2. Ein Bild der Erstarrung: Verkrustete Bildung — statische Gesellschaft
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Was die jungen 68er zwischen 1962 und 1965 nicht übersehen konnten, war die Tatsache, daß seitens der herrschenden Kreise in Wirtschaft und Politik an einem neuen Gesellschaftsmodell gebastelt wurde, in dem man auch für sie eine bestimmte Rolle vorsah. Denn viele Anzeichen sprachen bereits dafür — auch wenn dies noch nicht in das allgemeine Bewußtsein durchgesickert war —, daß die goldenen Zeiten des Wirtschaftswunders langsam zu Ende gingen. Der Traum von der nivellierten Mittelstandsgesellschaft oder der klassenlosen Wohlstandsgesellschaft, der die Phantasie so vieler professoraler Soziologenhirne angeregt hatte, begann zu zerbröckeln.
Damit Westdeutschland aus der muffigen, stickigen Enge der Wiederaufbauphase ausbrechen und auf die Weltbühne treten konnte, um dort wieder eine angemessene wirtschaftspolitische Rolle zu spielen, mußten die Produktionsprozesse neu organisiert werden. Doch noch wichtiger war: Die Bundesrepublik mußte die bisherigen gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen ändern, damit dieses Ziel verwirklicht werden konnte.
Andernfalls — dies war sowohl weitblickenden Industriekapitänen und ökonomisch versierten Politikern als auch Intellektuellen der veröffentlichten Meinung klar — würden nicht nur die Profitraten rapide fallen und die Wachstumsgesellschaft zum Stillstand kommen: Die Arbeitslosigkeit drohte, sich zum Massenphänomen zu entwickeln und die mühsam aufgebaute Loyalität zu diesem Staat in breiten Bevölkerungsschichten zu zerstören.
Es galt also drei Dinge zu verwirklichen:
Erstens mußte mit Hilfe des Staates die deutsche Wirtschaft für den internationalen Wettbewerb umgebaut und fit gemacht werden; zweitens mußten, natürlich mit tatkräftiger Unterstützung der Politik, die arbeitende Bevölkerung und ihre Organisationen (sprich vor allem die Gewerkschaften) ohne große Widerstände in dieses Projekt einbezogen werden; und drittens — dies war eine lebenswichtige Aufgabe für Parteien, Massenmedien, Kirchen etc. — galt es die Loyalität der Massen zu sichern. Dies war vor allem in der Bundesrepublik — anders als beispielsweise in den USA — deshalb eine wichtige Aufgabe, weil man im Systemvergleich mit der DDR stand und dieser keine offenen Flanken beziehungsweise Einfallstore für sozialpolitische Propaganda liefern durfte.
Für das gesamte Projekt, das sich in diesen Jahren langsam herausschälte, wurde der Name <Formierte Gesellschaft> gewählt. Die Grundzüge und Leitlinien waren von Vordenkern des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), dem mächtigen Zusammenschluß westdeutschen Kapitals, ausgearbeitet worden. Ein Wirtschaftsjournalist namens Rüdiger Altmann verfeinerte und formulierte es aus. Anschließend propagierte Ludwig Erhard es als sein ureigenstes Konzept zunächst auf CDU-Parteitagen.
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Erhard, erst Wirtschaftsminister unter Adenauer, dann dessen Nachfolger als Bundeskanzler, galt in der Bundesrepublik als Vater des Wirtschaftswunders. Ludwig Erhard umriß, verpackt in politischen Mystizismus, die Stoßrichtung des Konzepts folgendermaßen:
"Das Ziel dieser Entwicklung, die <Formierte Gesellschaft> ist das Gegenteil einer uniformierten Gesellschaft sozialistischer Prägung oder kollektivistischen Geistes. Sie ist nicht mehr von sozialen Kämpfen geschüttelt und von kulturellen Konflikten zerrissen; sie besteht überhaupt nicht mehr aus kämpfenden Gruppen und Klassen, die einander ausschließende Ziele durchsetzen wollen. Ihrem wahren Wesen nach ist sie vielmehr kooperativ, das heißt auf ein Zusammenwirken aller Gruppen und Klassen ausgerichtet. Das Ergebnis dieser Formierung ist ein vitales Verhältnis zwischen sozialer Stabilität und wirtschaftlicher Dynamik, kurz eine Gesellschaft des dynamischen Ausgleichs."
Was Ludwig Erhard im März 1965 den versammelten CDU-Größen in Düsseldorf vortrug, bezeichnete der italienische Politologe Lelio Basso als "den ersten geschlossenen Entwurf eines idealen spätkapitalistischen Herrschaftssystems"1). Diese Konzeption fand nicht nur den Beifall der CDU, sondern wurde kurze Zeit später zur Grundlage der Regierungspolitik. Und sie blieb es auch dann noch — wenn auch mit anderen Etiketten versehen —, als anderthalb Jahre später die SPD innerhalb der Großen Koalition an der Macht beteiligt war.
1) Lelio Basso: Zur Theorie des politischen Konflikts. Frankfurt/Main 1969.
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Da die Grundgedanken in immer neuen Variationen bis in die 90er Jahre wirken und die gesellschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik wie des wiedervereinten Deutschland bis heute bestimmen, ist es wichtig, einige Aspekte etwas näher zu beleuchten. Dies geschieht nicht nur aus dem Grund, weil die 68er massiv dagegen Sturm liefen — wenn auch größtenteils vergeblich —, sondern weil dargelegt werden soll, warum sie diese Richtung für falsch hielten und mit dieser Meinung auf ziemlich isolierten Posten standen.
Die Vorstellungen der Manager in den großen Konzernen, daß die industrielle Gesellschaft insgesamt als Großbetrieb angesehen werden sollte, umriß einer ihrer Vordenker, Erik Voegelin, in einem Vortrag mit dem bezeichnenden Titel "Die unternehmerische Verantwortung in unserer Gesellschaftsordnung" folgendermaßen:
"Im Kern des Problems steht die Steigerung des Wohlstandes für alle Mitglieder der Gesellschaft durch die Steigerung der technischen Produktivität und die Rationalisierung des Arbeitsprozesses. Diese Steigerungen sind aus betriebstechnischen Gründen notwendig mit dem Anwachsen der wechselseitigen Abhängigkeit aller Sektoren der Gesellschaft vom sachrationalen Arbeiten in den jeweils anderen Sektoren verbunden.
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Das Phänomen, das Karl Marx so sehr erregte, nämlich die Abhängigkeit des Industriearbeiters in seiner materiellen Existenz vom Funktionieren eines Betriebs, an dem er kein Eigentumsrecht und über den er keine Kontrolle hat, ist zum allgemeinen Phänomen der Interdependenz geworden, ohne daß dadurch die einzel-betrieblichen Probleme beseitigt wären.
Die moderne Industriegesellschaft ist ein Gesamtunternehmen, mit Dispersion der unternehmerischen Initiative auf Personen und Verbände, Industrieunternehmen im engeren Sinne und Gewerkschaften, öffentliche und private Bürokratien, Manager, Werbe-, Informations- und Kommunikationsdienste, Organisationen des Verkehrswesens, Schulsysteme, Organisationen der Forschung durch Universitäten, durch Wirtschaftsunternehmen und auch durch die Regierung, die Gesetzgebung für die Sozial- und Wirtschaftsordnung, die Organisation der Regierung und Parlamente, die internationalen Organisationen und viele ähnliche Einrichtungen. In diesem Sinne haben wir von einer Demokratisierung der Unternehmerfunktion gesprochen. — Das Gesamtunternehmen, genannt Industriegesellschaft, hat jedoch, eben wegen der Dispersion der Unternehmerfunktion, die Eigentümlichkeit, im Ganzen ein Unternehmen ohne Unternehmer zu sein. Es kann nur bestehen, wenn alle zur sachlichen Leistungsfähigkeit erforderlichen unternehmerischen Initiativen freiwillig-kooperativ erbracht werden.
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Das ist wiederum nur möglich, wenn die zur Kooperation erforderlichen Institutionen der Information, der Kommunikation, der Beratung und des Interessenausgleiches adäquat organisiert sind.
Möglich ist es auch nur, wenn niemand, selbst im Falle größerer Meinungsverschiedenheiten, die Kooperation ernstlich verweigert. Vor allem ist es nur möglich, wenn das fundamentale gegenseitige Vertrauen, das auf der gemeinsamen Anerkennung geistiger Ordnung beruht, nicht radikal durch Ideologien und gnostische Verteuflungspsychologie gestört wird. Ganz offenbar erfordert eine Industriegesellschaft für ihr Funktionieren in demokratischer Form von ihren Mitgliedern ein sehr hohes Maß nicht nur von unternehmerischer Initiative, sondern auch von Disziplin der Zusammenarbeit. Sie ist kein soziales Milieu, in dem schrullige Ideen, Käuze und >Herren im eigenen Haus< (hier waren explizit Vorstellungen der rebellierenden Studenten gemeint, Anm. d. Autors) in verantwortlichen Positionen geduldet werden können."
Und er beschließt seinen Vortrag mit einer Drohung an die politisch und gewerkschaftlich Verantwortlichen:
"Wenn die Kooperation in demokratischer Form versagt und es zu ernstlichen Störungen des Unternehmens kommt, in deren Gefolge größere Sektoren der Gesellschaft in ihrer materiellen Existenz bedroht sind oder sich bedroht fühlen, besteht die Gefahr, daß dieses Unternehmen sich einen Unternehmer gibt ..., daß präventiv Rechtsbewegungen vom autoritären Typus ihn stellen."2)
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Die Stoßrichtung der Ausführungen war klar. Die Wucherungen des Pluralismus sollten beschnitten werden. Die "Formierte Gesellschaft" wurde verstanden als eine Gesellschaft, die sich auf befestigte, am Gemeinwohl orientierte Gruppen stützt, die über ein gesamtgesellschaftliches Bewußtsein verfügen. Sie mußte auf dem freien Zusammenwirken aller Gruppen und Interessen bestehen, die sich gesamtgesellschaftlichen Zielen unterordnen. Ludwig Erhard formulierte es folgendermaßen: "Wir brauchen die verpflichtende Hingabe an das Staatsganze."3)
Doch das bedeutete nichts anderes als die verpflichtende Unterordnung des Bürgers unter die Obrigkeit, unter den Staat als ein höheres Ganzes, unter das abstrakte Ziel des Gemeinwohls. Dieses durfte freilich nicht aus einer Addition der Interessen der einzelnen existierenden gesellschaftlichen Gruppen bestehen, wie Rüdiger Altmann vor der christlich-sozialen Kollegenschaft eindringlich mahnte:
"Die Dynamik der Wirtschaft, die Konzentration auf eine fortdauernde Erhöhung der Leistung und die Nutzbarmachung des technischen und wirtschaftlichen Fortschritts innerhalb der kapitalistischen Wirtschaft darf nicht in die Formierung der Gruppen einbezogen, ihr nicht untergeordnet werden.
2) Eric Voegelin: Demokratie und Industriegesellschaft. Veröffentlichung der Wetter-Raymond-Stiftung Bd 4.
3) Ludwig Erhard: Deutsche Wirtschaftspolitik. Der Weg zur sozialen Marktwirtschaft. Frankfurt/Main 1962.
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Dieser Tendenz liegt die Vorstellung zugrunde, eine umfassende Sozialpolitik solle die Wirtschaft in den Griff bekommen ... Die Strategie des sozialen Ausgleichs in der <Formierten Gesellschaft> muß gerade das vermeiden, muß gerade die Dynamik der Wirtschaft erhalten." Oder: "Das Sozialsystem der <Formierten Gesellschaft> ist nur zu schaffen, wenn der labile Status quo durchorganisiert und rationalisiert wird, wobei seine Teilhaber ihres Egoismus zu entwöhnen und einer stärkeren Disziplinierung zu unterwerfen sind."4)
Die Studenten der 68er-Generation erkannten den hier offen dargelegten Anspruch einer Gruppe, nämlich der Großkonzerne, die Leitlinien der gesellschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik zu bestimmen. Und es kam für sie darin noch etwas anderes zum Ausdruck. Auch wenn den Arbeitnehmerverbänden oder anderen Organisationen nicht schlechthin das Recht abgesprochen wurde, ihre gesellschaftlichen Interessen zu vertreten, so wurden diese Ansprüche doch in den Rahmen gestellt, den das Funktionieren des gewünschten Systems absteckte und der im übrigen identisch zu sein hatte mit den Interessen der Wirtschaft. Dem Staat kam dabei lediglich die Aufgabe zu, die Stabilität der Gesellschaft zu sichern:
"Diese Gesellschaft wird die staatliche Autorität soweit stärken, daß notwendige Reformen und die Festsetzung von Prioritäten bei der Lösung von Gemeinschaftsaufgaben Anerkennung finden und damit politisch möglich werden. Die Regierung im Verteilerstaat hat mehr Recht auf Autorität als frühere parlamentarische Regierungen."5)
4) Rüdiger Altmann. In: Gesellschaftspolitische Kommentare, 15. Mai, 10/1965.
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Hatte man einst die Wettbewerbswirtschaft und -politik als Garanten des gesellschaftlichen Wohlstands und als Basis der sozialen Marktwirtschaft gepriesen, so vollzog man jetzt eine ziemlich abrupte Abwendung von diesen Prinzipien. "Nach der Phase des Aufbaus ist das Ziel der nächsten Jahre die Reform der deutschen Demokratie." (L. Erhard) Und das hieß, daß die Formierung der Gesellschaft "unter dem Gesichtspunkt des allgemeinen Wohls" stand — und zu dessen Realisierung auch "moderner Techniken des Regierens und der politischen Willensbildung" bedurfte (Bundeskanzler Erhard in seiner Regierungserklärung von 1966).
Damit vollzog die Exekutive das, was der BDI schon seit längerer Zeit in seinen Jahresberichten gefordert hatte; seine Konzeption wurde im Regierungsprogramm als Weg zum "Wohl der Allgemeinheit" dargestellt. Und, was für die Großkonzerne ebenso wichtig oder noch wichtiger war: Die Parteien und die Exekutive hatten sich ihre Forderung zur Aufgabe gemacht, die lästig gewordenen Relikte liberaler Konkurrenzmodelle aus der Welt zu schaffen, ohne freilich die Vorrangstellung der Unternehmen in der Gesellschaft zu brechen.
5) Rüdiger Altmann: Das Erbe Adenauers. Eine Bilanz. München 1963. Zu Rüdiger Altmann und den hier vorgetragenen Gedanken siehe auch: Rüdiger Altmann: Die Formierte Gesellschaft beschwört keinen Mythos. In: Handelsblatt Nr. 122, Jg. 21. Ders.: Parlament und Regierung im Verteilerstaat. Die Strategie des Ausgleichs — Interpretation einer Formel = Formierte Gesellschaft. In: Handelsblatt Nr. 123 Jg. 21. Ders: Gesellschaftspolitische Kommentare. Sonderdruck: Formierte Gesellschaft, Heft 3/4. Bonn 1965. Rüdiger Altmann; Johannes Gross: Die neue Gesellschaft. Bemerkungen zum Zeitbewußtsein. Stuttgart 1958.
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Zwar hatte die CDU die Wünsche der Industrie erkannt, aber indem Erhard sie artikulierte, hatte er sich selbst entmachtet, weil ihm das wirtschaftspolitische Instrumentarium fehlte. Es blieb in der Folge der Großen Koalition vorbehalten, dieses dirigistische Programm zu realisieren. Die Umdeutung der neuen Bedürfnisse der Wirtschaft, die sich durch enorme Konzentrationsprozesse stark verändert hatte, in Bedürfnisse der Gesellschaft wurde danach unter der sozial-liberalen Koalition fortgeführt.
Für die 68er hatten die geplanten Veränderungen doppelte Auswirkungen: einerseits für sie als Studenten, andererseits als Universitätsabsolventen im zukünftigen Beruf. Weil der Ausstoß der Hochschulen sowohl an wissenschaftlich ausgebildetem Personal sowie auch an Wissen und Forschungsergebnissen erhöht werden sollte und mußte, wuchs der Druck enorm an. Die Studienzeiten sollten verkürzt werden, um in knapperer Zeit mehr akademisch ausgebildete Arbeitskräfte in Industrie und im Dienstleistungsbereich zur Verfügung zu haben; die Studentenmasse sollte bei nahezu konstant bleibendem Lehrpersonal wachsen, was die Studien- und Lernbedingungen drastisch verschlechterte; der Lernstoff sollte gestrafft, spezifiziert und vergrößert werden, was den Prüfungsdruck verschärfte. Als wissenschaftlich-technische Intelligenz sollten die Studienabgänger in der Wirtschaft dafür sorgen, daß in wachsendem Maße Wissen in Technologie umgesetzt wurde, um es auf diese Weise für den Produktionsprozeß direkt nutzbar zu machen.
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Aus dieser unmittelbaren Einbindung in den ökonomischen Wachstumsprozeß folgte jedoch nicht nur eine neue Funktion, sondern auch ein neuer sozialer Status: der des akademischen Arbeitnehmers. Der typische "white collar worker" sollte sich vom Arbeiter im Blaumann, dem "blue collar worker", eigentlich nur noch durch seine höhere Position in der betrieblichen Hierarchie und seinem wesentlich höheren Verdienst unterscheiden. Dies bedeutete auch den Abschied von der Tradition, nach der der Universitätsabsolvent bisher automatisch Aufnahme in die gesellschaftlichen Eliten gefunden hatte.
Aber es waren nicht die Aussichten des sozialen oder gesellschaftlichen Abstiegs, die die 68er störten, sondern die Tatsache, daß ungefragt über ihre Zukunft verfügt wurde. Nicht der drohende Verlust der Privilegien, deren Abschaffung sie ja selbst forderten, machte sie rebellisch, sondern die Tatsache, daß ein paar Hundert Personen aus Wirtschaft und Politik über sie bestimmten, als seien sie bloße Zinnsoldaten in einem Planspiel oder verschiebbare maschinelle Produktionseinheiten in einem Betrieb. Sie prangerten den ungerechtfertigten Anspruch der Besitzenden und ihrer politischen Vertreter an, bestimmen zu können, wie die Menschen sich in dieser Gesellschaft zu verhalten und ihre berufliche Zukunft zu planen hätten. Die Realisierung dieses Vorhabens sollte zumindest nicht ohne studentische Gegenwehr umgesetzt werden.
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Die Studenten bestanden darauf, daß die bundesrepublikanische Gesellschaft auf dem Grundgesetz basierte, das die "freie Entfaltung der Subjekte" garantiere. Die hier festgeschriebenen Rechte des einzelnen dürften nicht einfach durch die Macht des Faktischen oder des wirtschaftlich Stärkeren ausgehebelt werden.
Doch wie schnell und unreflektiert die politisch und Institutionen für Forschung und akademische Ausbildung zuständigen Gremien bereit waren, die Ziele der Regierung umzusetzen, zeigte sich in den "Richtlinien des Wissenschaftsrats", der im Mai 1966 mit einer "Neuordnung des Studiums" auf den Plan trat und im Juli 1967 seine Vorstellungen zur "Entwicklung der Hochschulen" veröffentlichte. Wie verhältnismäßig brav, harmlos und gesellschaftspolitisch teilweise sogar naiv der Verband der Deutschen Studentenschaft (VDS) darauf reagierte, zeigt seine Stellungnahme zu diesen "Empfehlungen" des Rates.
Anzumerken ist noch, daß viele Studenten, vor allem im SDS, zu diesem Zeitpunkt schon wesentlich radikaler dachten. Der VDS, als Dachorgan der verfaßten Studentenschaft, spiegelte jedoch das bis dahin erreichte Durchschnittsbewußtsein der Studierenden wider. Es gilt auch vorauszuschicken, daß es im Laufe der Auseinandersetzungen nicht bei diesen braven Tönen blieb. Denn die Studenten mußten bald feststellen, daß es die Gegenseite in der Universität und der Politik gar nicht interessierte, was sie an sachlich begründeten Argumenten vorbrachten, sondern daß diese stur auf ihrer einmal eingeschlagenen Marschroute weitermarschierte.
Während einer Vollversammlung an der Freien Universität Berlin drückte es ein damaliger Student der Germanistik, der heutige Schriftsteller Peter Schneider, folgendermaßen aus:
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"Wir haben ruhig und ordentlich eine Universitätsreform gefordert, obwohl wir herausgefunden haben, daß wir gegen die Universitätsverfassung reden können, so viel und so lange wir wollen, ohne daß sich ein Aktendeckel hebt; aber daß wir nur gegen die baupolizeilichen Bestimmungen zu verstoßen brauchen, um den ganzen Universitätsaufbau ins Wanken zu bringen.
Da sind wir auf den Gedanken gekommen, daß wir erst den Rasen zerstören müssen, bevor wir die Lügen über Vietnam zerstören können, daß wir erst die Hausordnung brechen müssen, bevor wir die Universitätsordnung brechen können. Da haben wir es endlich gefressen, daß wir gegen Prüfungen, in denen man nur das Fürchten, gegen Seminare, in denen man nur das Nachschlagen lernt — daß wir gegen den ganzen alten Plunder am Sachlichsten argumentieren, wenn wir aufhören zu argumentieren und uns hier in dem Hausflur auf den Fußboden setzen."6
Die Kritik des VDS an den Empfehlungen des Wissenschaftsrats wurde in 23 Punkten unter dem Titel "Vergangenheitsbewältigung als Zukunftsversäumnis" veröffentlicht. Unter Punkt drei heißt es:
6) Peter Schneider. Redebeitrag auf einer FU-Vollversammlung. Wieder abgedruckt in: Der Spiegel Nr. 23, 1997.
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"Daß die Empfehlungen des Wissenschaftsrats nicht geeignet sind, Maßnahmen über die bessere Auslastung der bestehenden Einrichtungen einzuleiten; nicht geeignet sind, als Richtlinien für den notwendigen Ausbau von Hochschulen herangezogen zu werden; nicht geeignet sind, der lange geforderten Reform der Struktur des Lehrkörpers und der Hochschule zum Durchbruch zu verhelfen; nicht geeignet sind, durch eine konsequente Förderung aller Studierfähigen den Ausbildungsstand der Gesamtgesellschaft so zu verbessern, daß er den Anforderungen einer demokratischen Gesellschaft gerecht werden kann".
Nachdem der VDS in den Punkten vier und fünf Widersprüche in den Gutachten des Wissenschaftsrats aufgedeckt hatte, kommt er in Punkt sechs zu der Feststellung:
"Der Wissenschaftsrat hört damit endgültig auf, Schrittmacher einer expansiven Bildungspolitik zu sein. Dies, obwohl er im ersten Teil der Empfehlungen feststellen muß, daß seine 1960 vorgelegte Vorausschätzung über die Entwicklung der Studentenzahlen zu niedrig und damit falsch war; daß der Bau neuer Universitäten keine nennenswerte Entlastung gebracht hat und auch nicht bringen wird, weil er nicht im erforderlichen Maße vorangetrieben wurde und wird; daß sich der Andrang zu den Hochschulen bis 1980 weiterhin verstärken wird, so daß mit einer Verdoppelung der gegenwärtigen Studentenzahlen auf circa 600.000 gerechnet werden muß."
In Punkt sieben heißt es: "Lakonisch stellt der Wissenschaftsrat fest, daß <die Ausbildungsmöglichkeiten nicht genügen und Studienbeschränkungen nicht zu vermeiden> sein werden."
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Und weiter:
"Der Wissenschaftsrat schlägt statt eines wirksamen Ausbaus der Hochschulen einen Abbau der Studentenzahlen vor; dafür nennt er zwei für ihn entscheidende Gründe: 1. Nachwuchsmangel; 2. Erhaltung der wissenschaftlichen Qualität." Als Erwiderung auf das Argument Nachwuchsmangel führt der VDS dann aus: "Der Wissenschaftsrat behauptet, daß kein ausreichender wissenschaftlicher Nachwuchs vorhanden sei, um die benötigten Stellen zu besetzen. Als Beweis dafür legt er Statistiken über die Entwicklung der Habilitationen und Promotionen zwischen 1960 und 1965/66 vor. Der Nachweis des Nachwuchsmangels gelingt ihm aber anhand des überholten Kriteriums Habilitation nur in den Fächern Germanistik, Anglistik, Romanistik und Wirtschaftswissenschaften. Der Wissenschaftsrat hat bei seinen Berechnungen nicht berücksichtigt, daß außer in den technischen auch in den übrigen Wissenschaften Nicht-Habilitierte berufen werden können (sonst hätte er kaum zu dem Schluß kommen können, daß zu wenig Nachwuchskräfte vorhanden seien); daß durch den — zumindest zwischen den Zeilen — geforderten Verzicht auf das Habilitationsverfahren die Zahl der geeigneten Lehrpersonen rasch vermehrt werden könnte."
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Der VDS vertritt daher in Punkt elf "die Auffassung, daß der erste Ausgangspunkt der Überlegungen des Wissenschaftsrats — die schlechte Nachwuchslage verbiete eine Kapazitätserweiterung — nicht haltbar ist". Was das Argument der Erhaltung der wissenschaftlichen Qualität anbetrifft, so geht der VDS darauf folgendermaßen ein:
"Den zweiten Ausgangspunkt seiner Überlegungen ... nimmt der Wissenschaftsrat selbst wenig ernst, wie das folgende Beispiel zeigt: Auf den Seiten 64 und 65 stellt der Wissenschaftsrat mit Nachdruck fest, daß gerade die Ausbildung der Lehrer; die ihrerseits für die Ausbildung der nächsten Generation von Studienanfängern verantwortlich sind, unter der Überfüllung der Fakultäten leiden muß; daher sei gerade in diesen Massenfächern die Beschränkung der Studentenzahlen besonders akut: >Dem drohenden circulus vitiosus — mangelhafte Ausbildung der künftigen Lehrer, nicht hinreichende Vorbildung der künftigen Studenten durch diese Lehrer in den Schulen — muß mit allen Mitteln gewehrt werden."
Auf Seite 108 meint er hingegen: >Aus bildungspolitischen Gründen wird es nicht überall angängig sein, die Zahl der zuzulassenden Studienbewerber zu beschränken. Besonders im Bereich der für die Ausbildung von Lehrern an Gymnasien wichtigen Disziplinen ist eine drastische Einschränkung der Studienanfänger aus Gründen des anhaltenden Bedarfs an Absolventen nicht vertretbar<."
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Und weiter: "Auch die Feststellung des Wissenschaftsrats, daß <das Fehlen einer der Habilitation äquivalenten Einrichtung die stürmische Entwicklung der Wissenschaft in anderen Ländern in keiner Weise beeinträchtigt hat>, macht die Unhaltbarkeit seiner Befürchtungen deutlich. Der Wissenschaftsrat orientiert sich in seinen Berechnungen nicht an den Möglichkeiten von morgen, sondern an den Versäumnissen von gestern. Ein großer Mangel der vorliegenden Empfehlungen des Wissenschaftsrats liegt im Fehlen jeglicher Vorschläge zur Reform der überholten Struktur der Hochschulen. Folgt man dem Berechnungsmodell des Wissenschaftsrats bei der Feststellung der Kapazitäten, so offenbart sich schon allein an der Methode dessen Festhalten an dem hierarchischen Aufbau der Hochschulen: Als Grundeinheit und Maßstab für jede weitere Berechnung wird der Lehrstuhl eingesetzt. ... Diese Modellschematik bewegt sich eindeutig von oben nach unten, sie orientiert sich ausschließlich am traditionellen Aufbau der Hochschulen und läßt vor allem den Gesichtspunkt der Nachfrage nach Studienplätzen vollkommen unberücksichtigt. Die Hochschulen haben für den Wissenschaftsrat in erster Linie die Aufgabe der Forschung; dies wird im Empfehlungsteil Sonderforschungsbereiche besonders deutlich: von 16 Druckseiten widmet der Wissenschaftsrat der Lehre 14 lapidare Zeilen, in denen er lediglich feststellt, daß die Lehre in den Sonderforschungsbereichen problematisch ist."
Der VDS stellt dann zusammenfassend fest: "1. Der Wissenschaftsrat hat seine Behauptung, das Fehlen von Nachwuchskräften erlaube keinen weiteren Ausbau der Hochschulen, nicht glaubhaft begründet. 2. Die Gefahr eines Qualitätsverlustes der wissenschaftlichen Ausbildung in den Hochschulen hat der Wissenschaftsrat beschworen, jedoch nicht überzeugend belegt. Der VDS hätte vom Wissenschaftsrat erwartet, daß er bildungspolitisch derart weitreichende Empfehlungen, wie Numerus clausus und Ausbau- und Planungsstop der wissenschaftlichen Hochschulen bis 1970 mit wissenschaftlicher Gründlichkeit und Redlichkeit erstellt. Das ist nicht geschehen."7)
Zum Verständnis nachzutragen bleibt, daß der 1957 gegründete Wissenschaftsrat, dessen Aufgabe darin bestand, "Gesamtpläne für die Förderung der Wissenschaft" zu erarbeiten, kein Gremium der deutschen Universitäten war, sondern eine gemischte Kommission aus Professoren, Ministerialbeamten und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Den 16 von Professoren gewählten Professoren standen 17 Regierungsbeamte zur Seite, und das "öffentliche Leben" wurde von sechs Persönlichkeiten repräsentiert, die allesamt aus den Chefetagen deutscher Konzerne stammten (darunter BASF, Thyssen, Bosch und Siemens).
Es ist bezeichnend für jene Zeit, daß Wirtschaft mit Unternehmen gleichgesetzt wurde und daß diese Unternehmen, die für jeden offensichtlich ihre Partikularinteressen verfolgten, das "öffentliche Leben" repräsentierten, wenn über die Planung und Mittelvergabe von und für die Wissenschaft entschieden wurde. Die Feststellung der 68er, "nicht die Öffentlichkeit ist hier repräsentiert, sondern ein knappes Hundert Großkapitalisten", traf daher den Kern der Sache.
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7) Verband Deutscher Studentenschaft (Hrsg). In: Information aus der Studentenschaft (Sonderausgabe), 22.9.1967.
Der Wissenschaftsrat orientiert sich nicht an den Möglichkeiten von morgen, sondern an den Versäumnissen von gestern