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Das Zeitalter der Angst 

 

 

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Dem äußeren Scheine nach ist unser Leben ein Lichtfunke zwischen einem ewigen Dunkel und dem nächsten. Doch liegt zwischen diesen zwei Nächten nicht ein wolkenloser Tag; denn je mehr Freude wir empfinden können, desto verwundbarer sind wir — und ob entrückt oder gegenwärtig, immer ist der Schmerz mit uns. 

Wir haben uns daran gewöhnt, dieses unser Dasein lohnend zu machen durch unsere Annahme, daß es über den äußeren Schein hinaus etwas gibt — daß wir für eine Zukunft leben, die über dies Dasein hinausgeht. Denn die äußere Erscheinungsform offenbart keinen Sinn. Wenn das Leben in Schmerz, Unvoll­kommen­heit und Nichts endet, scheint es eine grausame, nutzlose Erfahrung für Wesen, die geboren sind, zu denken, zu schaffen und zu lieben. Der Mensch, als ein Geschöpf der Vernunft, wünscht, daß auch sein Leben einen vernünftigen Sinn hat — und fand es schwer zu glauben, daß es einen solchen habe, solange es nicht über das hinausgeht, was er sieht — es sei denn, es gäbe eine ewige Ordnung und ein ewiges Leben hinter dieser Ungewissen und vergänglichen Erfahrung von Leben und Tod.

Vielleicht wird man mir verübeln, wenn ich scheinbar frivol nüchterne Tatsachen einführend zur Sprache bringe; aber das Problem, aus dem augenscheinlichen Chaos der Erfahrung einen Sinn zu machen, erinnert mich an meinen kindhaften Wunsch, jemandem ein Postpaket mit Wasser zu senden. Der Empfänger löst die Schnur, und die Sintflut ergießt sich in seinen Schoß. Aber das Spiel würde nie gelingen, da es aufreizenderweise unmöglich ist, ein Pfund Wasser in Papier zu wickeln und zu verschnüren.

Es gibt Papierarten, die zwar nicht wasserdurchlässig sind, jedoch besteht die Schwierigkeit darin, das Wasser in eine brauchbare Form zu bringen und so verschnüren zu können, daß das Paket nicht aufgeht.

Je mehr man sich mit den vorgenommenen Versuchen, Probleme der Politik und Wirtschaft, der Kunst, Philosophie und Religion zu lösen, beschäftigt, desto mehr bekommt man den Eindruck, daß ungewöhnlich begabte Leute ihren ganzen Scharfsinn in der unmöglichen und unlösbaren Aufgabe erschöpfen, das Wasser des Lebens in saubere und dauerhafte Pakete bringen zu wollen.

Es gibt viele Gründe, warum gerade dieses einem heutzutage lebenden Menschen besonders einleuchtend sein müßte. Wir wissen soviel über Geschichte, über all die Pakete, die gepackt wurden und prompt und folgerichtig auseinanderfielen. Wir wissen so viele Einzelheiten über die Probleme des Lebens, daß sie sich nicht mehr auf einen einfachen Nenner bringen lassen und noch verwickelter und ungeformter denn je erscheinen. Darüber hinaus haben sowohl Wissenschaft wie Industrie Tempo und Intensität so stark erhöht, daß unsere Pakete mit jedem Tag schneller und schneller auseinanderzufallen drohen.

Das ist es, woraus uns das Gefühl erwächst, daß wir in einer Zeit ungewöhnlicher Unsicherheit leben. In den letzten hundert Jahren sind so viele fundierte Überlieferungen zusammengebrochen, Überlieferungen im familiären und sozialen Leben, in Regierungsformen, in wirtschaftlicher Hinsicht und im religiösen Glauben. Im Laufe der Jahre scheinen die Felsen immer weniger zu werden, an die wir uns klammern können — weniger auch die Dinge, die wir als absolut richtig, wahr und allzeit gültig betrachten können.

Für einige ist dies eine willkommene Loslösung von Bindungen moralischer, sozialer und geistiger Dogmen. Für andere wiederum eine gefährliche und abschreckende Abwendung von Vernunft und gesundem Geist, geeignet, menschliches Leben in ein hoffnungsloses Chaos zu stürzen.

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Den meisten hat vielleicht das Gefühl der Befreiung eine kurze Erleichterung gegeben, dem tiefste Angst folgte. Denn wenn alles relativ ist, wenn das Leben ein reißender Strom ohne Ordnung und Ziel ist, in dessen Fluten absolut nichts beständig ist außer dem ewigen Wechsel, dann erscheint es wie etwas, in dem es keine Zukunft und dadurch keine Hoffnung gibt.

Die Menschen scheinen nur glücklich zu sein, wenn sie auf eine Zukunft hinblicken können — sei dies ein »angenehmes Morgen« oder ein ewiges Leben über das Grab hinaus. Aus zahlreichen Gründen fällt es mehr und mehr Leuten schwer, an das zweite zu glauben; jedoch sind jene, die an das erste glauben, im Nachteil, denn wenn die »angenehme« Zeit kommt, ist es schwer, diese auszukosten, wenn nicht die Aussicht besteht, daß sie sich fortsetzt. Hängt Glücklichsein immer von etwas ab, das in der Zukunft erwartet wird, dann jagen wir nach einem Irrlicht, das so lange unserem Zugriff entweicht, bis die Zukunft und wir selbst im Abgrund des Todes verschwinden.

Tatsächlich ist unser Zeitalter nicht unsicherer als andere zuvor. Armut, Krankheit, Krieg, Wechsel und Tod sind nichts Neues. Auch in den besten Zeiten war »Sicherheit« nie mehr als vorübergehend und scheinbar. Jedoch war es möglich, die Unsicherheit des menschlichen Lebens dadurch erträglich zu machen, daß man an jene unwandelbaren Dinge außerhalb der Reichweite allen Unheils glaubte — an Gott, an die unsterbliche menschliche Seele und an die Herrschaft ewiger Gesetze im Weltall.

Heutzutage sind solche Überzeugungen selten, selbst in religiös gesinnten Kreisen. Es gibt kaum eine gesellschaftliche Ebene, sogar nur wenige Einzelpersönlichkeiten, die — von neuzeitlicher Erziehung berührt — nicht Spuren der Saat des Zweifels in sich tragen. Es ist nur allzu augenscheinlich, daß im letzten Jahrhundert die Autorität der Wissenschaft im Denken des Volkes den Platz der Autorität der Religion eingenommen hat und daß Skeptizismus, zumindest in Fragen des Glaubens, allgemeiner geworden ist als Gläubigkeit.

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Zum Verfall des Glaubens ist es durch ehrlichen Zweifel, durch sorgfältiges und furchtloses Denken geistig hochstehender Wissenschaftler und Philosophen gekommen. Ihr Eifer und ihre Ehrfurcht für Tatsachen drangen sie, das Leben so zu sehen, zu verstehen und ihm so ins Auge zu blicken, wie es ist, ohne beschönigendes Denken. Doch trotz allem, was sie taten, um die Lebensbedingungen zu verbessern, scheint ihr Bild des Weltalls dem einzelnen letztlich keine Hoffnung zu lassen.

Der Preis ihrer Zauberkunststucke im Diesseits ist das Verschwinden eines Jenseits, und man ist geneigt, die alte Frage zu stellen: »Was hilft es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?« Logik, Intelligenz und Verstand sind befriedigt, aber das Herz verhungert. Denn das Herz hat fühlen gelernt, daß wir für die Zukunft leben. Die Wissenschaft mag uns langsam und ungewiß eine bessere Zukunft bringen - für einige Jahre. Aber dann wird das Ende kommen — für jeden von uns. Alles wird enden. Wie lange es sich auch hinausschiebt — alles Zusammengefügte muß zerfallen.

Trotz einiger gegenteiliger Meinungen ist dies immer noch die grundsätzliche Ansicht der Wissenschaft. In literarischen und religiösen Kreisen wird jetzt häufig angenommen, daß der Konflikt zwischen Wissenschaft und Glauben der Vergangenheit angehört. Einige Wissenschaftler versuchen sich sogar einzureden, daß mit der Aufgabe des rohen atomistischen Materialismus durch die moderne Physik die Hauptursache dieses Konfliktes beseitigt wurde.

Aber das ist durchaus nicht der Fall. In den meisten unserer großen Bildungskreise sind diejenigen, die es sich zur Aufgabe machen, die Vielfalt der Wissenschaft und ihrer Methoden zu studieren, weiter denn je von dem entfernt, was sie unter einem religiösen Gesichtspunkt verstehen.

Die Erkenntnisse der Kernphysik und der Relativitätslehre haben tatsächlich mit dem alten Materialismus ein Ende gemacht; jetzt aber geben sie uns das Bild eines Weltalls, in dem fast noch weniger Raum ist für Ideen mit irgendwelchem absoluten Ziel oder Plan.

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Der moderne Wissenschaftler ist nicht etwa so naiv, Gott zu leugnen, weil dieser sich nicht mit einem Teleskop finden oder die Seele sich nicht durch ein Skalpell freilegen laßt. Er hat lediglich festgestellt, daß die Idee eines Gottes von der Logik her unnötig ist. Er zweifelt sogar, daß sie irgendeine Bedeutung habe. Er will nichts auf andere als rein logische Weise erklärt haben.

Er argumentiert, daß die Behauptung, alles Geschehen unterliege der Vorsehung und der Kontrolle Gottes, tatsächlich nicht mehr bedeute, als wenn man nichts sagt. Zu behaupten, daß alles von Gott erschaffen und regiert sei, hieße nichts anderes, als zu sagen: »Alles hegt bei ihm«, was wiederum gar nichts bedeutet. Diese Meinung hilft uns nicht, irgendwelche beweisbaren Vorhersagen machen zu können, und ist daher vom wissenschaftlichen Standpunkt aus von keinerlei Wert. Wissenschaftler mögen m dieser Hinsicht recht oder unrecht haben. Es ist nicht unsere Aufgabe, diesen Punkt zu diskutieren. Wir müssen nur feststellen, daß ein solcher Skeptizismus von ungeheurem Einfluß und tonangebend für die Stimmung des Zeitalters ist.

Was die Wissenschaft alles in allem sagt, ist dies: Wir wissen nicht — und aller Wahrscheinlichkeit nach können wir auch nie wissen —, ob Gott existiert oder nicht. Nichts, was wir wissen, läßt darauf schließen, daß Er existiert, und alle Argumente, die behaupten, Seine Existenz beweisen zu können, erweisen sich ohne logischen Ruckhalt. Tatsächlich laßt sich aber auch nicht beweisen, daß es Gott nicht gibt, doch die Last dieses Beweises liegt bei denen, die solche Behauptungen aufstellen. Wenn du an Gott glaubst — so sagt der Wissenschaftler —, so mußt du das gänzlich gefühlsmäßig, ohne logische oder tatsächliche Grundlage tun. Praktisch gesprochen ist dieses Atheismus; theoretisch ist es einfach Agnostizismus.

Denn wissenschaftliche Ehrlichkeit bedingt vor allem, daß du nichts zu wissen vorgibst, was du nicht weißt, und das Wesen wissenschaftlicher Lehre fordert, daß du keine Hypothesen anwendest, die nicht nachgeprüft werden können.

Die unmittelbaren Resultate sind zutiefst beunruhigend und deprimierend gewesen. Denn dem Menschen scheint es unmöglich zu sein, ohne einen Mythos zu leben, ohne den Glauben, daß Gewohnheit und Plagerei, Furcht und Schmerzen dieses Lebens nicht irgendeine Bedeutung und ein Ziel in der Zukunft haben.

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Sofort tauchen neue Mythen auf — politische und wirtschaftliche Mythen mit verschwenderischen Versprechungen auf die beste aller Zukunfte in diesem Dasein. Diese Mythen üben bei dem einzelnen gewisse Wirkung dadurch aus, daß er zum Teil einer gewaltigen sozialen Kraftanstrengung wird, in welcher er etwas von seiner eigenen inneren Leere und Verlassenheit vergißt. Jedoch verrät gerade die Heftigkeit solcher politischer Religionen die unter ihnen schlummernde Angst. Sie gleichen einer Herde Menschen, die dicht zusammengedrängt einander zurufen, um sich im Dunkeln Mut zu machen.

Sobald der Verdacht entsteht, daß eine Religion Mythos sei, ist ihre Macht vergangen. Es mag für den Menschen nötig sein, einen Mythos zu haben, aber er kann sich nicht bewußt einen solchen verschreiben, wie er sich eine Tablette für sein Kopfweh verordnet. Ein Mythos kann nur wirken, wenn er als Wahrheit angesehen wird; Menschen können sich nicht lange bewußt und absichtlich zum Narren halten.

Selbst die besten neuzeitlichen Apostel der Religion scheinen diese Tatsache zu übersehen. Denn ihre stärksten Argumente für irgendeine Art Rückkehr zur Orthodoxie sind diejenigen, die soziale und moralische Vorzuge des Glaubens an Gott aufzeigen. Jedoch beweist dieses nicht, daß Gott eine Wirklichkeit ist. Es beweist bestenfalls, daß an Gott glauben nützlich ist. »Und gäbe es keinen Gott, man mußte ihn erfinden.« Vielleicht. Wenn aber die Masse irgendeinen Verdacht hat, daß Er nicht existiert, ist die Erfindung vergeblich.

Aus diesem Grunde hat die derzeitige Rückkehr mancher intellektueller Kreise zur Orthodoxie in vielen Fallen einen recht hohlen Klang. So vieles ist dabei mehr ein Glauben an den Glauben als ein Glaube an Gott. Der Kontrast zwischen den unsicheren, neurotischen, gelehrten »Modernen« und der ruhigen Wurde, dem inneren Frieden des Glaubigen vom alten Schlage, laßt einen den letzteren beneiden.

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Jedoch ist es eine ernste Fehlanwendung der Psychologie, das Vorliegen oder Fehlen einer Neurose zum Prüfstein der Wahrheit zu machen und anzunehmen, daß, wenn eines Menschen Philosophie ihn neurotisch macht, diese Philosophie falsch sein müsse. »Die meisten Atheisten und Agnostiker sind neurotisch, während die meisten einfachen Katholiken glücklich sind und in Frieden mit sich selbst. Daher sind die Ansichten der Ersten falsch und die der Letzten richtig.«

Selbst wenn diese Beobachtung richtig wäre, ist doch die Folgerung daraus falsch. Das ist, wie wenn du sagen wurdest: »Du sagst, es brennt im Erdgeschoß. Du bist bestürzt darüber. Aber da du bestürzt bist, ist offenbar gar kein Feuer vorhanden.« Der Agnostiker, der Skeptiker ist neurotisch, jedoch bedingt das nicht, daß seine Philosophie falsch ist; es schließt nur die Aufdeckung von Tatsachen ein, denen er sich nicht anzupassen vermag. Der Intellektuelle, der der Neurose zu entgehen versucht, indem er vor den Tatsachen flieht, handelt nur nach dem Prinzip : »Wo Unwissenheit selig macht, wäre es Torheit, weise sein zu wollen.«

Wenn Glaube an Ewiges unmöglich wird und es nur den kleinen Ersatz von Glauben an den Glauben gibt, suchen Menschen ihr Gluck in den Freuden der Zeit. Wie sehr sie auch immer versuchen mögen, es tief in ihrem Hirn zu begraben, so sind sie sich doch immer bewußt, daß diese Freuden sowohl ungewiß wie kurz sind. Das zeitigt zwei Ergebnisse: Auf der einen Seite hat man Angst, man konnte etwas versäumen, so daß der Geist gierig und nervös von einem Vergnügen zum anderen flattert, ohne in einem davon Ruhe und Befriedigung zu finden. Auf der anderen Seite gibt die fruchtlose Muhe, dauernd nach einem zukunftigen Heil in einem Morgen, das niemals kommt, zu jagen, in einer Welt, in der alles zerfallt, dem Menschen die Haltung des: »Was hat es denn überhaupt für einen Zweck?«

Als Folge davon ist unsere Zeit eine der Fruchtlosigkeit, der Angst, der Aufregung und der Neigung zu »Betäubung«. Irgendwie müssen wir zu erhaschen versuchen, was wir nur können, solange wir es können, und die Erkenntnis betäuben, daß alles nichtig und sinnlos ist. Diese Betäubung nennen wir dann unseren hohen Lebensstandard, eine gewaltsame und vielfältige Anregung der Sinne, die sie fortschreitend immer weniger empfindsam macht, so daß sie eines stets noch stärkeren Anreizes bedürfen.

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Wir dürsten nach Ablenkung — nach Anblicken, Tönen, Aufregungen und Nervenkitzeln —, nach einem Panorama, in das möglichst viel von all dem in kürzester Zeit hineingezwängt werden soll.

Um diesen »Standard« aufrechtzuerhalten, sind die meisten von uns bereit, ein Leben hinzunehmen, das vorwiegend dann besteht, mit langweiligen Betätigungen genügend Mittel zu erwerben, um in der Zwischenzeit hektischen und teuren Vergnügungen nachzugehen, die eine vorübergehende Erleichterung der Langewelle mit sich bringen. Diese Unterbrechungen halt man für das richtige Leben, für den eigentlichen Zweck, dem das notwendige Übel der Arbeit dient. Oder wir bilden uns ein, daß eine Arbeit durch die Gründung einer Familie ihre Rechtfertigung findet, die dann ihrerseits auf der gleichen Linie fortfährt, um eine weitere Familie zu errichten... und dies ad infinitum.

Das ist keine Karikatur. Es ist die nackte Wirklichkeit von Millionen Leben, so allgemein, daß wir uns kaum mit Einzelheiten zu befassen brauchen, außer die Angst und Hoffnungslosigkeit derer festzustellen, die sich damit abfinden müssen, weil sie nichts anderes zu tun wissen.

Aber was sollen wir tun ? Es scheint zwei Losungen zu geben. Erstens auf diesem oder jenem Wege einen neuen Mythos zu entdecken oder überzeugend einen alten wiederzuerwecken. Wie die Wissenschaft nicht beweisen kann, daß es keinen Gott gibt, so können wir versuchen, auf die bloße Chance hm, daß es ihn schließlich doch gibt, zu leben und zu handeln. In einem solchen Spiel scheint man nicht verlieren zu können; denn wenn am Ende der Tod steht, werden wir nie erfahren, daß wir verloren haben. Doch offenbar wird dieses nie zu einem lebendigen Vertrauen fuhren, denn es ist in Wirklichkeit kaum mehr, als wenn man sagt: »Da die ganze Sache sowieso nutzlos ist, wollen wir tun, als ob sie es nicht wäre«.

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Die zweite Lösung wäre, zu versuchen, grimmig der nackten Wirklichkeit ins Auge zu sehen, als ob das Leben »ein Märchen sei, von einem Irren erzahlt«, und daraus das Bestmögliche zu machen, und uns dabei auf unserer Reise vom Nichts zum Nichts von Wissenschaft und Technik, so gut sie es können, helfen zu lassen.

Doch sind dies nicht die einzigen Losungen. Wir können damit anfangen, den Agnostizismus der kritischen Wissenschaft anzunehmen. Wir können ehrlich zugeben, daß wir keinerlei wissenschaftliche Grundlagen haben, an Gott, Unsterblichkeit oder an irgend etwas Absolutes zu glauben. Wir können ganz und gar Abstand nehmen von dem Versuch, zu glauben, das Leben einfach so zu nehmen, wie es ist, und als nichts anderes. Doch gibt es bei diesem Ausgangspunkt noch einen anderen Kurs des Lebens, der weder Mythos noch Verzweiflung erfordert, jedoch eine totale Umwälzung in unserem normalen, gewohnten Denken und Fühlen.

Das Ungewöhnliche dieser Umwälzung ist, daß sie die Wahrheit hinter den sogenannten Mythen von überlieferter Religion und Metaphysik enthüllt. Sie enthüllt nicht Glaubensanschauungen, sondern tatsächliche Realitäten, die — in unerwarteter Weise — den Ideen von Gott und ewigem Leben entsprechen. Es gibt Grunde, anzunehmen, daß eine Umwälzung dieser Art ursprüngliche Quelle einiger der großen religiösen Ideen war und zu diesen in Bezug steht, wie die Wirklichkeit zum Symbol und wie die Ursache zum Erfolg. Der allgemeine Irrtum üblicher Religionsausübung ist, das Symbol mit der Wirklichkeit zu verwechseln, auf den Finger zu sehen, der den Weg zeigt, und dann lieber behaglich an ihm zu lutschen, statt ihm zu folgen. Religiöse Ideen sind wie Worte - von wenig Nutzen und häufig irreführend, es sei denn, du kennst die greifbare Wirklichkeit, auf die sie sich beziehen. Das Wort »Wasser« ist ein nützliches Mittel der Verständigung unter denen, die Wasser kennen. Das gleiche gilt von dem Wort und der Idee, die »Gott« genannt wird.

Ich will hier nicht geheimnisvoll scheinen oder mich geheimen Wissens rühmen. Die Wirklichkeit, die übereinstimmt mit Gott und ewigem Leben, ist ehrlich, ohne Arg, einfach und für alle sichtbar. Jedoch verlangt dieses Sehen eine Korrektur des Denkens, genau wie zur Erlangung voller Sehkraft manchmal die Augen einer Korrektur bedürfen.

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Die Entdeckung dieser Wirklichkeit wird durch Glauben mehr gehindert als gefördert, gleichgültig, ob es Glaube an Gott oder Atheismus ist. Wir müssen hier klar zwischen Glauben und Vertrauen unterscheiden, weil nach allgemeiner Übung Glauben die Bedeutung eines geistigen Zustandes erlangt hat, der fast das Gegenteil von Vertrauen ist. Glauben — wie ich das Wort hier benutze — ist das Beharren darauf, daß die Wahrheit so ist, wie man sie »gern haben« möchte oder sie sich wünschen würde. Der Glaubende will sein Bewußtsein der Wahrheit unter der Bedingung erschließen, daß sie mit seinen vorgefaßten Ideen und Wünschen übereinstimmt. Hingegen ist Vertrauen eine vorbehaltlose Erschließung des Bewußtseins gegenüber der Wahrheit, wie immer auch diese aussehen mag. Vertrauen kennt keine Voreingenommenheit, es ist ein Sprung ins Unbekannte. Glaube klammert sich. Vertrauen aber läßt sich treiben. In diesem Sinne des Wortes ist Vertrauen die grundlegende Tugend der Wissenschaft und ebenso jeder Religion, die nicht Selbsttäuschung ist.

Die meisten von uns glauben, um sich sicher zu fühlen, um ihrem Leben Wert und Bedeutung zu geben. Glauben ist auf diese Weise zu einem Versuch geworden, sich an das Leben zu klammern, es zu fassen und für sich selbst zu behalten. Aber du kannst das Leben und seine Geheimnisse nicht verstehen, solange du es zu fassen suchst. Ja, du kannst es gar nicht ergreifen, ebensowenig wie du einen Fluß im Eimer davontragen kannst. Wenn du versuchst, fließendes Wasser in einem Eimer einzufangen, so zeigt das, daß du es nicht verstehst und daß du immer enttäuscht sein wirst, denn im Eimer fließt das Wasser nicht. Um fließendes Wasser zu haben, mußt du es loslassen, mußt du es fließen lassen. Dasselbe gilt für das Leben und für Gott.

Die gegenwärtige Periode menschlichen Denkens und menschlicher Geschichte ist ganz besonders reif für dieses »Loslassen«. Unser Denken ist hierauf vorbereitet gerade durch den Zusammenbruch der Glaubens­anschauungen, in denen wir Sicherheit suchten.

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Von einem Gesichtspunkt aus, der erstaunlicherweise genau mit religiösen Traditionen übereinstimmt, ist dieses Verschwinden der alten Grundfesten und absoluten Begriffe kein Unglück, sondern eher ein Segen. Es zwingt uns nahezu, der Wirklichkeit offenen Gesichts gegenüberzutreten; Gott kannst du auch nur durch einen offenen Geist erkennen, ebenso wie du den Himmel nur durch ein klares Fenster sehen kannst. Du wirst den Himmel nicht sehen, wenn du das Glas mit blauer Farbe bemalt hast.

Jedoch sind »religiöse« Leute, die sich dagegen wehren, die Farbe vom Glas zu kratzen, die die wissen­schaft­liche Einstellung mit Furcht und Mißtrauen betrachten und Vertrauen mit dem Anklammern an gewisse Ideen verwechseln, von merkwürdiger Unkenntnis gegenüber den Gesetzen des geistigen Lebens, die sie in ihren eigenen Überlieferungen finden könnten. Ein sorgfältiges Studium vergleichender Religion und geistlicher Philosophie offenbart, daß ein Aufgeben des Glaubens, jedes Anklammern an ein eigenes zukünftiges Leben und jeder Versuch, dem Ende und dem Sterblichsein zu entrinnen, eine regelmäßige und normale Station auf dem Wege des Geistes ist. Ja, es ist tatsächlich ein solches »Grundprinzip« geistigen Lebens, daß es von Anbeginn an hätte klar sein müssen, und es erscheint nach allem überraschend, daß wissenschaftlich gebildete Theologen irgendeine andere Haltung gegenüber der kritischen wissenschaftlichen Philosophie einnehmen sollten als die der Zusammenarbeit.

Gewiß ist es nichts Neues, daß das Heil nur durch den Tod Gottes in Menschengestalt kommt. Aber es war vielleicht nicht so leicht zu erkennen, daß die menschliche Gestalt Gottes nicht nur einfach die des überlieferten Christus ist, sondern auch die der Bilder, Ideen und des Glaubens an das Absolute, an welche sich die Menschen in ihrem Denken klammern. Hier findet sich der volle Sinn des Gebotes: »Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, des, das oben im Himmel ist... Du sollst keine Götter haben neben mir« (2. Moses 20,4 und 20,3).

Um die letzte Wahrheit des Lebens zu entdecken — das Absolute, das Ewige, Gott —, mußt du aufhören, es in Form von Idolen greifen zu wollen. Solche Idole sind nicht nur die rohen Bilder,

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