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Freiheit für Prometheus – der biologische Goldrausch      Weinzierl-1985

 

181-186

In diesen Tagen fiel mir mein Tagebuch mit den Aufzeichnungen über eine Vorlesung von Reinhard Demoll in die Hände, die vor genau dreißig Jahren, 1954, in München gehalten wurde und die ich zu besuchen eigens zweimal die Woche von Ingolstadt mit dem Zug dorthin fuhr.

In einer großartigen Zusammenschau hat der große alte Mann damals all die Folgen unserer Zivilisation aufgezeigt und in seinem Buch <Ketten für Prometheus> eigentlich alles über Wasser, Luft, Gifte und Krankheiten gesagt, was uns heute, dreißig Jahre später, so quält!

»Nicht zurück zur Natur, sondern die Zivilisation beherrschen lernen«, schloß er damals seine Vorlesung und warnte davor, »ein zweites Mal nach dem Feuer zu greifen, indem man an die genetische Manipulation des Menschen herangehe«, also die grenzenlose Freiheit für Prometheus, das »Sein-wollen wie Gott« versuche….

Allerdings kam diese Warnung längst zu spät, denn schon 1953 hatten James Watson und Francis Crick bekanntlich die chemische Struktur der Desoxy­ribonukleinsäure (DNS) entdeckt, also jene Hauptbestandteile der Chromosomen, welche die Lebensvorgänge steuern. Die beiden Nobelpreisträger von 1962 entfachten damit zunächst eine biologische Revolution und später einen biologischen Goldrausch.

Durch die Erkenntnis von Struktur und Funktionsweise der DNS wurde die Entwicklung von Verfahren ermöglicht, mit deren Hilfe nunmehr der Mensch auch noch Zugriff zu den Bauplänen des Lebens erhielt. Die Diskussion um die möglichen Manipulationen der Gentechnik begann. Während die einen Horrorwesen oder Killerbakterien an die Wand malten, begannen andere das »Geschäft mit dem Leben« aufzubauen: An die 300 Firmen handeln heute weltweit mit der Gentechnik, und der Markt gilt als heißer Börsentip.

Im Februar 1984 berichtet die Europäische Gemeinschaft:

»Die Fortschritte in den Biowissenschaften haben dazu geführt, daß immer mehr lebende Moleküle und Zellen pflanzlichen oder tierischen Ursprungs aufgrund ihrer Eigenschaften in der Landwirtschaft, der Agrarnahrungsmittelindustrie, der chemischen und der pharmazeutischen Industrie genutzt werden können; das gleiche gilt für die Erzeugung von Energie aus Biomasse oder die Rückgewinnung von Abfällen im Interesse des Umweltschutzes.

Der wirtschaftliche Einsatz ist beträchtlich: 40 Prozent aller Fertigerzeugnisse sind biologischen Ursprungs, und der Weltmarkt für Biotechnologien könnte im Jahre 2000 ein Volumen von schätzungsweise 100 Milliarden Dollar erreichen.

Europa muß auf diesem Markt mit seinen Hauptkonkurrenten Schritt halten können.

Ebenso muß es sich der Biotechnologien zur Erreichung politischer Ziele bedienen können.

Hierher gehört insbesondere die Förderung der Ernährungsunabhängigkeit der Dritten Welt, aber auch die Mäßigung der öffentlichen Ausgaben in Bereichen wie der Landwirtschaft und des Gesundheitswesens, in denen die Biotechnologien noch vielfältige ungenutzte Anwendungsmöglichkeiten bieten.

Im Wettlauf der Industriestaaten um den schnellsten Weg zur >Biogesellschaft< geben die Vereinigten Staaten für die Forschung doppelt so viel wie die Gemeinschaft und für die industrielle Anwendung noch sehr viel mehr aus. Auch Japan hat sehr ehrgeizige Programme in Angriff genommen. Forscher aus Europa wandern in die Vereinigten Staaten aus, während die Handelsbilanz der Gemeinschaft, sowohl im eigentlichen Warenverkehr als auch im Bereich der Patente, ein erhebliches Defizit zu verzeichnen hat. Schuld daran sind die Zersplitterung der einzelstaatlichen Forschungs- und Entwicklungs-Politiken, die Abschottung der europäischen Märkte durch unterschiedliche einzelstaatliche Rechtsvorschriften und Normen sowie schließlich der Mangel an entsprechend ausgebildeten Wissenschaftlern.

Die Mitgliedstaaten müssen daher auch in diesem Bereich gemeinsame Anstreng­ungen unternehmen, um vor einem kontinentweiten Hintergrund günstige Voraussetzungen für Wissenschaft und Forschung zu schaffen. Die EG-Kommission hat bereits ein fünfjähriges Aktionsprogramm vorgelegt, für das 200 Millionen Ecu, zum größten Teil zur Finanzierung von Forschungs- und Demonstrations­vorhaben, bereitgestellt werden sollen. Im Mittelpunkt dieses Programms, das zugleich ein geeignetes Umfeld für die Entwicklung der Biotechnologien schaffen soll, stehen folgende Punkte:

 

Horizontale Forschungs- und Ausbildungsaktionen über grundlegende Biotechnologie, mit dem Schwergewicht auf Disziplinen, die etwa auf halbem Wege zwischen der Grundlagenforschung und der eigentlichen Anwendung liegen (viele Wirtschaftsunternehmen stehen der Finanzierung von Forschungsarbeiten mit zu langen Vorlaufzeiten zurückhaltend gegenüber).

Für sieben Bereiche der Molekularbiologie, von der Enzymtechnik über die Methoden der Risikobewertung bis hin zur Gentechnik, hat die Gemeinschaft bereits ein Programm 1982-1986 in Angriff genommen. Im Rahmen von mehr als 100 Verträgen mit verschiedenen wissenschaftlichen Einrichtungen konnten auf diese Weise, bei geteilten Kosten, Schwerpunkte der europäischen Forschung geschaffen und der Informationsaustausch in mehreren Schlüsselbereichen intensiviert werden, so zum Beispiel auf dem Agrarnahrungsmittelsektor (Impfstoffe für die Tierzucht, Mikroorganismen für die Milchverarbeitung, Genübertragung bei Kulturpflanzen u. a.).

Weit über die Möglichkeiten dieses Programms hinaus müssen jedoch systematisch auch die Engpässe beseitigt werden, die die Anwendung der modernen genetischen und biochemischen Verfahren auf Landwirtschaft und Industrie verhindern.

Daneben sind Maßnahmen zur Verbesserung der Ausbildungsprogramme sowie zur Förderung der Mobilität der Forscher zwischen den besten europäischen Forschungslabors erforderlich (die moderne Biotechnologie ist weitgehend multidisziplinär und wird selten als solche gelehrt); das gleiche gilt für kontextuelle Maßnahmen zur Schaffung der nötigen Informationsinfrastruktur, ohne die Forschung und Nutzung der Forschungs­ergebnisse nicht denkbar sind: Informations- und Kommunikations­netze, Daten­banken, fortgeschrittene Datenerfassungs­technologien, Sammlung biotischen Materials u. a. Gezielte Forschungs- und Ausbildungsmaßnahmen im Bereich des Gesundheits­wesens (Verhütung oder rasche Behandlung bestimmter Krankheiten), des Agrarnahrungsmittelsektors sowie der Feinchemie (Verbesserung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit, Verringerung der Außenhandelsdefizite, Herabsetzung der Rohstoffkosten usw.).

Diese Aktionen können außerdem den Rahmen für Demonstrationsvorhaben bilden, um den Übergang von der Forschung zur kommerziellen Nutzung zu erleichtern.

Neue Formen der Agarproduktion für industrielle Zwecke. Die zunehmende Verflechtung von Landwirtschaft und Industrie führt zu einem erheblich anwachsenden Austausch von Erzeugnissen und Dienstleistungen, wobei es darauf ankommt, diesen möglichst effizient zu gestalten. In diesem Zusammen­hang müssen die Bedingungen für den Zugang zu Rohstoffen pflanzlichen Ursprungs verbessert werden; eine Anpassung der gemeinsamen Agrarpolitik beispielsweise bei Zucker und Stärke könnte zur Steigerung der Wettbewerbs­fähigkeit der europäischen Wirtschaft beitragen.«

 bis Mitte Seite 184

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Im März 1984 tagen Fachleute und Politiker in Bonn und beklagen, daß die Bundesrepublik den »Anschluß an den Gen-Rausch verlieren, der 1985 bereits ein Markt von 4 Milliarden Dollar werden könnte«, und daß es hohe Zeit sei, die Gen-Zentren in Heidelberg, Köln und Berlin auszubauen, anstatt über die Risiken der Gentechnik zu diskutieren, auch wenn diese zugegebenermaßen »noch nicht ausgelotet seien«. Die Professoren forderten nicht nur Forschungsgelder in unbegrenzter Höhe, sondern auch »möglichst große Freiheiten«!

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Im Mai 1984 wird in einem »Aufbruch zu neuen Grenzen« das vierte deutsche Genzentrum in München eröffnet:

»Schwerpunkte im vierten bundesdeutschen Genzentrum sind Forschungs­arbeiten im Bereich der Biochemie, Genetik, Mikrobiologie, der Immunologie, der pharma­zeutischen Biologie und der physiologischen Chemie.

Dahinter verbirgt sich die wissenschaftliche Absicht, in Bereiche vorzudringen, die – so der Ministerpräsident in seiner Eröffnungsrede – die Hoffnung schüren, eines Tages könne nicht nur die Beherrschung der Geißel Krebs gelingen, sondern auch der Hunger in der Welt besiegt werden...

Das zunächst auf fünf Jahre befristete Forschungsprojekt will mit modernsten Methoden <den Zusammenhängen der Natur auf die Schliche kommen>...

Aber auch Manipulationen an Pflanzen werden auf diese Art irgendwann möglich sein. Dabei soll erforscht werden, wie Nutzpflanzen gegen Herbizide widerstands­fähiger gemacht werden können, so daß sie beim Gifteinsatz nicht mit dem Unkraut mitsterben...

Im medizinischen Bereich wird nicht ausgeschlossen, daß die Gentechnologie den Schlüssel zu Impfstoffen liefert, mit deren Hilfe Volkskrankheiten bekämpft werden können. Das gilt für Rheuma ebenso wie für Hepatitis. Auch wird angenommen, daß es gelingt, über die Gentechnologie menschliches Insulin zu produzieren.

Die Steigerung des Nährwerts von Pflanzen, aber auch Probleme der Tierzucht und der Forstwirtschaft sollen mit Hilfe dieser Zukunftstechnologie bewältigt werden, wie die an diesem Projekt beteiligten Wissen­schaftler betonten.... Eine der spektakulärsten Gentechnologien, die >Klonierung<, also Nachbildung oder Reproduktion des Menschen, wird in München keinen Platz haben... Im übrigen sei er in diesem Fall für eine Art >Verzichtpolitik<. >Es gebe<, so der Professor, >Wege, die auch Wissenschaftler nicht ohne weiteres überschreiten sollten.<«

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Im Juni 1984 tagen Rechtswissenschaftler, Philosophen und Ethiker, um über das »völlige Neuland« zu beraten, das durch die künstliche Befruchtung und durch andere Gentechnologien entstanden ist:

Die Freiheitsspielräume sind größer geworden, die neuen Technologien verlangen eine »wesentlich höhere Entscheid­ungs­konsequenz«, sagten die Professoren und meinten, daß die »juristische Notbremse schon jetzt gezogen werden müsse, wo mit menschlichen Samen und tierischen Eizellen manipuliert werde«.

Anderer Meinung ist da freilich die Seite der Biounternehmen, die im Juli 1984 von einem »Siegeszug der Biotechnik« schwärmen, der eisernen Willen und hohe Risikobereitschaft erfordere: In der Pharmazie, im Bergbau, bei der Gewinnung von Proteinen und Gewebekulturen stehe eine völlig neue Welt offen. Vor allem das »Basteln am Erbgut« sei so faszinierend, »als wenn eine Kuh gezwungen würde, Eier zu legen«.

Wer im August 1984 die Wirtschaftspresse verfolgt hat, konnte feststellen, daß kaum ein Konzern von Rang und Namen versäumt hat, in den Bio-Boom zu investieren; »allenfalls bei Eingriffen in die Biologie der menschlichen Vermehrung«, hieß es, »ist man bereit, Zugeständnisse zu machen«.

Im übrigen, so der Bundesforschungsminister, bestehe »kein Anlaß zu Besorgnis oder gar zu staatlichen Maßnahmen«.

Und die CDU/CSU warnt im Deutschen Bundestag, daß in Deutschland die gesellschaftspolitische Diskussion über Ethik und Gentechnik stattfindet, während andere Länder das Geschäft machen.

Hinter vorgehaltener Hand freilich hört man, daß die »Akzeptanz einiger ganz neuer Wege leider in unserer Gesellschaft noch nicht gegeben sei«.

Im übrigen solle man endlich aufhören, über die Klonung von Menschen nachzu­denken, sond­ern sich dem völlig neuen Lebensgefühl hingeben, das nun plötzlich die Herstell­ung von Alkoholtreibstoff, die Medizin, die Landwirtschaft und die Umwelt verbessere.

Anfang September 1984 ist zu erfahren, daß in ihrer »weitsichtigen Global­strategie« die multinationalen Konzerne den Bio-Markt, die Gentechnik, die »Zukunft des Lebens« fest im Griff hätten.

Und in Paris verkündet ein renommierter amerikanischer Professor: »Jetzt hat die Menschheit die letzte Tür aufgestoßen. Es wird Chimären­wesen geben für Spezialaufgaben, und der geklonte Mensch wird Wirklichkeit. Genetic engineering ist die Schlüsseltechnologie der Zukunft.«

Prometheus ist wieder einmal auf freiem Fuß – Ketten für Prometheus!

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Hubert Weinzierl - Passiert ist gar nichts - Eine deutsche Umweltbilanz - 1985