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Die grauen Kämme der Tasmanischen See überholten das Schiff von achtern, im langsamen Rhythmus eines langen Pendels. Sie hoben die Schraube und ließen sie leer in der Luft laufen. Kapitän Martins — er war früh aufgestanden, wie das seine Gewohnheit war — trat in das Kartenhaus, um den Lauf des Schiffes nachzuprüfen, und dann heraus auf die Kommandobrücke.
Die Sonne stand tief und brannte in einem seltsam kupfrigen Gelb — weiter nördlich wäre es das Vorzeichen für einen Taifun gewesen. Besorgt blickte er nach dem Horizont und schätzte den Wind vom Westen her auf etwa Windstärke fünf. Der Himmel sah nicht stürmisch aus; aber Martins ging doch zurück ins Kartenhaus, um nach dem Barometer zu sehen. Es stand hoch und wies keine Vorzeichen für kommendes Schlechtwetter auf.
Er trat wieder auf die Brücke und prüfte den Himmel. Da bemerkte er plötzlich, daß in den geschützten Winkeln der Brücke eine dünne Schicht von braunem Staub lag. Ärgerlich über die Nachlässigkeit seiner Mannschaft murmelte er etwas vor sich hin und blickte wieder nach dem Himmel. Jetzt stellte er fest, daß sich ein Staubschleier — fast wie ein weicher Nebel — durch die Luft herniedersenkte. In sechs Stunden mußte er in Auckland sein.
wikipedia Tasmansee zwischen Australien und Neuseeland
wikipedia Auckland im Norden von NeuseelandHinter ihm war über tausend Meilen kein Land. Ungläubig prüfte er wieder die Windrichtung. Seine Beobachtung stimmte, der Wind kam aus Westen — es war also Tatsache, der Staub kam den ganzen langen Weg von Australien!
Eine halbe Stunde lang betrachtete er den Himmel, ehe er sich zum Frühstück setzte. Er hatte in Sidney von den schlimmen Sorgen hinten im Lande reden hören ... von den Hunderten von Brunnen, aus denen die Windräder nichts als Luft sogen, von den Schafen, die vor Durst starben oder zu Hunderten, ja zu Tausenden geschlachtet werden mußten. Er hatte eine Ladung Weizen für England, aber auch der Weizen sollte knapp geworden sein.
Der weiche Staub senkte sich noch immer herab, und das tiefere Rot der Sonne zeigte an, daß die Wolke noch dichter wurde. Martins schüttelte den Kopf und dachte grimmig bei sich selbst: "Da wird ja langsam der ganze verdammte Erdteil weggeweht!"
Maria
Ein paar Stunden später trottete am anderen Ende der Welt eine kleine Frau eine staubige Straße entlang; es war im Staate Michoacán; sie hatte den schwingenden indianischen Schritt, der Meilen verschlingt. Auf dem Kopf balancierte sie einen rostigen Zwanzig-Liter-Benzinkanister, der schon seit vielen Jahren kein Benzin mehr enthielt. Jetzt war er mit ihrem Tagesbedarf an Wasser gefüllt — an kostbarem Wasser, das sie fünf Meilen weit zu ihrem Pueblo tragen mußte. So trabte sie jeden Tag zehn Meilen, um die Flüssigkeit zu haben, die sie für ihre Tortillas brauchte, für die paar Tamalen, die sie gelegentlich bekam, zum Kochen ihrer schwarzen Bohnen und als Trinkwasser für ihre wenigen Hühner.
wikipedia Michoacan Mexiko, Mitte, Westen
Sie wog kaum neunzig Pfund, und der Kanister auf ihrem Kopf war schwer — aber jetzt spürte sie die Last auf ihrem Kopfe kaum, so schwer war das Gewicht auf ihrem Herzen. Bis vor einigen Tagen mußte sie auch noch ihr kleines Kind auf dem Rücken tragen, aber jetzt war ihr Rebozo leer. Es geht den Kindern oft so in jenen Regionen, in denen das Wasser knapp und unrein ist — auch das ihre war früh gestorben.
Jeden Tag und jeden Tag diese zehn Meilen durch den Glast der Augustsonne und durch die kalten trockenen Januarwinde — aber sie kamen der Frau durchaus nicht ungewöhnlich vor. Mußte ihr Mann nicht noch weiter laufen zu dem kleinen Flecken Ackerland mit Mais und Bohnen?
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Sie konnte weder lesen noch schreiben, und sie würde niemals erfahren, daß beim Bau ihres Pueblo die Leute sich gerade diesen Ort gewählt hatten, weil hier eine klare kalte Quelle vom Berghang herunterkam. Die unfruchtbare Landschaft um sie her, graugefleckt von spärlichem Gras und Agavengestrüpp erzählte ihr nichts mehr von den reichen Wäldern, die einst den Boden um ihr Dorf fruchtbar machten.
Sie war müde, ihr Herz war schwer, aber mit dem Fatalismus eines Volkes, das ein Ende seiner mißlichen Lage nicht absehen kann, seufzte sie nur und murmelte: "Se aguanta" — man muß es ertragen. Kein anderer Satz klingt so häufig von den Lippen der Frauen ihres Volkes.
Tom Cobbett
Tom Cobbett saß an seinem Pult, die Ellbogen aufgestützt und das Gesicht in den Händen begraben. Er hatte einen langen Weg hinter sich seit jenem ersten Tage, da er angefangen hatte, in den Yorkshire-Minen die fette blanke Kohle zu fördern — aber jetzt dachte er nicht an die Vergangenheit, an die endlosen Jahre, in denen er täglich sechzehn und achtzehn Stunden im Schacht gearbeitet hatte; er dachte nicht an die Nächte mühseligen Studiums ... Nacht für Nacht ... es war der einzige Ausweg, den er ersinnen konnte, dem Bergwerk zu entfliehen, und so war er in harter Arbeit auf der Leiter der Bücher aufwärtsgeklommen.
Tom hätte heute der glücklichste Mensch in ganz Großbritannien sein müssen. Er hatte gerade eine Ersatzwahl gewonnen mit nahezu der größten Majorität die jemals ein Kandidat der Arbeiterpartei in Englands Geschichte aufzuweisen hatte. Er verdankte seinen Triumph sich selbst und einem gewaltigen Unterstützungsvotum für das sozialistische Programm der Arbeiterpartei. Vier Stunden lang hatte er heute seinen Freunden und Helfern eine Rolle vorgespielt, hatte einen Jubel gemimt, den er nicht fühlte. Ganz hinten in den ehrlichen Winkeln seines Herzens mußte Tom sich selbst gestehen, er wünschte, daß dies alles nicht geschehen wäre.
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Er war — das machte er sich klar — eine Art Wegstation in einem historischen Prozeß. Vor zwanzig Jahren hatte er begonnen, für diese Wahl zu kämpfen, und er hätte jetzt dem Sieg nicht ausweichen können, ohne seine Leute und sein Land zu betrügen. Aber das Gewicht des Preises lag zu schwer auf seiner Seele. Auch er wußte nichts von der kleinen Begebenheit in der Tasmanischen See, nichts von den staubigen Berghängen von Michoacan. Hätte er etwas davon gewußt, so hätte ihm sein klarer Geist ihre Bedeutsamkeit gezeigt, und hätte die Last der Verantwortlichkeit noch vermehrt, die so schwer auf seinen Schultern lag.
Jetzt war er Mitglied einer der ältesten gesetzgebenden Körperschaften der Welt, mußte eine Zeitlang tätigen Anteil nehmen an der Lenkung eines großen Reiches. Eine der mutigsten, der hochherzigsten Anstrengungen, die je gemacht wurden, das Los der Menschheit zu bessern, war ihm und seiner Partei in die Hand gegeben.
Länger als zwei Jahrzehnte vor dem Kriege hatte Cobbett um diese Chance gekämpft. Dann war der Plan, den er verfolgte, plötzlich durch die Weltrevolution unklar und verwickelt geworden und hatte seine feste Form verloren. Wenige Mitglieder der Partei sahen es, aber für Cobbett war es quälend klar. Das Parlament, in das er gerade gewählt worden war, regierte fünfzig Millionen Menschen, die auf zwei Inseln lebten — auf zwei Inseln mit einer Bodenfläche von 95.000 Quadratmeilen — das war etwa die Größe von Oregon. Auch den vereinten heroischsten Anstrengungen von Männern und Frauen, die jedes Fleckchen anbaufähigen Bodens ausnutzten, war es nicht gelungen, viel mehr als die Hälfte der Nahrungsmittel zu produzieren, die das Volk zum Leben brauchte.
Vor dem Weltkriege hatte das nichts bedeutet — oder nicht viel bedeutet. Die Kohle, die von den triefenden Flözen geschlagen wurde, reichte aus, um das Fleisch zu kaufen, das so wichtig für England war, und das Korn für das englische Brot. Die Geschicklichkeit der britischen Arbeiter hatte die Rohprodukte der ganzen Welt in eine Unmenge von Fertigwaren verwandelt, die von fünf Kontinenten mit Nahrungsmitteln bezahlt wurden.
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Aber jetzt hatten die Minen ausgespielt, und die britische Kunstfertigkeit war auf der ganzen Welt mit mehr oder weniger Erfolg nachgeahmt worden. Der Horizont des britischen Arbeiters hatte sich erweitert — er liebäugelte mit dem Wohlergehen des amerikanischen Arbeiters, mit der wirtschaftlichen Organisation der Russen, und beanspruchte beides für sich. Cobbett hatte mit seiner Partei die Verantwortung übernommen, diesen Anspruch zu befriedigen. Tatsächlich fühlte er eine intuitive Verwandtschaft mit dem Australien der fliegenden Erde, mit dem Argentinien des einst so reichen Bodens, mit dem Nordamerika des versiegenden Wassers. Hunger und Not seiner reich bevölkerten Insel waren unlösbar verstrickt mit der Not der übrigen Welt; aber jetzt, der drängenden Notwendigkeit gegenüber, wußte Cobbett, daß eine politische und wirtschaftliche Lösung nicht genügte.
Foster Ramsay
Von weit, weit oben aus dem tiefblauen Himmel kam der Wanderschrei der heimkehrenden Wildgänse. Kein anderer Laut war in der stillen Prärienacht zu hören, und Foster Ramsay legte seine Feder nieder und horchte. Es riß ihn am Herzen, jedesmal, wenn die Wildgänse vorbeizogen. Nun flog sie weiter nach Norden, die Schar — über die Hochebenen, die schwarzen Fichten, über die Sümpfe, über die Tundra — bis sie sich aufteilte, um auf einsamen Teichen eine Jahreszeit lang seßhaft zu sein.
Er nahm die Brille ab und rieb seine müden Augen; dann schüttelte er wehmütig den Kopf. Von den Wildgänsen zur Einkommensteuer — ein gewaltiger Sprung! "Keine Möglichkeit", sagte er zu sich selbst. "Die Zwillinge müssen sich damit abfinden — sie müssen hierbleiben!"
Er war Leiter eines College, aber es war ein kleines College, ein "Kuhbauern-College". Sein Gehalt hätte einen Autoverkäufer in New York wenig beeindruckt. Hätte er nur an die beiden anderen Kinder zu denken gehabt — dann wäre alles viel einfacher gewesen. Aber die Zwillinge kamen über-
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raschend, und die Mehrbelastung, die sie mit sich brachten, war durch den Krieg unendlich verwickelt geworden. Die Mittelschule der kleinen Stadt, in der sie lebten, war nicht gut. Wie konnte sie gut sein, wenn die Lehrer ein Jahresgehalt von 1500 Dollar bekamen? Ramsay hatte gehofft, die Kinder in Pension geben zu können, auf eine gute Schule; aber auch wenn er die Privatstunden, die er gab, mit einrechnete — er konnte das Geld nicht aufbringen.
Wieder sah er hinunter auf das Steuerformular und setzte endlich trocken seinen Namen darunter. Dann schrieb er einen Scheck aus. Die Steuern fraßen in diesem Jahr, trotzdem er manches nicht angegeben hatte, fast ein Drittel seines Einkommens. "Siebzehn Wochen im Jahr", sprach er zu sich selbst, "habe ich für die Regierung gearbeitet. Gott sei Dank ist es wenigstens die amerikanische und keine Naziregierung." In gewissem Sinne war er dankbar, daß er diese Steuern zu zahlen hatte, froh, daß er sie zahlen konnte; als er jedoch auf das Formular vor sich blickte, drängte sich ihm der Gedanke auf, welche Freude dieses Formular — und Millionen ähnlicher Formulare — der besiegten Nazihierarchie gemacht hätte.
Deutschland hatte das größte System der Sklavenarbeit organisiert, das die Welt je gekannt hatte. Nur wenige Menschen — das wußte Ramsay — waren sich klar darüber, daß diese Sklaverei noch lange nicht zu Ende war. Der größere Teil seiner Steuern zahlte für den Krieg und die Folgen des Krieges. Wenn er Glück hatte, lagen noch dreißig Arbeitsjahre vor ihm. Wenn aber die nationalen Schulden bezahlt, wenn eine Währungsreform oder eine unheilvolle Inflation vermieden werden sollten, so bestand wenig Hoffnung, daß seine Steuerlast jemals reduziert würde.
Noch dreißig Jahre lang siebzehn Wochen — zehn Jahre seines Lebens hauptsächlich der Aufgabe geweiht, für die Abenteuer eines Hitler, eines Mussolini, einiger japanischer Kriegsherren zu bezahlen! Vervielfältigte man sein Los mit dem von zehn Millionen arbeitenden Menschen in Amerika, so ergab sich daraus eine größere Zahl von Sklavenarbeitern als jemals unter der Peitsche der Nazis in Europa gestöhnt hatten.
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Ramsay wußte nichts von Kapitän Martins, von der unglücklichen Indianerin, von dem englischen Politiker — sonst hätte sein gutgeschulter Geist (gewohnt in den Begriffen des Landes zu denken) sie sofort in Beziehung zu dem Blatt Papier auf seinem Schreibtisch gebracht. Weil er sein Land verstand, die Degeneration der Viehweiden seines Staates mit angesehen hatte, weil er wußte, wie das Versagen der Quellen manchen Siedler ruiniert hatte, hätte er ohne weiteres erkannt, daß ein ausgehöhlter Berghang in Szechwan, ein hohläugiger Bergmann an der Ruhr ein Faktor — wenn auch ein verborgener Faktor — in seinem Steuerbescheid waren.
Er hatte den substantiellen Schwund bereits an der Minderung seines Lebensstandards erkannt. Er wußte, er hatte für den Rest seines Lebens nicht nur sein Teil an den Kriegslasten zu tragen, sondern mußte auch in steigendem Maße zur Erhaltung derer beitragen, die er die "Kleinen-Gaben-Leute" nannte. Einige hatten die Unionsabzeichen, einige die Karten des amerikanischen Farmbüros, manche die kleine blaue Kappe der amerikanischen Legion, die zu tragen ihre Teilnahme am Weltkrieg I sie berechtigte. Er hätte ohne weiteres auch die bekümmerten Regierungsbeamten in den Hauptstädten vieler fremden Länder dazu rechnen können.
Nein, die Kinder hatten wenig Aussichten auf eine Hochschulerziehung. Er mußte versuchen — Janet mußte versuchen, was sich tun ließ, um die klaffenden Lücken zu Hause auszufüllen.
Jim Hanrahan
Jim Hanrahan stand in der Tür seines Badezimmers vor dem Spiegel. Er betrachtete nachdenklich den Gürtel um seine behäbige Mitte. Es war schon viele Jahre her, daß er eine Hebelade bedient hatte. Und er wußte, man sah es ihm an. Aber er zuckte die Achseln und dachte bei sich: "Und wenn schon — zum Teufel!" Von jetzt an würden seine Hebeladen von anderen Leuten bedient werden, die ein Fünfzigstel von dem bekamen, was ihm ihre Arbeit einbrachte.
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Er ging zum Fenster und blickte auf das herrliche Schauspiel der schneegekrönten Berge; sie waren heute nachmittag ungewöhnlich klar. Er mischte sich einen starken Whisky-Soda und seufzte zufrieden. In ein paar Stunden würde er das beste Diner essen, das in der Stadt zu haben war, und nachher traf er das kleine Mädchen im Nachtklub von Waikiki.
Heute war ein Feiertag für ihn, und weiß Gott, er würde ihn feiern! Er hatte mit Kriegslieferungen gearbeitet — achtzehn Stunden jeden Tag! — und jetzt hatte er das Geld kassiert. Freilich, es kostete ihn 8000 Dollar Schmiergeld, aber nun hatte er das Holz bekommen, das fünf ganze Berge bedeckte — für ein Fünftel des Preises, den er in den Staaten bezahlt hätte. Aber sein Unternehmen war gut kapitalisiert und seine Ingenieure würden in zwei Wochen an Ort und Stelle sein.
Gestern abend hatte er in der kalten Dunkelheit zwischen den mächtigen Bäumen gestanden und auf die Stadt herniedergeschaut. Er kaufte die Wasserreserven der Stadt, und er wußte es. Er hatte das Gewissen eines Holzhändlers, mit so dicker Hornhaut, daß er sich bei diesem Handel nicht einmal zynisch vorkam. Es war ihr Land. Wenn sie es verkaufen wollten — okey, ihm sollte es recht sein. Dieses eine Geschäft versorgte ihn gut und reichlich für mindestens fünfzehn oder zwanzig Jahre. Was am Ende dieser Zeit aus der Stadt wurde, die dann kein Wasser mehr hatte — das machte ihm kein Kopfzerbrechen. Denn schließlich: Geschäft ist Geschäft.
Die Namenlosen
Das Schiff lief ohne Licht. Der Schiffer würde verdammt froh sein, seine Fracht endlich loszuwerden; aber trotzdem ließ er seine Maschine nur auf Vierteltouren laufen. Auf den Decks hockten kleine Gruppen kauernder Gestalten zusammen und beteten. Sie wußten: noch ehe der Morgen kam, würden manche von ihnen vermutlich tot sein.
Der Tod war dieser menschlichen Fracht nichts Neues.
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Die meisten von ihnen lebten seit zehn Jahren und länger auf vertrautem Fuße mit ihm. Von Stadt zu Stadt, von Land zu Land gestoßen, wanderten sie in einer fast ununterbrochenen Wildnis von Unbeliebtheit, von Leid und von stumpfem Haß. Nicht einer von ihnen — weder Mann noch Frau noch Kind —, der nicht jemanden verloren hatte, der ihm nahe und teuer war. Sie waren in Konzentrationslagern gestorben, waren kaltblütig als Geiseln erschossen, durch pfeifende Bomben in Stücke zerrissen worden. Hunderte von Meilen waren sie gewandert, diese Menschen, und viele hatten blutige Spuren hinterlassen auf steinigen Straßen, im eisigen Schnee. Jahrelang waren sie so gewandert fast ohne Hoffnung — aber jetzt sollten sie herauskommen aus der Wildnis — wahrhaftig in ein gelobtes Land.
Den größten Teil ihres Lebens, so schien es ihnen, hatten sie als menschliche Schmuggelware gelebt, und immer noch waren sie menschliche Schmuggelware. Bewaffnete Wachen lauerten ihnen auf — aber ein paar, ach, vielleicht die meisten von ihnen würden in der Dunkelheit ans Ufer schlüpfen. Freilich konnten die Wachen sie niederschießen, obwohl sie keine Ursache hatten, irgendeinen Haß auf diese müden Wanderer zu fühlen. Die Wachen waren ja selbst nur Puppen, nur Marionetten an den Drähten eines politischen Irrtums. Schon vor zwanzig Jahren waren Lügen ausgesprochen worden — und eigentlich waren diese Wachen bestellt, um die Lügen in Wahrheit zu verwandeln.
Das gelobte Land, von dem sich alle so viel erhofften, Mann und Frau und Kind, war kein Land, in dem Milch und Honig floß, wie ihre Väter es gefunden hatten. Es war eine brachliegende Wüste, die einst ein reicher Landstrich gewesen war, der Städte gebaut und Industrien gegründet und seine Schiffe bis an die äußersten Küsten des erforschten Westens gesandt hatte. Der Mißbrauch durch den Menschen hatte fast alles Leben herausgesogen, und jetzt erweckten ihn menschliche Intelligenz und tödliche Mühsal langsam, langsam wieder zu neuem Leben.
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Unmenschlich schwere Arbeit, knappe Rationen und wenig Ruhe und Rast — das war das Beste, was sich diese kleine Schar erhoffen konnte, wenn es ihr gelang, den pfeifenden Kugeln zu entgehen. Jedoch im Herzen jedes einzelnen war höchste Hoffnung und höchstes Vertrauen. Sie wußten, was ihr Volk schon geleistet hatte und was es noch leisten konnte. Wenn sie auch darum kämpfen mußten — hier waren sie sicher — hier konnten sie endlich in Frieden arbeiten.
Für diese unglücklichen Wanderer durch die Stürme einer feindseligen Welt gab es kein köstlicheres Wort als "Frieden".
Wong
Wong saß am staubigen Straßenrande, beinahe zu schwach, um sich aufrecht zu halten. Wagen mit schreienden Kutschern kamen vorbei, hochgetürmte Schubkarren, von schweigenden Männern geschoben, dann und wann eine Rikscha — manchmal nur ein paar Zoll von ihm. Es schien, als müßten sie ihn umstoßen — aber er rührte sich nicht.
Es war ihm gleichgültig. Er wußte, daß er sterben müßte, weil er Hunderte um sich sterben gesehen hatte. Er fühlte keinen Schmerz. Der Schmerz war schon seit Tagen vorbei. Er fühlte keinen Hunger mehr, und das war ihm eine so neue Erfahrung, daß sie ihn seinen nahen Tod fast begrüßen ließ. Er sah aus wie sechzig und war vierunddreißig. Seit ihn die Mutter entwöhnt hatte, war kaum ein Tag vergangen, an dem er dem Hunger entfliehen konnte, der an seinen Eingeweiden nagte. Die Knochen bohrten sich aus der gelben Haut, die noch pergamentartiger war als gewöhnlich.
Vor drei Wochen — vor vier Wochen — vor fünf Wochen... er wußte es nicht mehr, hatte er seine Frau und sein Kind verlassen und war zu Fuß nach der Küste aufgebrochen, in der Hoffnung, dort etwas zu essen zu finden. Soviel er wußte, besaß er meilenweit keinen Freund, keinen Verwandten. Die Kleider auf seinem Leibe hatte er verkauft — ein Stück nach dem anderen, bis er fast nackt war. Wenige Male war es ihm gelungen, ein paar Reiskörner zusammenzukratzen, aber jetzt wußte er seit Tagen, daß er den Kampf verloren hatte.
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Es war nicht genug, um ihn am Leben zu erhalten, und in dieser großen Welt des Hungers, wo Hunderte und Tausende und Zehntausende starben wie er, fragte niemand danach. Einem Europäer, einem Amerikaner hätte das den Höhepunkt des Jammers bedeutet. Wong bedeutete es nichts, denn er starb, wie er den größten Teil seines Lebens gelebt hatte.
Die Sonne war wie eine weißglühende Kuppel über der Welt. Nicht einmal in dem großen Flußbett war ein Wasserrinnsal. Vor acht Monaten hatten Fluten darin getobt, die die Dämme in den Dörfern zerrissen und Hunderte von Opfern fortgeschwemmt hatten. Jetzt hätte er gern seinen letzten Fetzen vom Leibe für einen Trunk Wasser verkauft. Über ihm türmte sich der steile, kahle Berghang, der letzten Vegetation beraubt. Der kalte Wind trieb Staubsäulen vor sich her, und der Staub kroch in Wongs Mundwinkel.
Auf der anderen Hälfte der Welt versuchten Männer und Frauen alles Korn in harter Arbeit zusammenzukratzen, um den Lebensfunken in Wong und Millionen seinesgleichen zu erhalten. Aber davon wußte er nichts. Und hätte er es gewußt, so hätte es ihm nichts bedeutet. Jetzt, da er endgültig alle Lebenshoffnung aufgegeben hatte, wußte er, daß es nirgends in der Welt genug Nahrung geben könnte, um die vielen hungrigen Münder satt zu machen.
Joe Spencer
Joe Spencers Hand zitterte, als er den Schieber unter dem Objektiv des Mikroskops hin und her bewegte. Wieder und wieder prüfte er den Blutabstrich. Er fand keine Spur von Plasmodium.
Er lehnte sich zurück und ließ seine Augen durch das Laboratorium wandern. Die Vögel und die Affen spielten in ihren Käfigen, ahnungslos, daß ihnen eine Rolle in der Geschichte zufiel. Den ganzen Krieg hindurch hatte Joe gearbeitet wie hundert andere Forscher, um für Truppen der Vereinten Nationen ein sicheres und unschädliches Schutzmittel gegen Malaria zu finden. Jetzt, da der Krieg praktisch endlich vorbei war, hatte er es anscheinend gefunden.
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Mit 100% Erfolg hatte er die Versuchstiere durch ein paar Körner weißes Pulver gesund erhalten. Wieder und wieder hatte er Proben an ihnen gemacht, und alle waren negativ ausgefallen. Dann hatte er, das Mittel dosierend, sich vorsichtig selbst geimpft. Es war durchaus nicht sicher, daß diese Chemikalie, deren Moleküle er fast zwei Jahre lang gemischt hatte, auf ihn die gleiche Wirkung hätte wie auf die Kanarienvögel. Zwei Wochen wartete er auf eine positive Reaktion — sie war nicht eingetreten. Dann versuchte er es nochmals, und wieder mit negativem Resultat. Drei weitere Proben deuteten an, daß er vollkommen immun war. Nun hatte Marion, seine Frau, darauf bestanden, daß er auch an ihr den Versuch machte, ehe er jemand anderem etwas davon sagte. Der Schieber mit einem Blutabstrich seiner Frau lag jetzt vor ihm. Wenn er negativ war, so bedeutete das 99% Gewißheit. Wieder schob er die Platte unter das Objektiv des Mikroskops, und seine geübten Finger glitten rasch darüber hin. Nichts war zu sehen. Dann machte er sich nochmals daran, sie mit unendlicher Sorgfalt zu prüfen, in winzigen Millimeter-Bruchteilen. Immer noch nichts!
Er lehnte sich in seinen Stahl zurück und bemerkte dabei, daß er wie aus dem Wasser gezogen war. Wenn er sich jetzt nicht irrte — und ein Irrtum war mehr als unwahrscheinlich —, so hatte er ein sicheres und unschädliches Vorbeugungsmittel gegen einen der schlimmsten Menschenwürger aller Zeiten gefunden. Die Herstellung war billiger als die des Aspirins, und ungezählte leidende Männer und Frauen fanden sofortige Erlösung von folternden Schmerzen. Was mußte das bedeuten für die Millionen von Menschen in Indien und China? Was mußte es bedeuten für die Welt?
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Joe wußte, die Reagenzgläser seines Laboratoriums enthielten ein Pulver, das vielleicht ebenso gefährlich war wie die Atombombe. Er hatte die Kopfsteinstraßen Rußlands durchwandert, die gestampften Fußwege Indiens, und hatte Hunderte von Särgen auf den Schultern der Träger gesehen — von Särgen, die der Stich der Moskitos gefüllt hatte. Aus der Ferne hatte er die brennenden Bergpässe Indiens erblickt, hatte sie über die stinkenden Teiche stehenden Wassers hin beobachtet, aus denen der geflügelte Tod schweigend aufstieg und ins Land flatterte. Seine Finger hatten die geschwollenen Milzen der Kinder in Guayaquil und Manoas, im ganzen nördlichen Südamerika betastet. Er hatte den schleppenden Schritt der Männer und Frauen gesehen, die ihre Nächte im brennenden Feuer der Malaria verbrachten — des Paludismo, wie sie es nannten.
Dann war er zwei Wochen in Porto Rico gewesen, wo die Wunder der amerikanischen Medizin hergestellt wurden — mit dem Hauptresultat, daß mehr Leute am Leben blieben, um nur noch elender zu leben. Er wußte, daß Indien in zehn Jahren um fünfzig Millionen gewachsen war, und daß selbst vor der Geburt der ersten dieser Millionen die Lebensmittel nicht ausreichten. War es da noch Güte, fünfzig Millionen dem Malariatode zu entreißen, damit sie langsamer aber sicherer Hungers starben? War jemals ein Ende der Kriege, der Kriegsgerüchte abzusehen, solange Menschen wie die wohlhabenden Amerikaner mehr hatten, als sie brauchten, und die Millionen in China und Indien und Java und Westeuropa und vielleicht Rußland hatten nicht genug? Nur wenige Männer seiner Zeit — das wußte Joe Spencer — hatten die Macht, die Zukunft der Welt so in ihren Grundfesten zu erschüttern.
Wir sind von gleichem Blut
Keiner dieser Menschen, die je nach ihrem Einzelschicksal dieselbe Hoffnung und Verzweiflung teilen, weiß etwas vom anderen. Keiner von ihnen, außer dem Wissenschaftler, sieht sich selbst als einen Teil des großen Weltdramas, in dem jeder seine Rolle spielt — in der Ursache wie in der Wirkung.
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Sie haben alle eins gemeinsam: das Los eines jeden, vom australischen Schiffskapitän bis zum Biochemiker hängt völlig von seiner gesamten Umwelt ab, und jeder von ihnen beeinflußt diese Umwelt in größerem oder kleinerem Maße. Ein gemeinsamer Nenner beherrscht ihr Dasein: das Verhältnis zwischen der menschlichen Bevölkerung und dem Vorrat an natürlichen Hilfsquellen, von denen sie leben, wie Boden, Wasser, Pflanzen und Tiere. Es ist eine höchst labile Beziehung, die von Augenblick zu Augenblick wechselt, ständig von neuem durch menschliche Taten bedingt.
Vor dem großen Zeitalter der Entdeckungen gegen Ende des 15. Jahrhunderts war diese Beziehung einfacher Natur. Die Menschheit lebte in einer Reihe isolierter Zellen. Was in Britannien geschah, hatte wenig Einfluß auf das, was in China getan wurde. Was im großen Mississippibecken vor sich ging, versetzte der übrigen Welt keinen Stoß. Erst Kolumbus brachte Kräfte in Bewegung, die bis heute wenige Menschen begriffen haben.
Kolumbus, gewaltiger als die Atomwissenschaftler, schuf diese eine geographische Welt. Woodrow Wilson sah, daß wir im politischen Sinne alle in einer Welt leben, und Wendell Wilkie machte diesen Begriff beim Mann auf der Straße populär. Dennoch beginnen erst wenige unserer führenden Männer zu verstehen, daß wir im ökologischen*, im umgebungsmäßigen Sinne, in einer Welt leben. Sandstürme in Australien haben einen unentrinnbaren Einfluß auf die Menschen in Amerika; sie treiben die Hammelpreise in die Höhe, und unsere eigenen westlichen Schafzüchter sind es zufrieden, denn sie sehen nicht über ihre eigenen erschöpften Farmen hinaus die hungernde Bevölkerung von El Salvador und Griechenland.
Die kleine armselige Indianerin, deren Vorfahren durch die Gier der frühen spanischen Gold- und Erzgräber beraubt wurden, ist nur ein Tropfen in dem großen Meer des Mangels und Raubbaus, das die Welt zu überfluten droht. Sie ist ein integraler Teil unserer lateinamerikanischen Beziehungen; ob sie und ihre dreiundzwanzig Millionen Landsleute genug Essen und Trinken und Kleidung haben, ist von schwerwiegender Bedeutung für die Außenpolitik der Vereinigten Staaten.
* Ökologie = Lehre von dem Verhältnis der Lebewesen zur Umwelt.
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Den englischen Politiker verfolgt die Chimäre des hohen amerikanischen Lebensstandards — er ist also, obwohl er es vielleicht nicht sieht, das Ergebnis von Kräften, die ins Leben kamen, als der Schiffsjunge der "Santa Maria" seinen meuternden Gefährten "Land, Land!" zurief.
Der amerikanische Holzhändler mit seinem Standpunkt "Was kostet die Welt!", weiß es nicht und kümmert sich nicht darum, daß er die langsamen Finger des Todes in die Neue Welt streckt. Er ist ein getreuer Anbeter der heiligen Kuh des freien Unternehmertums.
Die Flüchtlinge, die vielleicht mehr gelitten haben als jede andere Volksgruppe der Geschichte, denken nicht daran, daß ihr Schicksal seine Wurzeln in den Baumwollländern des Mississippideltas hat, in dem schwarzen Lehm der Kornfelder von Iowa, in den Wäldern der Appalachianer. Sie sehen nur, heilige Hoffnung im Herzen, daß sie heimkehren, um ein Land wieder aufzubauen, das ihre Vorfahren vor dreitausend Jahren ausgebeutet haben.
Wong, der am Straßenrande stirbt, kann unmöglich begreifen, daß er das Opfer eines unerwarteten Genies ist, das den Reagenzgläsern und Kulturen Louis Pasteurs entstieg. Ebenso wenig sieht er sich als Teil eines explosiven Druckes, der rapide ansteigt und eines Tages alle Grenzen zu sprengen droht.
Am klarsten erkennt der Biologe seine Rolle. Vertieft in eine Aufgabe der Barmherzigkeit weiß er, daß seine kleinen weißen Pulverkörnchen sich in Drachenzähne verwandeln können. Er zögert — er weiß nicht, soll er diese neue, unkontrollierte Gewalt auf die Welt loslassen oder nicht. Ist er so wie die meisten Wissenschaftler, so besitzt er keine politische Orientierung und hat wenig Ahnung von der Möglichkeit, die Kräfte der Wissenschaft zu lenken.
Politische Führer versuchen, die unendlich komplizierten Probleme der modernen Welt zu lösen, während sie buchstäblich fast diese ganze Welt ignorieren. Sie setzen voraus (vielleicht weil die meisten von ihnen in der Stadt wohnen und daher städtisch denken), daß der Mensch in einem Vakuum lebt, unabhängig von seiner physischen Umgebung. Sie suchen die Lösung einer ungewöhnlich komplizierten Gleichung und vernachlässigen dabei fast vollkommen die Hauptfaktoren.
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Vielleicht hilft uns eine Biogleichung, die das physikalische Weltall des Menschen in Rechnung zieht, unsere Gedanken zu klären und sogar die Kräfte zu regulieren, die unsere politischen Führer verwirren. Hier ist eine einfache Formel, nicht verwickelter als die Beziehung des Familienbudgets zum Familieneinkommen. Diese Formel ist:
A = B : C
Das A steht hier für die Ertragsfähigkeit irgendeiner Bodenfläche. In der einfachsten Form bedeutet das seine Fähigkeit, Nahrung, Getränk und Obdach für die Geschöpfe hervorzubringen, die darauf leben. Soweit es sich um Menschen handelt, wird die Gleichung verwickelter durch die Begriffe des zivilisierten Daseins.
B bedeutet das biotische Potential oder die Fähigkeit des Landes, Pflanzen hervorzubringen, welche Obdach, Kleidung und besonders Nahrung liefern. Nur Pflanzen sind fähig, die Synthese der Rohmaterialien von Erde und Luft zu vollziehen, in einer Form, die durch die Tiere assimilierbar ist.
C steht für umgebungsmäßigen Widerstand oder die Begrenzung, die jede Umwelt (einschließlich des Teils, der vom Menschen ersonnen und durch ihn kompliziert wird) dem pflanzlichen Potential oder der Produktionsfähigkeit setzt. Die Ertragsfähigkeit ist die Resultante des Verhältnisses zwischen den beiden anderen Faktoren.
Die Gleichung ist vielleicht übermäßig vereinfacht, aber sie drückt gewisse Beziehungen und Verhältnisse aus — die meistens allgemein übersehen werden —, daß nämlich jede Minute eines jeden Tages Berührungspunkte hat mit dem Leben eines jeden Mannes, jeder Frau und jeden Kindes auf der Oberfläche des ganzen Erdballs.
Ehe nicht das Verstehen dieser Beziehungen auf einer Weltskala in das Denken der freien Menschen der ganzen Erde eingedrungen ist, ebenso in das Denken der Herrscher und Regierenden, die nicht frei sind, ist keine Möglichkeit vorhanden, das Los der menschlichen Rasse beträchtlich zu verbessern.
Wenn wir fortfahren, diese Beziehungen zu übersehen, so gibt es tatsächlich kaum eine Möglichkeit, daß die Menschheit noch lange dem immer stärker werdenden Platzregen des Kriegstodes vom Himmel entgehen kann. Wenn es aber dazu kommt — so urteilen wenigstens die bestinformierten Kapazitäten —, ist es wahrscheinlich, daß zum mindesten zwei Drittel der menschlichen Rasse ausgelöscht werden.
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William Vogt Road to Survival Die Erde rächt sich 1948