eine sadistische Scheußlichkeit, wenn Knaben zu solcher Hysterie gebracht wurden, daß sie sich widerstandslos zu Tode peitschen ließen.

»Dies wäre auch bei der heutigen spartanischen Jugend möglich«, schreibt Plutarch, als er die berühmte Geschichte von dem spartanischen Knaben und dem gestohlenen Fuchs nacherzählt, »da ich selbst eine Reihe von ihnen durch das Auspeitschen an Orthias Altar habe sterben sehen.« Dieses zwecklose übermenschliche — oder unmenschliche — stumme Leiden ist charakteristisch für das spartanische Ethos und ein Symbol des Schicksals der Stadt. Denn wenn je ein Spartiat für den Frieden seiner Seele betete, daß tantus labor non sit cassus, so hauchten seine Lippen dieses Gebet umsonst.

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Die Nichtigkeit der spartanischen Wünsche wird in dem Ergebnis einer sonst unbedeutenden Schiedssache deutlich, über die der römische Geschichtsschreiber Tacitus — anscheinend ohne ihrer tieferen Bedeutung inne zu werden — in seinen Annalen des römischen Reiches für das Jahr 25 der christlichen Zeitrechnung berichtet:

»Abgeordnete der lazedämonischen und der messenischen Regierung trugen die Angelegenheit betreffend die Rechtsverhältnisse des Tempels der Diana Limnatis vor. Die Lazedämonier behaupteten, daß der Tempel von ihren Vorvätern auf lazedämonischem Gebiet gegründet worden sei, und stützten diese Behauptung dadurch, daß sie sich auf literarische Zeugnisse, und zwar geschichtliche und poetische, beriefen. Sie erklärten, daß ihnen der Tempel von Philipp von Mazedonien im Kriege weggenommen und später auf Grund eines von Gajus Caesar und Marcus Antonius verfügten Gerichtsurteils zurückgegeben worden sei. 

Die Messenier ihrerseits brachten die alte Aufteilung des Peloponnes unter die Nachkommen des Herkules vor und behaupteten, daß das Gebiet von Dentheliatis, auf dem der Tempel liegt, ein Teil des bei dieser Gelegenheit ihrem König zugefallenen Landes gewesen sei. Sie erklärten, daß noch in Stein gehauene und in altertümliche Bronze geritzte Aufzeichnungen über diesen Vorgang vorhanden seien, und sie fügten hinzu, wenn es auf literarische Zeugnisse ankäme, so könnten sie die Lazedämonier auch hinsichtlich dieses Beweismaterials durch Wert und Fülle dessen, was sie zu zitieren wüßten, überbieten

Was König Philipps Entscheidung betreffe, so argumentierten sie, sei sie kein Akt willkürlicher Gewalt, sondern auf die Tatsachen gegründet gewesen und durch gleichlautende Urteile des mazedonischen Königs Antigonus und des römischen Generals Mummius, ferner durch einen Schiedsspruch der milesischen Regierung und neuerdings durch die Entscheidung des Atidius Geminus, Statthalters der römischen Provinz Achaja, bestätigt worden. 

Auf Grund dieser Darlegung wurde das Urteil zugunsten der messenischen Regierung gefällt.«

 

So stritten die Spartaner noch im ersten Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung — und dieses letzte Mal ohne Erfolg — um dasselbe gebirgige Grenzgebiet zwischen dem Eurotastal und Messenien, um das ihre Vorväter einst im 8. Jahrhundert v.Chr. gekämpft und das sie erobert hatten.

Ein Streit um die Dentheliatis war die Ursache des Ersten Messenischen Krieges gewesen. Und jetzt, nach mehr als achthundert Jahren, stand derselbe Streit zwischen denselben Parteien um dasselbe unbedeutende Stückchen Land vor dem Schiedsgericht des römischen Kaisers Tiberius zur Entscheidung.

Gewiß ist kein weiterer Beweis dafür nötig, daß die Spartaner ein Volk ohne Geschichte waren.

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