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1.  Warum ich kein Dichter - im Sinne Rainer Maria Rilkes und Hugo von Hofmannsthal - habe werden können

Und Lieder sühnen nichts..... 
(Aus einem verschollenen Gedicht 1908)

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Als mein Roman <Dein Werk soll deine Heimat sein> beim literarischen Wettbewerb der Büchergilde Gutenberg 1941 zwar nicht preisgekrönt, aber zum Druck angenommen worden war, wurden wir zu einem kleinen Abendbrot eingeladen, wobei ich einige Worte über die Doppelbödigkeit der Sprache sagte:

Die Annahme meines Manuskripts ehre mich sogar, weil mir ein ganz bestimmtes Element der dichterischen Sprache abgehen müsse. Alle Dichter und Schriftsteller wurzelten in der eigentlichen Muttersprache, das heisst im Mundartlichen. Als ganz kleine Kinder hatten sie bei ihrer Mutter oder Amme, auf der Dorfstrasse oder auf der Gasse ihrer Heimatstadt das Reden gelernt (und zwar, wie der Papagei, vor allem viel Schimpfworte und mehr oder minder lästerliche Redensarten). Erst später kommt dann als Vatersprache die eigentliche Hochsprache hinzu. 

Dies ergibt eine Tiefenresonanz der Sprachkultur, eine Doppelbödigkeit, wie bei einer Geige zwischen den Saiten und dem resonierenden Boden. Ich fügte hinzu, man dürfe nicht vergessen, dass Nietzsche den Zarathustra mit deutlich sächsischem Akzent deklamiert habe. Bei seinem Freund-Feind Richard Wagner dürfte das Sächseln den Monolog des Königs Marke schier unerträglich gemacht haben. Schillers Fiesco wäre beinahe beim Theater abgelehnt worden, weil Schiller selbst vorlas und seine Schwäbelei mit seinem Pathos in unerträglichen Konflikt geriet.

Bei mir musste diese Doppelbodigkeit und Tiefenresonanz fehlen, weil die deutsche Hochsprache, die ich handhabe, gleichsam Muttersprache ist. Wo sonst darunter die Mundart eine Grundlage bietet, ist bei mir eine Schicht französischer Vatersprache anzutreffen, und ganz zu unterst spielt sogar eine dritte, russische Sprachschicht eine untergründige Rolle.

Zwar, als mein Vater nach Liquidierung seiner Petersburger Positionen im Mai 1891 nach Lausanne und Chailly heimkehrte, war ich noch nicht ganz ein Jahr alt, da ich am 5. Juni 1890 geboren war. Aber ich soll schon phänomenal viel russisch gesprochen haben und zwar eben aus dem Grunde, welcher die russischen Professoren veranlasst hatte, zu prophezeien, ich würde idiotisch werden und überhaupt niemals richtig sprechen lernen. 

Um 1860 war mein im Jahr 1828 geborener Vater nach Russland ausgewandert, zunächst nach Warschau, wo er am Mädchengymnasium als Schülerin eine gewisse Franziska-Theophile Schmidt hatte, die viel später seine dritte Frau und unsere Mutter geworden ist. Um 1870 muss mein Vater in Moskau gearbeitet haben, denn wir besitzen ein Dokument, laut welchem er 1870 seiner russischen Staatszugehörigkeit wieder entsagt, vermutlich aus Hass gegen den Zarismus. 

Denn mein Vater und meine Mutter liebten zwar die russische Volkssubstanz, als wären sie selbst Russen gewesen, aber vom damaligen Russland als Staat und Bestechungsorganisation, wenn ich so sagen darf, sagte Papa nur: „C'est une pourriture que la Russie! C'est dommage, mais c'est une pourriture." 

Seit etwa 1880 hatte mein Vater in St. Petersburg der Reformierten Gemeinde angehört, er hatte an der St. Petri-Schule als Professor für französische Literatur geamtet und nebenbei eine gutgehende Knabenpension eingerichtet. Unsere Wohnung lag am Newski Prospekt, im Scheremetjeffschen Palais. 

Nach dem Tode seiner zweiten Frau hatte er 1887 seine um siebenundzwanzig Jahre jüngere Schülerin Franziska Schmidt geheiratet, und am 5. Juni 1890 kam ich nach einer sehr schweren und nicht nur für meine Mutter, sondern gewiss auch für mich qualvoll langen Geburt um zwei Uhr nachmittags zur Welt. 

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Schon drei Monate vor meiner Geburt hatte ich eine schwere Krise überstehen müssen. Meine Mutter war von einer der Influenzepidemien ergriffen worden, die in der Pfahlstadt an der Newa immer wieder grassierten, ähnlich wie - infolge des schlechten Wassers - die Cholera. Im März 1890 war zwar meine Mutter an dieser Grippe nicht gestorben, und auch ich hatte sie überlebt, aber da die Entwicklung beim Embryo viel schneller abläuft als beim geborenen Menschen, hatte diese Influenza für mich sehr viel mehr bedeutet als für meine Mutter.

Tief beleidigt hatte ich meine Herztätigkeit eingestellt. Meine Mutter hatte mich schon aufgegeben, und ihr Gram darüber stellte eine neue Schädigung für mich dar. Nachdem ich meine Herztätigkeit wieder aufgenommen hatte, begann meine Mutter, wie sie mir später erzählt hat, vorgeburtliche Erziehungsversuche mit mir zu machen. Sie liess sich die Sterne durchs Fernrohr zeigen und beschäftigte sich systematisch mit Astronomie, weil sie überzeugt war, dass solche erhabenen Vorstellungen bei schwangeren Frauen den Charakter des ungeborenen Kindes veredeln. (Freilich darf man sich dann nicht wundern, wenn ein Hans-Guck-in-die-Luft zustandekommt.)

Wie sich später bei meinen Geschwistern herausgestellt hat, war meine Mutter eine gute Amme, doch nach meiner Geburt bekam sie eine Brustentzündung. Bereits im Juli mussten wir eine Njanja ins Haus nehmen, von der wir noch heute eine Photographie haben, wie sie mich auf dem Arm trägt. Dann aber, im September oder Oktober, kam die allerschwerste Prüfung über mein aufkeimendes Dasein. Denn die Petersburger erlebten nicht nur die normale Welle von Influenza und Cholera, es kam noch eine Epidemie von Kinderlähmung dazu, von der ich schwer mitergriffen wurde. 

Sehr viel später, als ich sowohl eine ungewöhnliche Begabung zeigte, als auch eine fast vollständige Immunität gegen epidemische Krankheiten wie die Grippe, habe ich mir überlegt, ob man nicht versuchen sollte, Kinder mit schwachen Dosen von Kinderlähmung zu impfen, um das Cerebrum zu trainieren und neue Formen der Begabung zu entwickeln.

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Der Umstand, dass so viele charakteristische und wirksame Gestalten wie Mohammed, Caesar, Dostojewskij, Flaubert, Napoleon an fallsuchtartigen Anfällen litten, brachte mich auf den Gedanken, jene Männer möchten in schwachem Masse an Kinderlähmung erkrankt gewesen sein. In neuerer Zeit hat mich die offensichtliche Vertiefung der Begabung bei Roosevelt nach seinem Anfall von Kinderlähmung auf diese älteren Gedankengänge zurückgeführt.

Damals freilich, in jenem Petersburger Herbst und Winter des Jahres 1890 hätten solche Ideen weder meinen Eltern noch auch den Ärzten naheliegen können, denn die Lähmung ergriff meine ganze rechte Seite, ich verfiel abwechselnd in Krämpfe und todesähnliche Starrezustände, und da der Herr Staatsrat Andre-Jeremie Turel wohlhabend und angesehen war, begannen die vornehmen Petersburger Kinderärzte in ihren Tarantas vorzufahren. Vor unserer Tür zog der Kutscher die Zügel an, der Herr Professor stieg aus dem Wagen und bemühte sich auf den pompösen Treppen, die für einen Asthmatiker doch einen Lift nicht ersetzen konnten, in unsere Wohnung. Ich wurde nackt ausgezogen, wie ja auch das Christkind auf den Madonnenbildern nackt ausgestellt ist. 

Der Herr Professor untersuchte mich; seinem Wissen entsprechend stellte er eine entzündliche Veränderung an der grauen Hirnrinde hinter der linken Schläfe fest und zwar, gemäss der Theorie Bichats, durch Rückschluss aus den Erscheinungen im rechten Arm und im rechten Bein. Nachdem er dann durch diese Diagnose seinem wissenschaftlichen Verantwortungsgefühl Genüge getan hatte, strich er sich den Backenbart und verkündete voller Fassung: „Dieser Knabe wird in den nächsten vierzehn Tagen sterben. Bitte fünfzig Rubel."

Ich weiss nicht, wie oft mein Vater diese fünfzig Rubel bezahlt hat, um zu hören, dass ich unwiderruflich eingehen müsse. Nach einigen Wochen stellte sich heraus, dass ich selbst anderer Meinung war als meine Ärzte, denn ich lebte einfach weiter. Angesichts dieser Tatsache blieb den Ärzten nichts anderes übrig, als ihre Diagnose aufrecht zu halten, aber ihre Prognose zu wechseln.

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Sie prophezeiten etwas bescheidener: ich würde mich zwar erholen, aber nur dürftig. Unentrinnbar würde ich zum Idioten werden und niemals wirklich artikuliert sprechen können. Schon damals scheine ich es durch mein einfaches Überleben zu einer Art von Berühmtheit gebracht zu haben, denn ich wurde zwar nicht als Clown oder Meisterschaftsringkämpfer in den grossen Petersburger Zirkus engagiert, aber im grossen Hörsaal der Petersburger Medizinischen Fakultät den Medizinstudenten als Sonderfall vorgeführt.

Papa und Mama durften dabei sein und sich mitanhören, wie der Herr Professor im Amphitheater dozierte, warum ich nun zum Kretin werden müsse und aus welchen Gründen ich unmöglich jemals einen vernünftigen Gedanken würde fassen können.

Dies geschah etwa im Februar 1891, als ich etwas über sieben Monate alt war, notabene zu einer Zeit, als meine Njanja schon voller Staunen Papa und Mama darauf aufmerksam machte, ich finge an, einzelne Worte zu artikulieren. Es ist also nicht weiter verwunderlich, wenn mein Vater, der überhaupt jähzornig war, bei jener Zirkusvorführung die Geduld verlor. Er nahm mich kurzerhand vom Seziertisch fort, auf dem ich zur Schau lag, wickelte mich in meine Windeln, grüsste die Professoren, ging hinaus und schlug die Tür des Hörsaals dröhnend hinter sich zu. 

Auch ich selbst bin offensichtlich schon damals über die grosspurigen Fehlprognosen und die kostspielige Unfehlbarkeit der Petersburger Kinderärzte auf eine säuglinghafte Weise empört gewesen, denn ich habe, wie historisch feststeht, schon aus Widerspruchsgeist angefangen, wahrhaft Puschkin'sches Russisch zu sprechen. Nach wenigen Monaten war ich bereits ein erstaunlich beredter Säugling. Und wie später Freunde mir nicht ohne Bosheit versichert haben, habe ich seither mit Reden nie mehr aufgehört. Meine Genesung aus der Krise der Kinderlähmung hat sich also im Februar und März 1891 vollzogen. 

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Ich entwickelte mich zu einem ausserordentlich frühreifen und intelligenten Kind (was man wohl auch meiner Photographie mit der Njanja ansieht). Ich war sehr lebhaft. Daher fiel es meiner Mutter auf, dass ich immer am Abend, wenn ich zum letztenmal die Brust bekommen hatte, mäuschenstill wurde und fest einschlief. Einmal schickte sie die Njanja zu ihrem bärenstarken Iwan. Dann öffnete sie ihren Schrank und fand darin eine ganze Batterie von Wodkaflaschen. Die Njanja, die mich zärtlich liebte, trank ganz einfach gegen vier Uhr eine Viertelflasche Wodka aus, in der Zuversicht, dass ich dann gegen sechs Uhr in ihrer Milch die entsprechende Vergessenheit wiederfinden würde. 

Mama nahm meiner Amme die Wodkaflaschen weg und verbot ihr streng, derartige Schlafmittel bei mir anzuwenden, aber sie nahm keine andere Amme für mich, denn das Mädchen war ein ganz prächtiger Mensch, und möglicherweise war Mama sogar heilfroh, dass sie mich nicht mit einem Dekokt von Mohnsamen zum Schlafen brachte, was bei den russischen Bäuerinnen eine weitverbreitete Unsitte gewesen sein soll. Ein Freund von mir hat die Vermutung ausgesprochen, in Wahrheit sei ich es gewesen, der meine Amme veranlasst hätte, Wodka zu trinken. Damit billigte er mir aber eine Frühreife zu, die mir in diesem Ausmass doch nicht zu eigen gewesen ist.

Immer hat unsere Familie mit den Ärzten in Kampf gestanden. Während ich an meiner Kinderlähmung laborierte, erkrankte mein Vater an Gallensteinen. Die Petersburger Autoritäten diagnostizierten seltsamerweise eine „Hypochondrie". Mein Vater wurde schwermütig, griesgrämig und vom typischen Schweizer Heimweh erfasst. Anstatt ganz einfach nach Wien zu fahren, sich dort die richtige Diagnose zu holen und dann nach Karlsbad zu gehen, liquidierte er alle Positionen in Petersburg und kehrte mit Sack und Pack, mit Kind und Kegel, das heisst mit Mama und mir ins Waadtland zurück. Das war im Mai 1891. Hier tritt die grosse Gleichung in Kraft: Heimkehrer — Re-venant. 

Vor lauter Freude, den alten Waadtländer Andre-Jeremie Turel in der Heimat wiederzusehen, drehte man

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meinem Vater am See ein Haus an, das derart vom Pilz verseucht war, dass er es mit schwerem Verlust wieder abgab, um oben in Chailly die „Aubepines" zu kaufen, dieses Anwesen, das sich dann in den nächsten Jahrem zum Chateau des Revenants entwickelt hat. 

Später ist das Haus abgerissen worden, unsere schöne Wellingtonia aber steht sogar unter Naturschutz. Dieser Baum ist für meine Sprachentwicklung ähnlich bedeutsam wie die Vorgänge, die ich soeben beschrieben habe, denn aus meiner Beziehung zu ihm deutet sich dichterische Begabung an, während ich sonst bis zu unserer Übersiedlung nach Berlin im Jahre 1900 nur für Abenteuerromane, Astronomie und technische Experimente interessiert zu sein schien. Das ging so weit, dass ich mich weigerte, Gedichte zu lesen, und zwar mit der erstaunlichen Begründung, es stünde zu wenig auf der Seite. Es gefiel mir ganz besonders, wenn der Text die ganze Seite gerüttelt voll ausfüllte, ganz wie in meinem Anker-Steinbaukasten die Steine den Rahmen. Französisch war meine Vatersprache, und zu dieser Sprache hatte ich nur eine intellektuell-wissenschaftliche Beziehung. Eine Ausnahme machten meine Phantasien, wenn ich in das dichte Geäst der Wellingtonia emporkletterte. Dort hockte ich oft stundenlang und sah weit hinaus über den See. Das Rauschen des Windes gab mir den Eindruck, ich sei der Kapitän eines Seeräuberschiffes. Allerdings war mir der See zu klein. Infolgedessen Hess ich kurzerhand durch ein ungeheures Erdbeben die Savoyer Alpen mitsamt der Dent d'Oche einstürzen und ins Meer versinken. Dadurch öffnete sich der Genfer See zum Weltmeer, auf dem ein rechtschaffener Seeräuber wirklich manövrieren konnte. Unsere Greisenburg verwandelte sich dann in das Mykenae meiner Seestrategie, und schließlich erlag ich mit meiner Mannschaft dem Angriff gewaltiger Feindflotten, die uns von allen Seiten einkreisten und überwältigten. War es schon die Vorwegnahme der Schlussteile der Nibelungensage? Aus diesen Phantasien ist unmittelbar das folgende Gedicht erwachsen, das ich 1948 verfasst habe, nachdem ich den Lac Leman, unseren Garten und vor allem die

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heissgeliebte Wellingtonia wiedergesehen hatte. 

Obgleich ich dieses Gedicht als alter Mann gedichtet habe, wurzelt es unmittelbar in meinem sechsten oder siebenten Jahr.

 

Die Tanne beim Hause der Witwe

Wir Seeleute nahmen die Wälder mit.

Wir Hessen die Frauen am kahlen Strand.

Die Tannen, das Korn, die Dryaseichen,

Wir mähten sie ab.

Wir nahmen sie mit in den Blumentopf,

Tief unten als Ballast beim Kiel,

Tief unten als Ballast im Sternenkahn,

in den Sturm und ins grosse Versaufen.

Was sind dann die Witwen noch wert, dort am

Strand? Sind ihnen die Bäume entführt In die Weite der See.

Einst war ich ein Kind.

Die Tanne am Hause, sie war mein Mast.

Wie Specht am Stamm, so klomm ich am Baum,

In der Rahen Geäst,

Und es wogte die Tanne wie Mäste dahin,

Es fegte der Sturm mir

Die Berge bei Seite.

Hoch glitt ich in offene Meere.

Hoch sass ich im Baum, 

Wie das Kind an der Amme, 

Hoch im knarrenden Baume 

Vorm Fegen der Stürme verankert.

Nun bin ich ein Mann, und ich hab dich entwurzelt, 

Du mächtige Tanne vom Hause der Witwe. 

Wie mir diese Mäste im Kiel meines Schiffes, 

So wurzeln Geranien im Topfe des Töpfers. 

Ich klimme am Stengel,

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Ich setze die Äste,

Die Schwingen der Tanne,

Den Winden gemäss und der Fahrt.

Wir Seeleute nahmen die Wälder auf See.

Wir lassen die Mädchen wie Witwen am Strand.

Was sind dann die Weiber am sandigen Ufer?

Das ist unser Pfand.

Eurer Treue am Strande.

Denn kentert dies Holz

Mit uns in die Tiefe,

Und bringen wir heil nicht

Die Masten nach Hause,

Wer sucht noch die Witwen in steinerner Öde?

 

Dieses Erlebnis um die Wellingtonia bildete, wie gesagt, eine Ausnahme in meiner geistigen Entwicklung. Sonst war Papa ganz berechtigt, zu erwarten, ich würde mich zum Physiker oder zum Astronomen entwickeln. Dass ich mich standhaft weigerte, das Einmaleins zu lernen, schien einfach meinem Sträuben gegen das Lesenlernen zu entsprechen. Auch alles, was sonst von mir an Sprachprägungen überliefert ist, ist nicht gerade dichterisch. Einmal stürmte ich in die Waschküche hinein, wo meine Mutter und die Dienstmädchen im Brodem werkten und rief: „Donnez-moi un mouchoir de poche! Le mien est blanc-fonce". 

Ein anderes Mal machte ich meinem Taufpaten, dem Herrn von Avenarius, und seinen schönen Töchtern die Honneurs, und wie ich sie in die Scheune führte, die ich ganz besonders liebte, sagte ich: „Prenez garde aux hirondelles! Elles crachent par derriere." Das Gelächter soll homerisch gewesen sein.

Nach wie vor durfte ich nicht zur Schule gehen. Papa erzog oder verzog mich auf seine besondere Weise. Ich bekam meine eigene Zeitung, erst „Mon Journal" und dann „Le Journal de la jeunesse". Papa erzog mich zu einem kleinen calvinistischen Bonapartisten. Er sagte: „Si les francais etaient devenus protestants, c'eut ete le premier

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peuple du monde". Schon recht! Aber Frankreich war eben nicht protestantisch geworden.

Zur Zeit, als man vom Pont de Chailly nach La Rosiaz und Belmont die Grand'route ausbaute (ich weiss nicht genau, in welchem Jahr), nahm man uns den ganzen unteren Teil unseres Gartens fort, und da mein Vater nicht zu den richtigen Klüngeln der Stadtverwaltung gehörte, lief die Sache auf eine halbe Expropriation hinaus. Daher mein Interesse für den alten Spruch: „En son castel Seig-neur est Roy".

Papa verbitterte vollständig. Es wurde unerträglich, sich von ihm erziehen lassen zu müssen. Ausserdem brach sein Vermögen zusammen, und Anfang 1900, also im letzten Jahr des alten Jahrhunderts, musste er kapitulieren. 

Mama, Frau Staatsrat Franziska Turel, assoziierte sich mit ihrer Mutter, Frau Professor Mathilde Schmidt, die in Berlin SO, in der Kottbuserstrasse 13 (später 19) eine seltsame Praxis eröffnet hatte. „Les Aubepines" wurden vermietet, wobei unser grosser Neufundländer Dragon auch dablieb. Es wurden ungeheure Kisten mit alledem vollgepackt, was zur Einrichtung unserer Berliner Wohnung nötig war, und, wenn ich nicht irre, am 5. Mai 1900 bestiegen wir drei Kinder, ich als der Älteste, mein Bruder Serge und meine Schwester Lili, fiebernd vor Begeisterung, den Eisenbahnzug in der Gare de Lausanne, um mit Papa und Mama gleichsam nach Amerika zu fahren. 

Es war ganz prachtvoll! Besonders deshalb, weil wir so gut wie nie Eisenbahn gefahren waren. Gegen Abend kamen wir nach Basel. Dort wurde auf den Badischen Bahnhof hinübergewechselt, was schon an sich ein grossartiges Abenteuer war, denn da wir als Auswanderer kamen, gab es mit dem Zoll unendliche Scherereien. Papa wurde ungeduldig und erklärte unserer Mutter sofort, das liesse er sich nicht gefallen, er habe immer gesagt, die Deutschen seien unmögliche Menschen. Er wollte nicht nur nach Lausanne, sondern gleich nach St. Petersburg zurück. Dass Russland eine „pourriture" war, hatte er total vergessen. Wo wir nicht weilen, dort ist das Glück.

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Schliesslich kehrten wir doch nicht nach Lausanne und Petersburg zurück, sondern wurden in die dritte Klasse eines deutschen Zuges verfrachtet, und es ging bei Nacht, wenn ich nicht irre, nach Strassburg und dann nach Frankfurt am Main. Wir Kinder sollten schlafen. Daran war gar nicht zu denken. In unvorstellbarer Begeisterung sassen wir da, im Rhythmus des Eisenbahnzuges schaukelnd und bestrebt, aus dem Fenster zu schauen. Damals gingen die Abteile noch von der Seite auf. Plötzlich, in dunkler Nacht und in brausender Fahrt, wurde die Seitentür aufgerissen und der Kontrolleur stand auf dem Trittbrett ausserhalb des Wagens. 

Hier habe ich gleichsam zum erstenmal deutsch gehört. Papa konnte sehr gut deutsch, aber genau wie englisch: er beherrschte Shakespeare wie ein Cambridger Literaturprofessor, aber mit seinem französischen Mund sprach er es so aus, dass kein Mensch ein Wort verstehen konnte. Zur deutschen Sprache stand er ähnlich. Infolgedessen brachte er dieses verhasste Idiom kaum über die Lippen. So begann unsere Mutter mit dem Schaffner zu verhandeln, der, auf dem Trittbrett stehend, seine Dienstmütze im Fahrtsturm mit der einen Hand festhalten musste. Dann wurde die Coupetür wieder zugeknallt, und der Zug ratterte weiter nach Amerika.

Einmal fuhren wir über den Rhein. Das wurde uns Kindern gezeigt, aber der Rhein kam mir gar nicht besonders breit vor, weil ich ihn mit dem Lac Leman verglich. Später fuhren wir in den damals berühmten, dreikuppeligen Frankfurter Hauptbahnhof ein. Die Rückschaltung des Zuges in diesem Kopfbahnhof interessierte uns Kinder selbstverständlich ungemein. Wir hatten das Gefühl, zunächst nach Lausanne zurückzufahren. Papa erklärte uns die Sache, und wir waren begeistert, wenigstens Serge und ich.

Am folgenden Nachmittag landeten wir dann in Berlin, etwa am sechsten oder siebenten Mai 1900, ich weiss nicht mehr, ob auf dem Anhalter oder dem Potsdamer Bahnhof.

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Wir stiegen umständlich aus wie Auswanderer im New Yorker Hafen, mit Sack und Pack beladen wie galizische Ostjuden, obgleich natürlich die eigentliche Wucht, Trumeau, Klavier, die ganze Schwerartillerie, erst per Fracht nachkommen sollte. Aber es sollte mich nicht wundern, wenn der Herr Staatsrat Andre-Jeremie Turel schon einige Köfferchen alte Nägel und Ketten, so das Allernötigste, als Passagiergut mitgenommen hatte.

Dann traten wir aus dem Anhalter oder Potsdamer Bahnhof auf den Vorplatz, wo die von Spitzweg erfundenen Schutzleute herumstanden und wo es vom Droschkenstand her nach Pferdeäpfeln roch. Unser Dienstmann ging zu einem Schutzmann hinüber, der, ähnlich wie ein Moabiter Gefängniswärter, in der Hand einen Ring voll Droschkenmarken hielt. Streng wie Zeus bei der Verteilung der Welt, gab uns der Schutzmann eine Marke, die betreffende Droschke wurde herangewinkt, und Lili, Serge und ich setzen uns in ihren Hintergrund, den Eltern gegenüber. Die kleinen Bauernschuhe, mit denen wir ein unerträgliches Getrampel veranstalten sollten, hingen in der Luft, und auf dem Kopf hatten wir unsere runden Strohhüte mit grossem Rand und Gummiband unterm Kinn; also ausgerüstet fuhren wir aus zur Eroberung der Weltstadt Berlin.

Vermutlich ging die Fahrt durch die Königgrätzerstrasse, durch das unvorstellbar interessante Gewühl, bis zum Halleschen Tor, wo ganz neue, hervorragende Dinge im Werden waren. Denn damals wurde gerade die Oststrecke der Berliner Hochbahn vom Gleisdreieck über Möckern-brücke, Hallesches Tor, Prinzenstrasse, Kottbuserstrasse, Oranienstrasse, zum Strahlauer Tor gebaut. 

Der mittlere Reitweg in der ziemlich breiten Köpenickerstrasse war zerwühlt und aufgerissen, und riesenhoch für uns Kinder ragte überall, feuerrot angestrichen, das Gerüst der entstehenden Hochbahn in die Luft. Dort fuhren wir nun in unserer Droschke bei leuchtendem Sonnenschein mit unseren Sonnenblumenhüten entlang. Wahrscheinlich ist eine imperiale Weltstadt niemals

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vergnügter von kleinen Provinzkindern erobert worden. Nach vielen Rumplern, Halten, furchtbarem Geschrei ineinander verwickelter Droschkengäule (denn damals gab es noch keinen Polizeipräsidenten v. Jagow, der unter der Parole: „Die Strasse gehört dem Verkehr" den Droschkenbetrieb in Berlin, aber auch den Zug der Volksdemonstrationen, nach amerikanischem Muster zu schleusen begann) gelangten wir bis zum Kottbuser Tor, wo der Hochbahnhof gerade aufgebaut wurde. Dann bogen wir nach rechts ein, in eine kurze, breite Strasse, die Kottbuserstrasse zwischen Kottbuser Tor und Kottbuser Brücke, wo sich in den folgenden Jahren auf dem Gebiete der Soziologie und Geschichtsphilosophie nicht unwesenüiche Dinge abspielen sollten.

Damals war die Kottbuserstrasse in voller Metarmorphose begriffen. Man war drauf und dran, die Vorgärten niederzulegen und die alten, isolierten und unrentablen Häuser durch eine vollrentable Militärfront von Mietkasernen zu ersetzen. Aber dieser Prozess war erst im Keimen. Rechts stand noch eine altersgraue kleine Villa im Schinkel-Stil mitten in einem Garten, zur Linken aber zeigte uns Mama schon unsere künftige Heimat: hinter einem grossen, kahlen, steinernen Vorplatz, hinter einem übertrieben breiten Trottoir, das Haus Kottbuserstrasse 13, später Nr. 19.

Dieses Haus gehörte einem Herrn Pietsch, dem es gelungen war, es dem ersten bankerotten Erbauer abzuluchsen. Davon wussten wir aber noch nichts. Das einzige, was wir sahen, war auf dem rechten Balkon im ersten Stock eine strenge alte Dame im schwarzen Seidenkleid mit einer weissen Spitzenrüsche auf dem Scheitel, im Stil der Königin Victoria, aber ausserordentlich viel stattlicher. Diese alte Dame, die einigermassen wie ein Geier aussah, blickte voller Wohlwollen der Brut ihrer Enkel entgegen. Papa und Mama entstiegen der Droschke, dann trampelten wir drei Kinder heraus und standen nun, bouche bee, wie man französisch sagt, auf dem grossen kahlen Vorplatz einer „klassischen" Berliner Häuserfront gegenüber.

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Da das Haus Kottbuserstrasse 13 dazu bestimmt ist, in die Geschichte einzugehen, sei es kurz beschrieben, so wie man auch in Kriminalromanen das Gespensterhaus beschreibt, in welchem der Mord geschehen wird. Rechts unten befand sich der Möbelladen des Herrn Pietsch. Später zog dann mein Freund, der herkulische Kaschemmenwirt Wagner, in diese Räume ein. Links war der Laden völlig ausgeräumt, warum und zu welchem Ende, werden wir noch sehen. In der Mitte öffnete sich der stattliche Eingang, dessen dreiteilige Eichentür bereits einigen Barockprunk aufwies, allerdings durchsetzt mit anderen Stilformen, die ich für altägyptisch erklären möchte. Dementsprechend waren die oberen Teile dieses Mietshauses ausgeschmückt. An den Karyatiden, Voluten, Kapitalen und so weiter sah man, dass Puget und Goujon nicht umsonst gearbeitet hatten, alles aus Gips und schon etwas verräuchert, aber doch schön und prachtvoll. Es öffnete sich das Eichentor, und heraus trat in ihrer schwarzen Seidenrobe, begleitet von ihren dienenden Frauen, die Königin Victoria persönlich. Feierlich begrüsste die vier-undsechzigjährige Frau Professor Mathilde Schmidt ihren zweiundsiebzigjährigen Schwiegersohn, den Herrn Staatsrat Andre-Jeremie Turel, und darauf trampelten wir den herrlich ausgemalten Flur des Hauses mit den Stukkaturen und dem stummen Portier, die läuferbelegten Treppen empor, wo mich das prachtvolle Treppengeländer sofort an die Schachfiguren von Papa erinnerte. Aber schon hier bemerkte Grossmama zu Papa und Mama: hier in Berlin dürften wir Kinder nicht so lärmig mit den Schuhen auftreten.

Oben im ersten Stock nahm die Firma „Frau Professor Mathilde Schmidts Teehandlung en gros" die eine Vorderwohnung ein. Die andere Vorderwohnung würde für uns erst per ersten Juli frei. Bis dahin musste Papa mit uns Kindern in den leerstehenden Parterreladen ziehen. Die Schaufenster wurden mit grossen grünen Tüchern dicht verhängt. Das war nicht überflüssig, denn schon bei unserem Einzug hatten sich die Strassenkinder versammelt,

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und nun begannen sie sich mächtig für uns zu interessieren. Bald erfuhr ich, warum Papa mich schon in Chailly vor den Jungens gewarnt hatte, denn sobald sie erkannten, dass wir kleine Landpomeranzen waren und Papa ein völlig hilfloser und leicht zu reizender alter Herr, begannen sie eine Art Feldzug gegen uns zu unternehmen. Im selben Masse, wie Papa hier in der Kottbuserstrasse zum „Utschitel" (Hauslehrer in vornehmen russischen Familien) seiner eigenen Kinder herabzusinken drohte, begannen sie ihn zu reizen. Es wurden sogar Steine gegen unsere verhangenen Schaufenster geworfen, nicht viel anders als in Wilhelm Buschs „Max und Moritz", um den Schneidermeister Bock herauszulocken. Alle diese Dinge machten auf mich einen gewaltigen Eindruck. Bedeutete doch diese Übersiedlung von Chailly nach Berlin eine Auswanderung im allertiefsten Sinne. Es war der Wechsel vom Patriarchat zum Matriarchat, vom Dorf zur Weltstadt, von der französischen Vatersprache zur deutschen Muttersprache, alles zugleich. Daraus ergab sich ganz natürlich eine Reihe von hochinteressanten Konflikten. Von jetzt ab verdiente unsere Mutter unser Leben, als rechte Hand unserer Grossmutter im Geschäft, welches damals noch glänzend ging und sogar erst recht aufblühte. Papa, der zur deutschen Sprache und zur deutschen Literatur ungefähr so stand wie Friedrich der Grosse, verschanzte sich in seine französische Kulturposition. Ungeachtet dessen, dass wir Kinder uns nun unentrinnbar in den Berliner Kulturkreis einleben mussten, verbot er uns, untereinander deutsch zu sprechen. Er liess fortlaufend französische Bücher für mich aus Lausanne und Paris kommen, „Ivanhoe" und „Quentin Durward" von Walter Scott, selbstverständlich in französischer Übersetzung. Dann Jules Verne, den ich zärtlich geliebt habe, während ich von Karl May niemals habe etwas wissen wollen. Papa vertrat bei mir das Französische und zu gleicher Zeit die physikalische-technische Literatur. Deutsch verstand ich zunächst überhaupt nicht, ich wusste nicht einmal, was die Gassenjungen uns nachriefen.

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Dieser groteske Zustand, als wären wir in Berlin nur auf der Durchreise gewesen, wie Engländer auf dem Gurnigel, konnte nicht lange andauern. Zwar versuchte Papa, mich wie in Chailly der Schule fernzuhalten, aber hier in Berlin zog das nicht. Es kam jemand von der Schulbehörde und besichtigte mich. Alle Bemühungen Papas, mich als kleinen Halbidioten darzustellen, fruchteten gar nichts. Schliesslich versuchte er es mit der Betonung des Umstandes, ich verstände kein Deutsch, aber unerschütterlich erklärte der Beamte, so dumm sähe ich nicht aus, ich würde es schon lernen. So musste ein deutscher Student engagiert werden, der mir Deutschstunden gab, und nun machte ich solche Fortschritte, dass alle bass erstaunt waren. Es half nichts. Schon zu Michaelis des gleichen Jahres 1900 musste ich zur Schule. Schrullenhaft, wie mein Vater war, beschloss er nun, mich und Serge in die Gemeindeschule zu stecken. Eines Tages mussten wir uns richtig die Hände waschen. Wir setzten die runden Strohhüte auf mit dem Gummiband unterm Kinn, und dann ging es zur nächsten Gemeindeschule.

Dort gab es einen mittleren Eingang, ganz ähnlich wie bei uns in der Kottbuserstrasse, nur ohne jede Pracht, dunkel wie in all diesen Ziegelsteingebäuden. Gleich in diesem Gang bekamen wir einen Vorgeschmack der kommenden Dinge. Zwei kleine Jungen standen sich gegenüber und spuckten einander tapfer ins Gesicht. Der Herr Staatsrat Andre-Jeremie Turel stutzte, dann gingen wir aber doch weiter ins Zimmer des Direktors. Es war ein grosser, hagerer, grauer Mann. Papa begrüsste ihn, wir aber behielten unsere Strohhüte ahnungslos auf dem Kopf, denn wenn ein Hut ein Gummiband hat, so ist er fast schon ein Militärhelm, den man nicht abnimmt. Der Direktor empfand aber offenbar als Zivilist, denn er riss mir einfach den Hut vom Kopf herunter, worauf mein Vater ihm ebenso einfach erklärte, das lasse er sich nicht bieten, mir den Hut wieder aufsetzte, höflich Adieu sagte und mit uns den Raum verliess. Stracks ging es nun zur Louisenstädtischen Oberrealschule

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in der Dresdenerstrasse, wo der Direktor sehr höflich war und mich nach einer kurzen Prüfung in die obere Abteilung der zweiten Vorschulklasse aufnahm, wo mein Lehrer ein gewisser Rebhuhn war, ein unendlich hagerer Mann, der wie Abraham Lincoln aussah. Wenn er in der Gesangstunde die Geige spielte, hätte man vermeint, das ganze Zeitalter Spitzwegs neu zu erleben.

Ich kam also gleich in die obere Abteilung der zweiten Vorschulklasse, war aber schon zehn Jahre alt. Dies ist wichtig für mein ganzes Verhältnis zur Schule und zu den Klassengenossen. Ich war immer eigentlich viel zu alt und in mancher Beziehung überreif, während es in der Asymmetrie meiner Entwicklung liegt, dass ich wiederum in anderer Beziehung eigentlich kindlicher als meine Mitschüler war.

In der ersten Vorschulklasse, beim Lehrer Otto, der rund und rot im Gesicht so aussah wie ein sehr gemüüicher, pensionierter Schiffskapitän, war unser Primus Carl Blü-mel, der spätere hervorragende Archäologe, der auch zwei Büsten von mir gemacht hat. Wir müssen schon damals eine beträchtliche Sympathie für einander empfunden haben, denn als wir aus der Vorschule zur Sexta hinüberwechselten, ging er einmal auf dem Hof neben mir her und redete mir freundlich zu, ich solle doch mit ihm ins Louisenstädtische Gymnasium kommen, während Papa beschlossen hatte, mich ins Leibniz-Gymnasium zu schicken.

Von unserem Haus ging es ein paar Schritte bis zum Kott-buser Tor, dann rechterhand die Hochbahn entlang bis zur Mariannenstrasse, dann wieder nach links einige hundert Meter bis zum schönen Mariannenplatz. Es war ein Oval, das mich später immer an den Circus Maximus denken Hess, sehr geeignet, um dort Wagenrennen abzuhalten. Im Mittelteil standen schöne, grosse Bäume mit Spielplätzen für die Kinder. Geradeaus erhob sich die backsteinerne Mariannenkirche, rechts davon die backsteinerne Anlage des Leibniz-Gymnasiums und zur Linken die grossen, backsteinernen, kasernenartigen Gebäude des Bethanien-Krankenhauses.

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Zu Ostern 1902 wurde ich Gymnasiast in der Sexta des Herrn Oberlehrer Dr. Zeck. Unser Primus war ein geweckter kleiner Kaufmannssohn namens Egon Löwenstern.

Schon damals war ich bei weitem der Beste im Deutschen. Zu Hause hatte mir unsere Wirtschafterin Hedwig Volkmer eine einbändige Ausgabe von Schillers sämtlichen Werken gegeben, wie ein Lexikonband in zwei Kolumnen gedruckt, und während das Französische für mich die Sprache der Seeräuberromane, der „Astronomie populaire", Plutarchs und Jules Vernes war, wurde meine Muttersprache deutsch, von vorneherein für mich die Sprache der Dichtung.

Ich begann geradezu fanatisch Schiller zu lesen, dann Rückert, Platen, Heine, und wie ich alle diese Dichter, auch Strachwitz und Bürger verschlang und en masse auswendig behielt, begann ich selbst, mit Verlaub gesagt, das Dichten zu exerzieren. In einer typisch epigonenhaften Weise habe ich jahrelang alles gebaut, was es an Kunstformen gibt, Ottaverime, Spencer-Stanzen, Sonette, Sizilianen, Ghasele, Terzinen, auch griechische Strophen nach Alkaios und Sappho, Anapäste, den Kretikus, alles, was weit und breit aufzutreiben war.

Die Metrik interessierte mich leidenschaftlich, vielleicht als Ersatz für die eigentliche Musik, deren Technik mir immer fremd geblieben ist. Vor allem aber trat bei mir die Metrik offensichtlich als Ersatz für die Grammatik auf. Erstaunlich früh habe ich bemerkt, dass Homer vom Aorist und vom Futurum exactum sehr wenig gewusst haben dürfte und dass die Grammatik eine späte, nachträgliche Systematisierung der schon toten Sprache durch die Alexandriner bedeutete.

Massenhaft behielt ich Verse auswendig. Gegen die Grammatik aber sperrte ich mich unentwegt. Wie man mir das einmal vorwarf, sagte ich: „Schon, schon, schon! Dennoch werde ich der eigentliche Dompteur des deutschen Verbums gewesen seia"

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Dieses Durchexerzieren der Metrik hat mir auf die Dauer nichts geschadet. Immerhin lief ich Gefahr, ganz und gar in die Gesellschaft eines Platen, Geibel und Leuthold zu geraten, in diesen leerlaufenden Formalismus von Dichtern, die vielleicht tief an ihrer Zeit leiden, ihre Kunstformen aber ganz unabhängig davon mit den abgedroschenen Motiven füllen, die Horaz von den Griechen entlehnt hat, Ronsard von Horaz und Lamartine von Ronsard. Die Gefahr war umso grösser, als mein Wesen von vorneherein tief asymmetrisch und kentaurisch aufgespalten war, und ich ausserordentlich naiv und lebhaft empfand. In der Sexta hatten wir Religion bei einem kleinen zornigen Herrn namens Lohsee. Eines Tages fragte er uns, warum es in der Bibel heisse, der Prophet gelte nichts in seiner Heimat und seinem Vaterlande. Ich meldete mich stürmisch, denn ich wusste es ganz genau. Lohsee winkte mir, und ich erklärte: „Der Prophet gilt nichts in seiner Heimat, weil dort die Leute die Dummheiten gesehen haben, die er als kleiner Junge gemacht hat!"

Darauf schwoll der Herr Professor auf seinem Katheder vor Zorn an wie ein Frosch und brüllte mich an: „Du meinst wohl die Dummheiten, die du selber gemacht hast, du Lümmel! Zwei Stunden Arrest wegen Gotteslästerung!" Die Klasse freute sich ungeheuerlich, und ich war tief befremdet.

Zu Hause beschwerte ich mich bei Papa, der seinerseits glücklich'war, in der Schule krakeelen zu dürfen. Er stürzte zum Direktor, damals noch Friedländer, der zu vermitteln suchte, worauf es bei einer Stunde Arrest sein Bewenden hatte.

In der Quinta bekam ich dann als Ordinarius den Professor Dr. Franz Anders, von dem hier die Rede sein muss, weil ich ihm mächtige Anregungen verdanke. Er sah ungefähr aus wie Hjalmar Schacht, nur war er kein Bankier, sondern ursprünglich ein Theologe und ein romantischer Verehrer der arischen Rasse. Auch später hätte er niemals Nationalsozialist sein können, wohl aber war er zum Opfer der militanten Nationalisten prädestiniert.

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Anders war von vorneherein sehr freundlich zu mir, und schon nach wenigen Wochen hatten wir bei ihm einen Aufsatz zu schreiben. In diesem Aufsatz kam der Teufel vor, den ich folgendermassen charakterisierte: „Der Teufel ist auch nur ein Mensch. Wenn er in der Hölle zu arbeiten hat, zieht er sich Asbest-Babuschen an, um sich die Füsse auf den glühenden Rosten nicht zu verbrennen." 

Ich hatte also seit der Zeit Lohsees nichts hinzugelernt Diesmal wurde ich aber nicht wegen Satanslästerung in Arrest gesteckt, vielmehr las Anders diesen Aufsatz im Lehrerzimmer vor, wo sogar strenge Oberlehrer sehr darüber gelacht haben sollen. Von da ab war ich für Professor Anders ein singulärer Mensch wie der junge Goethe für seinen Vater, und er beschäftigte sich mit mir in ebenso rührender wie gefährlicher Weise. Im Kapitel „Warum ich kein Deutscher und auch kein deutscher Revolutionär habe werden können" werde ich beschreiben, wie er mich zum Nationalsozialismus hat verführen wollen und wie ich mein Geschichtsbild gerade im Kampf gegen ihn entwickelt habe. Hier haben wir es aber nur mit der Literatur und mit der Frage meiner dichterischen Berufung zu tun. Am fünften Juni 1904 wurde ich vierzehn Jahre. Damals war unser Vater schon sechsundsiebzig. Schon in der Jugend hatte er das eine Auge beim Florettfechten verloren, nun trat an seinem einzigen Auge eine Netzhautablösung auf, die von einem Augenarzt namens Professor Settegast meines Erachtens ganz falsch, fast möchte ich sagen schikanös und sadistisch behandelt wurde. Papa hatte furchtbare Schmerzen und erblindete trotzdem. Dabei stellte sich eine völlige Verzerrung seines Charakters ein, und ab Oktober, November ausgesprochenes Irresein. Am ersten oder zweiten Dezember 1904 stürzte er dann aus dem Fenster auf den gepflasterten Vorplatz vor unserem Hause und kam in die Charite, wo er am fünften Dezember gestorben ist. Fast genau vierzehn Tage später brach bei mir die Pubertät aus, und zwar in Formen, die ich immer wieder mit den Erscheinungen dieser Krise beim vulka-

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nisch genialen französischen Mathematiker Evariste Galois verglichen habe.

Was ist und aus welchem Grunde muss die Pubertätskrise bei jedem einzelnen Menschen und also auch soziologisch und politisch studiert werden? 

Nur wer Kinder erzeugt, sorgt für die biologische und auch für die geschichtliche Fortdauer seiner Art. In diesem Sinne wird der Mensch erst durch seine Pubertätskrise für seine Gattung, für sein Volk, auch für die tragende und führende Kulturgruppe der Menschheit wertvoll. Gerade Galois aber ist typisch dafür, dass der hormonale Umbruch der Pubertätskrise den Menschen auch in den anderen Sektoren seiner Persönlichkeit knicken, steigern oder umsteuern kann. 

Selbst wenn man der Psychoanalyse eine Überschätzung des Sexualitätsfaktors vorwirft, lässt sich nicht leugnen, dass die hormonale Überschwemmung des Körpers nach der Sexualreifung auch die dichterische oder malerische Begabung des betreffenden Menschen beeinflussen wird. Vermag sie sie auch zu wecken? Das leugne ich unbedingt. Es gibt sogar eine ganz bestimmte Gattung von Dichtern und Dichterinnen, die ein erstes, charmantes Buch schreiben, voll von ihrem eigenen Lebensfrühling, voll von dem Reiz des Jugendflaums, den die Schmetterlinge auf ihren Flügeln tragen. Diese Dichterinnen und Dichter bringen ein erstes Buch heraus, welches die gröss-ten Hoffnungen erweckt, und hernach kommt überhaupt nichts mehr, was strukturbildend wäre für die grosse Geometrie des Lebendigen, an welcher Dichter wie Aischylos, Dante, Shakespeare mindestens so grundlegend arbeiten wie die grossen Mathematiker auf ihrem Gebiet. Von dieser Bedeutung der Pubertät, die so mannigfaltig ist wie die Persönlichkeit des Menschen selbst, wird nochmals in den folgenden Kapiteln zu reden sein, vor allem im fünften und sechsten Kapitel. Aber schon hier, wo es sich um meine dichterisch-künstlerische Begabung handelt, muss von meiner Pubertätskrise die Rede sein. War ich bis dahin ein physikalisch-praktisch eingestellter Mensch gewesen? Und haben die grossen individuellen Frühlings-

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gefühle der Pubertät bei mir dichterische Ergüsse ausgelöst? Es ist sehr wichtig festzustellen, dass dies keineswegs der Fall gewesen ist. Wenn es eine grosse Zäsur in meinem Leben gibt, eine Grundschwelle, bei deren Überschreitung ich mich von einem Begabungstypus zum anderen verwandelt oder bekehrt habe, so ist dies das Jahr 1900, wo ich von Chailly nach Berlin, vom Patriarchat zum Matriarchat und von der Mittelmeerkultur zum deutsch-englisch-russischen Kulturzonengürtel hinübergewechselt habe.

Es kann gar nicht scharf genug betont werden, dass ich das Dichten zusammen mit der deutschen Sprache erlernt habe. Wie schon gesagt hatte mir eine Wirtschafterin eine lexikonartige Ausgabe der sämtlichen Werke von Friedrich Schiller geliehen (später geschenkt), und zwar mit ausdrücklicher Erlaubnis meiner Mutter. In dieser einbändigen Gesamtausgabe von Schiller, die in einer gewissen Weise die späteren Dünndruckausgaben vorwegnahm, nahm Schillers Drama „Semele" nur ganz wenige Seiten ein, fast wie eine sehr lange Ballade. Auch die Trilogie Wallensteins umfasste nur die Seitenzahl einer dünnen Broschüre. Alles war hier schon so in einem Herbarium kondensiert und zusammengepresst wie die hundertachtzig Millionen Jahre der Saurierentwicklung im Sekundär in ganz wenigen Kapiteln meines Buches „Von Altamira bis Bikini".

Es ist wesentlich, dass ich bei meinem Eintritt in die deutsche Sprache und Literatur zu allererst ein solches Konzentrat in die Hand bekam und nachzudichten begann. Daraus ergab sich, schon etwa drei Jahre bevor meine eigene Pubertät mir romantische oder biotische Themen stellte, ein nur allzu schematisches, formales Durchexerzieren „klassisch" gewordener Dichtungsformen, an denen vor mir schon alle Begabungen wie Geibel, Leuthold, Heyse zwar nicht zugrundegegangen, wohl aber auf ein totes Nebengeleise, in eine alexandrinische Sackgasse der Literatur, der Weltliteratur sogar, abgelenkt worden waren. 

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Wenn ich in diesem Sinne, im Sinne eines Platen, Chamisso und Rückert, eines Paul Heyse, Emanuel Geibel, weitergedichtet hätte, was hätten meine Literaturprofessoren am Leibniz-Gymnasium und was hätte sogar Kaiser Wilhelm dagegen einwenden können? Hätte ich nicht zum Literaturbruder eines Ernst v. Wildenbruch (und auch eines Detlev v. Liliencron) gedeihen müssen?

Um diese Frage gewissenhaft zu beantworten, muss man sich klar machen, dass gerade romantisch verkommende Dichter wie Nikolaus Lenau gerne singen und reimen:

Um meine wunde Brust geschlagen 

Den Mantel der Melancholei, 

Kam ich, vom Lebenssturm getragen, 

An dir, du Herrliche, vorbei.

Den gleichen Kaisergöttermantel, in den übrigens auch schon bei Michelangelo Gottvater wie in eine Kosmo-chrysalide eingehüllt ist, finden wir immer wieder beim Odysseus, bei Schiller in seiner Ballade vom Grafen von Habsburg, überhaupt bei allen Balladendichtern, wenn ihre Helden mit ihrer politischen Weisheit zu Ende sind. Gerade aus diesen Erinnerungen heraus habe ich sehr viel später einer Gedichtsammlung den Titel gegeben: „Vom Mantel der Welt".

Auch ein solcher Mantel ist, wenn ich so sagen darf, doppelbödig, wie ich es eingangs dieses Kapitels von der Sprache als „Mantel" unseres Welterlebens gesagt habe. Warum wurde nun nach meiner Pubertät der Sprachmantel allzu eng? Warum zerriss dieser Sprachmantel in Konflikten, was eigentlich mit Sprache und Dichtung ausgedrückt werden sollte, auszudrücken wesentlich war? Bis zur Psychoanalyse im Jahre 1917 war ich ein Mensch, der schwer geboren worden war, der nur mit unendlichem Gähnen, mit Mühe am Morgen aus dem Schlaf und aus dem Bett zum Tagewerk emportauchte. 

Alle paar Tage war ich in Gefahr, zu spät zur Schule zu kommen. Dann musste ich den Weg von daheim bis zum Leibniz im Marathonlauf hinuntertraben. 

Das ging am schönen,  ...

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