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3   Die Anzahl der Toten und das Nahrungsparadoxon

 Weisman-2013

 

  Die Sterberate 

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Genetische Forschungen lassen daraufschließen, dass sich die Zahl unserer Homo-sapiens-Vorfahren irgendwann vor 50.000 bis 100.000 Jahren auf nur 10.000 belief. Dann begannen unsere Vorfahren, aus Afrika auszu­wandern, wobei sie in nördlicher Richtung einem Artenkorridor folgten, der sie ins heutige Israel und Palästina führte, um sich dann nach Europa, Asien und darüber hinaus auszubreiten. Da sie nun mehr Nahrung fanden, stieg ihre Zahl, jedoch nur unmerklich. Wie Robert Engelman vom Worldwatch Institute in seinem Buch More aufzeigt, hätte nicht nur die Erde, sondern das gesamte Sonnensystem uns innerhalb weniger Jahrtausende nicht mehr tragen können, wenn ihre Wachstumsrate unserer heutigen entsprochen hätte (derzeit weltweit 1,1 Prozent jährlich, was einer Verdoppelung alle 63 Jahre entspricht).

Der einfache Grund dafür, dass die Bevölkerungszahlen bis in die jüngere Menschheitsgeschichte hinein niedrig blieben, war, dass die Menschen fast so schnell starben, wie andere geboren wurden. Zehntausende Jahre lang erlebten die meisten von ihnen wahrscheinlich nicht einmal ihren ersten Geburtstag. Die Geburtenraten mögen hoch gewesen sein, doch hoch war auch die Kindersterblichkeit. Von den sieben Kindern, die eine Frau zur Welt brachte, überlebten vielleicht zwei.

Zwei Menschen, ein Mann und eine Frau, die zwei Kinder zeugen, ersetzen im Grunde sich selbst.* Sind es mehr als zwei, wächst die Bevölkerung. Die Tatsache, dass die Bevölkerung noch bis vor etwa zwei Jahrhunderten so langsam wuchs, bedeutet, dass die durchschnittliche Anzahl der Kinder, die lange genug lebten, um selbst Kinder zu bekommen, kaum mehr als zwei betrug. Für jede Familie mit mehr als zwei Kindern, die das Erwachsenenalter erreichten, hatte eine andere nur ein Kind oder keins, das dies schaffte - bei jeder Zahl unter zwei schrumpft die Bevölkerung.

Gelegentlich schrumpfte sie dramatisch, so wie während des Schwarzen Todes, der Pest, Mitte des 14. Jahrhunderts, der Schätzungen zufolge ein Viertel der Menschheit zum Opfer fiel. Doch selbst ohne ungewöhnliche Pandemien lebten die Menschen immer im Schatten des Todes, bis der britische Landarzt Edward Jenner 1796 einen Impfstoff gegen Pocken entdeckte, eine Krankheit, die Jahr für Jahr Millionen Todesopfer forderte. Jenners Impfstoff war der erste überhaupt. Der französische Chemiker Louis Pasteur entwickelte dann im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts andere Impfstoffe, und zwar gegen Tollwut und Milzbrand. Pasteur wartete noch mit zwei wichtigen anderen Beiträgen zum menschlichen Überleben auf. Zum einen handelte es sich um den bekannten Prozess, den unsere Molkereibetriebe heute noch nutzen: die Pasteurisierung. Sie verlängerte die Haltbarkeit von Milch, wodurch die Ernährung verbessert und Infektionen durch Erreger wie Salmonellen und jene, die Scharlach, Diphtherie und Tuberkulose hervorrufen, verringert wurden. Zum anderen trug Pasteur auch maßgeblich dazu bei, die Menschheit davon zu überzeugen, dass Krankheiten sich nicht auf geheimnisvolle Weise spontan entwickeln, sondern durch Keime verbreitet werden.

Im 19. Jahrhundert setzte sich erstmals der Gebrauch von Handseife durch, in Privathaushalten wie in Krankenhäusern. Zuvor starben die Patienten genauso oft an Infektionen, die sie sich durch die nicht sterilisierten Hände und Skalpelle von Chirurgen zugezogen hatten, wie an den Leiden, die der Chirurg zu heilen versuchte. Eine der ersten Einrichtungen, in der ein chirurgisches Desinfektionsmittel verwendet wurde, war eine Entbindungs­station in Wien, wo die Ärzte, die sich die Hände in einer Chlorlösung wuschen, die Sterblichkeit von Kindern und Müttern um den Faktor zehn verringerten - eine Neuerung, die eine unmittelbare Auswirkung auf die Zahl der lebenden Menschen hatte.

* Die heutige Ersatzrate liegt laut den Demografen knapp über 2 (ein Durchschnitt von 2,1 Kindern pro Frau in den Industrieländern), weil eine gewisse Kindersterblichkeit unvermeidbar ist. In den Entwicklungsländern, in denen Kinder gefährdeter sind, ist die Rate höher. Weltweit liegt die durchschnittliche Ersatzrate bei 2.33.

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Im 20. Jahrhundert gab es ständig medizinische Fortschritte, die allesamt noch mehr Menschenleben retteten und verlängerten. Nachdem der kubanische Mikrobiologe Carlos Juan Finlay den Überträger des Gelbfiebervirus entdeckt hatte, führten die amerikanischen Ärzte William C. Gorgas und Walter Reed das weltweit erste umfassende Stechmücken-Kontrollprogramm durch, ohne das der Panamakanal nie fertiggestellt worden wäre. Weitere Impfstoffe gegen Diphtherie, Tetanus und schließlich Polio wie auch die äußerst wichtige Erfindung von Antibiotika senkten die Sterberate und verlängerten die Lebensdauer - was heißt, dass insgesamt immer mehr Menschen, junge und alte, lebten. 1800 lag die durchschnittliche Lebenserwartung für die meisten Menschen bei 40 Jahren. Heute ist sie in großen Teilen der Welt fast doppelt so hoch.

Dass mehr Menschen länger leben - wer könnte dagegen Einwände erheben? »Das Ziel der Menschen, die Sterberate zu verringern, ist mir sehr wichtig«, sagt Albert Bartlett fröhlich, »wenn es dabei um meine eigene Lebens­erwartung geht.«

Dem wird keiner über 40 widersprechen, denn möglicherweise würde er ohne diese medizinischen Errungenschaften nicht mehr unter den Lebenden weilen. Wahrscheinlich wird auch sonst niemand protestieren. Jede Diskussion einer optimalen Bevölkerungszahl für das Menschengeschlecht muss also von einer optimalen Gesundheitsfürsorge ausgehen. Der Gedanke, unsere Zahl durch das Senken der medizinischen Standards zu begrenzen, ist genauso inakzeptabel wie der, es durch selektives Töten zu tun.

Das macht jedoch den folgenden ethischen Einwand im Zusammenhang mit weiteren medizinischen Fortschritten und ihren Folgen nicht hinfällig: Würde man eine der derzeit größten Herausforderungen - zum Beispiel Heilmittel für Malaria und HIV zu finden - erfolgreich meistern, wäre die Folge ein bedeutender Anstieg der Bevölkerungszahl. Allein der Malaria fällt alle 30 Sekunden ein Kind zum Opfer. Wenn Kinder nicht länger an dieser Krankheit sterben, werden sie überleben und weitere Kinder zeugen, die ebenfalls nicht an Malaria sterben werden.

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Da es gewissenlos wäre, die Ausrottung der Malaria abzulehnen, um die Bevölkerungszahl unter Kontrolle zu halten, stellt sich die Frage, ob diejenigen, die die Malaria- und HIV-Forschung finanzieren, nicht die moralische Verpflichtung haben, auch die Familienplanung zu finanzieren - damit wir nicht durch unsere schiere Anzahl unsere Lebensgrundlage gefährden. Bis jetzt gibt es noch keinen Impfstoff gegen das Aussterben.

 

  Schöner neuer Überfluss  

 

Der andere Grund dafür, dass die Bevölkerungszahlen im letzten Jahrhundert plötzlich in die Höhe schössen, war ein beispielloser Anstieg des Nahrungsangebots. In der Lage zu sein, alle Erdenbewohner zu ernähren, klingt nach einem weiteren moralischen Imperativ, über den man nicht lange nachdenken muss. Doch dieser ist ein wenig heikler. Er wirft ein Paradoxon auf, das der Intuition auf den ersten Blick genauso zuwiderzulaufen scheint wie die unerwarteten Ergebnisse der exponentiellen Verdoppelung.

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Die wachsende Zahl der Menschen war entscheidend für den Erfolg der beschäftigungsintensiven europäischen industriellen Revolution. Sie-bedeutete aber auch, dass Europa mehr Nahrungsmittel denn je zuvor produzieren musste, um all diese Menschen zu ernähren. Der deutsche Chemiker Justus von Liebig leistete hierzu zwei Beiträge - einen riesengroßen und einen monumentalen. Der riesengroße war die Entwicklung der weltweit ersten Säuglingsfertignahrung. Ob deren Nährstoffgehalt, wie von Liebig behauptete, dem der Muttermilch entsprach, wird noch immer heftig diskutiert. Dennoch befreite die Fertignahrung viele Mütter von der anstrengenden Aufgabe, ihre Kinder auf unbestimmte Zeit zu stillen, und ermöglichte es den Kindern, ein frühes Abstillen zu überleben. Und da die Laktation Hormone freisetzt, die in der Regel den Eisprung unterdrücken, führte die Abnahme des Stillens zu noch mehr Schwangerschaften.

Justus von Liebigs monumentale Entdeckung war die, dass Stickstoff zusammen mit Phosphor und Kalium zu den essenziellen Pflanzennährstoffen gehört. Obwohl er als der Erfinder des Kunstdüngers gilt, war er nicht verantwortlich für den künstlichen Stickstoffdünger, der heute verwendet wird, eine Erfindung, die wahrscheinlich den Lauf der Dinge mehr veränderte als jede andere in der modernen Geschichte, einschließlich der von Autos und Computern. Die kamen später. Zu von Liebigs Lebzeiten stammten die kommerziellen Stickstoffdünger hauptsächlich von den Exkrementen von Meeresvögeln und Fledermäusen. Besonders wertvoll war der Guano von Inseln vor der Küste Perus, wo Kormorane, Pelikane und Tölpel, die sich von riesigen Schwärmen nährstoffreicher Sardellen ernährten, rund 46 Meter dicke Schichten weißen Kots abgelagert hatten. Im 19. Jahrhundert transportierten Galeonen und Dampfschiffe mehr als 20 Millionen Tonnen davon um das Kap Hoorn herum nach Europa.

Von Liebig, der sich seine Entdeckungen nicht hatte patentieren lassen, profitierte wenig von ihnen. Verärgert über die Reichtümer, die Nestle und andere Konkurrenten angehäuft hatten, sicherte er sich später die Rechte an einer letzten Erfindung, die mutmaßlich zur menschlichen Ernährung beigetragen hat: dem Brühwürfel.

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Stickstoff, ein essenzieller Nährstoff, ist ein so inertes Gas, dass im Unterschied zum Wasserstoff große Mengen davon ungebunden in der Atmosphäre vorkommen. Tatsächlich sind mehr als drei Viertel der Luft, die wir atmen, reiner Stickstoff. Nichts in unseren Lungen verbindet sich chemisch mit ihm, sodass wir ihn gefahrlos ausatmen. In der gesamten Natur kann nur ein einziger Enzymkomplex, die Nitrogenase, in der Luft schwebenden Stickstoff absorbieren und chemisch in eine biologisch verfügbare Form wie etwa Ammoniakdünger umwandeln. Und nur wenige Pflanzen sind Wirte von Bakterien, die Enzyme tragen und wiederum von Knötchen an den Pflanzenwurzeln ernährt werden.

Bei diesen Pflanzen handelt es sich in erster Linie um Hülsenfrüchte wie Linsen, Bohnen, Klee, Soja, Erbsen, Luzerne, Verek-Akazien und Erdnüsse. Bis zur Erfindung synthetisch hergestellten Düngers waren diese symbiotischen Pflanzen/Bakterien-Paare die Hauptquelle von Stickstoff im Boden und begrenzten die Anzahl von Pflanzen, die der Planet hervorbringen konnte. Praktisch alles Grüne, das wuchs, profitierte vom Stickstoff, den Hülsenfrüchte gespeichert hatten. Aus diesem Grund wechselten die Bauern traditionell Hülsenfrüchte mit Getreide ab, bauten beide zusammen an (wie Mais und Bohnen in Lateinamerika) oder pflügten Zwischenfrüchte wie stickstoffreichen Klee in ihre Felder, um den Boden zu verbessern.

Justus von Liebig fügte dem Ganzen nun noch zusätzlichen Stickstoff hinzu, doch da seine Düngemittel aus natürlichen Quellen stammten, waren auch sie durch die biologische Nahrungskette beschränkt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der Guano auf den Inseln Perus bereits erschöpft, und neuer wurde nicht so schnell produziert wie Menschenbabys. Die nächste Stickstoffquelle, die man ausbeutete, war Salpeter: Natriumnitratkristalle, die nur in sehr trockenen Umgebungen wie dem Death Valley in Kalifornien und Chiles Atacamawüste in großen Mengen vorkommen.

1913 sprengte die landwirtschaftliche Technologie dann die Grenzen der Natur. Fritz Haber und Carl Bosch, die entdeckten, wie sich Stickstoff aus der Luft entnehmen und Pflanzen in einem Umfang zuführen lässt, der weit über das hinausgeht, was von Liebig sich vorgestellt hatte, waren ebenfalls Deutsche. Jedem von ihnen wurde ein Nobelpreis für seinen Beitrag zu dem verliehen, was als das Haber-Bosch-Verfahren bekannt wurde und die Welt wie kein anderes Verfahren verändert hat. Und beide zerbrachen daran, dass sie Deutsche waren.

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Fritz Haber wurde 1868 in eine in Preußen lebende chassidisch-jüdische Kaufmannsfamilie hineingeboren. Er studierte Chemie bei Robert Bunsen, dessen nach ihm benannter Bunsenbrenner die Laborforschung beträchtlich voranbrachte. Als Haber 1905 an der Universität Karlsruhe unterrichtete und die Thermodynamik erforschte, stellte er fest, dass kleine Mengen Ammoniak produziert werden können, wenn Stickstoff und Wasserstoff bei 1000 Grad an einem Eisengemisch-Katalysator zur Reaktion gebracht werden. Später gelang ihm dies mithilfe von Hochdruck auch schon bei einer nur halb so großen Temperatur.

Nachdem Haber seine Ergebnisse publiziert hatte, wurde das Verfahren von dem deutschen Farbstoffhersteller BASF erworben. Das Unternehmen beauftragte den jungen Ingenieur Carl Bosch, Habers Ammoniak-Labor­experiment für die industrielle Anwendung in großen Anlagen nutzbar zu machen. Bosch verbrachte vier Jahre damit, ein Doppelrohr zu entwerfen, das unter Druck nicht explodierte, sowie einen reinen Eisenkatalysator und Hochöfen, die sowohl hohem Druck als auch hohen Temperaturen standhalten konnten.

1913 eröffnete BASF dann seine erste Ammoniakfabrik. Ammoniak war der Rohstoff für Ammoniumsulfat - Stickstoffdünger. Der Farbstoffhersteller war nun in einem völlig neuen Geschäftszweig tätig: der Agrarindustrie. Innerhalb weniger Jahre schrieb ihr neuer künstlicher Nährstoff bereits Geschichte, als eine Blockade der Alliierten während des Ersten Weltkriegs Deutschland den Zugang zu chilenischem Salpeter abschnitt. Deutschland konnte sich nun nicht nur selbst ernähren, Ammoniumsulfat konnte auch in synthetischen Salpeter verwandelt werden, aus dem BASF schon bald Schießpulver und Sprengstoffe herstellte. Ohne das Haber-Bosch-Verfahren hätte der Erste Weltkrieg bei Weitem nicht so lange gedauert.

Fritz Habers Ammoniaksynthese war eine Entdeckung von so weitreichender Bedeutung, dass ein Nobelpreis in Chemie keine Überraschung hätte sein sollen. Doch da er ihn 1918 unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs erhielt, war das Ganze sehr umstritten.

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Während des Kriegs wurde ihm der Dienstgrad eines Hauptmanns zuerkannt, weil er dem kaiserlichen Generalstab den Einsatz von Giftgas vorschlug und diesen Einsatz dann auch leitete. Als seine Frau, die ebenfalls Chemikern war, erfuhr, dass er für die Chlorgas- und Senfgasangriffe während der Flandernschlacht verantwortlich war, beging sie Selbstmord. (Aus demselben Grund nahm sich später auch der Sohn der Habers, der ebenfalls Chemiker war, das Leben.)

Haber entwickelte jedoch noch weitere Agrochemikalien, die für verwerfliche Zwecke genutzt werden konnten. Ein Pestizid-Begasungsmittel zur Verwendung in Getreidespeichern, das auf Zyanid basierende Zyklon A, wurde später von Nazichemikern zu dem wirkungsvolleren Zyklon B verfeinert, das in den Vernichtungslagern zum Einsatz kam. Obwohl Haber Jude war, wurde er nicht zum unmittelbaren Opfer seiner eigenen Erfindung. Da er als Student zum Luthertum konvertiert war und einen wesentlichen militärischen Beitrag geleistet hatte, versicherte man ihm 1933, dass die Befehle der neuen Naziregierung, die ein Dutzend Juden in seinem Labor den Job kosteten, für ihn nicht galten. Als er sich aus Protest gegen die Entlassung seiner Kollegen in den Ruhestand versetzen ließ, stellte er schockiert fest, dass ihm keine andere Wahl blieb, als ins Exil zu gehen. Der Patriot, der keine Skrupel gehabt hatte, sein Talent zur Entwicklung chemischer Waffen zu nutzen, wurde außerhalb Deutschlands ein gebrochener Mann. Innerhalb eines Jahres starb er - unterwegs nach Palästina, wo er auf Einladung des Zionisten und späteren israelischen Staatspräsidenten Chaim Weizmann das Forschungsinstitut leiten sollte, das heute Weizmanns Namen trägt.

Carl Bosch, der zum Generaldirektor der I.G.-Farben ernannt wurde, einem Zusammenschluss von Chemieunternehmen, zu dem auch die BASF gehörte, wurde zu einem der mächtigsten Industriellen Deutschlands. Er erhielt seinen Nobelpreis 1931 für die Entdeckung und Entwicklung chemischer Hochdruckverfahren, zu denen auch die Erfindung der Dampfreformierung von Erdgas zur Produktion von Wasserstoff gehörte. Alarmiert durch die Vorgänge im Dritten Reich traf er sich mit Hitler und versuchte, ihn davon abzuhalten, sein Land in einen weiteren Krieg zu führen. Doch der Führer ließ sich nicht aufhalten. Er sorgte lediglich für Boschs Entlassung als Generaldirektor der I.G.-Farben, die später Zyklon B produzierte. Verzweifelt und depressiv starb Bosch 1940.

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Zwischen den beiden Weltkriegen, zu deren grausamer Verlängerung die Arbeit von Haber und Bosch beitrug, verbreitete sich deren Verfahren überall auf der Welt und revolutionierte schließlich die "Landwirtschaft. Die Herstellung von Kunstdünger erfordert hohe Temperaturen und hohen Druck und damit auch eine intensive Energiezufuhr (heute ein Prozent des Energieverbrauchs weltweit). Da der zur Herstellung von Düngemitteln nötige Wasserstoff aus Erdgas gewonnen wird, ist man hier besonders stark von fossilen Brennstoffen abhängig. Deswegen werden wir nur so lange einen Vorrat an künstlichem Stickstoff haben, solange uns die fossilen Brennstoffe nicht ausgehen. Doch künstlicher Stickstoff verdoppelt praktisch die Menge des Pflanzennährstoffs, den die Natur zur Verfügung stellt, und etwa die Hälfte der Menschheit könnte ohne ihn nicht überleben.

Bevor der Stickstoffdünger weithin verfügbar wurde, belief sich die Weltbevölkerung auf rund zwei Milliarden. Ohne ihn könnte dies eine Zahl sein, auf die wir auf natürliche Weise beschränkt wären.

 wikipedia  Fritz_Haber    wikipedia  Clara_Immerwahr     wikipedia  Carl_Bosch  

 

  Hunger 

Im August 1954 erhielt der 29-jährige Bill Wasson die Bestätigung dafür, dass Gott existierte. Wasson, der in einer frommen, mildtätigen katholischen Familie in Phoenix, Arizona, aufgewachsen war, hatte nie einen Grund gehabt, daran zu zweifeln - bis die Benediktiner ihn im letzten Jahr seiner Missionarsausbildung des Priesterseminars verwiesen. Eine Notoperation, bei der die Hälfte seiner Schilddrüse entfernt worden war, hatte ihn ihrer Ansicht nach zu sehr geschwächt, um das Priesteramt antreten zu können.

Am Boden zerstört war er nach Hause zurückgekehrt. Die Familie überredete daraufhin ihren zutiefst deprimierten Sohn, ein Studium aufzunehmen. Wasson machte seinen Master in Jura und Soziologie, blieb aber unter­gewichtig und trübsinnig. Während eines Urlaubs in Mexiko erlitt er einen Rückfall, der ihm beinahe zum Verhängnis geworden wäre, hätte ein Arzt in Mexiko-Stadt nicht herausgefunden, dass er die ganze Zeit über unwissentlich eine Überdosis seines täglich einzunehmenden Schilddrüsenmedikaments genommen hatte.

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Plötzlich fühlte Wasson sich besser als seit Jahren. Dankbar, dass er einen Arzt gefunden hatte, dem er vertraute, blieb er und unterrichtete Psychologie und Kriminalwissenschaft an der University of the Americas.

Wasson trauerte jedoch noch immer seinem verlorenen Traum hinterher, ein Priester für die Bedürftigen zu sein. Schließlich ging er zu einem Psychoanalytiker, der auch katholischer Priester war. »Sie sind nicht verrückt«, erklärte der seinem Besucher und verordnete ihm statt einer Psychotherapie ein Treffen mit dem neuen Bischof von Cuernavaca, eine Stunde südlich von Mexiko-Stadt. Bereits in seinem ersten Jahr, 1953, hatte Bischof Sergio Mendez Arceo seine wohlhabenden Gemeindemitglieder schockiert und die Zuneigung der Armen gewonnen, als er bei der Sonntagsmesse in der Kathedrale Mariachi-Musik spielen ließ. Nachdem Mendez dem schlaksigen, blonden Amerikaner zwei Stunden lang auf den Zahn gefühlt hatte, teilte er ihm mit, er solle sich bereit machen: »In vier Monaten werde ich Sie zum Priester weihen.«

Als es so weit war, gab er ihm die Kirche auf dem Marktplatz von Cuernavaca. Wasson war in seinem Element. Er verwandelte seine halbe Unterkunft in eine Klinik, in der Kranke kostenlos behandelt wurden, sowie in eine Suppenküche. Als sich herausstellte, dass es sich bei einem Dieb, der die Almosenbüchse geplündert hatte, um einen obdachlosen Waisenjungen handelte, verhinderte Wasson, dass die Polizei ihn ins Gefängnis steckte. »Er ist kein Krimineller«, sagte er. »Er hat nur Hunger.«

Stattdessen nahm er den Jungen bei sich auf. Am nächsten Tag klopfte es an seiner Tür. Es war die Polizei, mit acht weiteren Waisenkindern aus dem Gefängnis. »Da Sie glauben, dass die Jungen einfach unschuldige Straßen­kinder sind, können Sie die hier auch noch haben.«

Wasson handelte schnell. Bis zum Abend hatte er ein leer stehendes Bierdepot gefunden, in dem sie alle schlafen konnten. Die Sache sprach sich bald herum: Ein Gringo-Priester nahm verlassene Jungen auf! Innerhalb eines Monats hatte er 30, innerhalb von drei Monaten 83. Er war erstaunt, dass es so viele von ihnen im Land gab. Er wollte sie alle finden.

1954 hatte Mexikos Bevölkerung gerade die 25-Millionen-Marke überschritten. Sie wuchs doppelt so schnell wie die Weltbevölkerung und erreichte ein halbes Jahrhundert später mehr als das Vierfache.

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Viele seiner Jungen hatten, wie Wasson bald erfuhr, mehr als zehn Geschwister. Einige hatten sogar mehr als 20, wenn sie die Halbgeschwister in den casas chicas mitrechneten - den Familien, die ihre Väter nebenbei hatten. Wenn die Frauen starben - nur allzu oft an Erschöpfung, weil sie so viele Kinder aufziehen mussten, und das meist alleine -, machten sich die Männer oft aus dem Staub.

Eines Abends fand Wasson, als er nach Hause kam, die Jungen um sein Radio versammelt, wo sie Berichten über einen Wirbelsturm in Veracruz lauschten. Verwaiste Kinder streiften, wie es hieß, in den überfluteten Straßen umher. »Padre, Sie müssen dorthin und die Kinder retten«, drängten die Jungen.

Sie lebten von gespendeten Lebensmitteln und schliefen auf Decken auf dem Boden. »Wir haben kaum genug Bohnen und Tortillas und Decken für uns selbst«, protestierte Wasson. Doch sie hatten ihre Entscheidung bereits getroffen: »Wir werden mit ihnen teilen.«

Wasson kam mit 30 neuen Kindern zurück. Glücklicherweise halfen ihm Menschen, die erfahren hatten, was er tat, auch dann noch dabei, Nahrungsmittel und Geld aufzutreiben, wenn er ihre Ratschläge ignorierte, nicht ständig noch mehr Kinder aufzunehmen. Als Wasson mitbekam, dass sich einige der Neuzugänge von der verwüsteten Golfküste Sorgen um ihre Brüder machten, die sie zurückgelassen hatten, kehrte er in die Region zurück, um nach ihnen zu suchen. Zu seiner Familie gehörten schon fast 200 Mitglieder, als die Sekretärin des Bischofs ihren Job aufgab, um ihm zu helfen, weil die Jungen auch noch Schwes tern hatten.

1975 war Nuestros Pequehos Hermanos, Unsere kleinen Brüder und Schwestern, mit 1200 Kindern das größte Waisenhaus der Welt. Mexiko-Stadt war die größte Stadt der Welt und Mexiko selbst mit einer Bevöl kerung von 60 Millionen das am schnellsten wachsende Land auf diesem Planeten - ja, die Bevölkerung wuchs so schnell, dass die Regierung in jenem Jahr der katholischen Kirche die Stirn bot und ein nationales Familienplanungsprogramm ins Leben rief. Schon bald stiegen Maultierreiter, deren Satteltaschen mit Kondomen und Antibabypillen sowie mit Impfstoffen gegen Polio, Diphtherie, Wundstarrkrampf und Keuchhusten gefüllt waren, die Berge hoch und in die Schluchten hinab. Wie sich herausstellte, waren die Frauen bereit, zu einer Dorfklinik zu wandern und sich die Antibabypille zu besorgen, solange ihre lebenden Kinder gegen Krankheiten geimpft wurden, denen sie andernfalls erliegen konnten.

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Innerhalb eines Jahrzehnts verlangsamte sich Mexikos Verdoppelungsrate von alle 15 auf alle 24 Jahre. Wäre sie nicht weiter gesunken, hätte Mexikos Bevölkerung theoretisch bis zum 22. Jahrhundert auf eine Milliarde anwachsen können - ein Ding der Unmöglichkeit, weil schon lange vor diesem Zeitpunkt sowohl die Umwelt als auch der Grenzzaun, den der Nachbar im Norden immer mehr verlängert und befestigt, um den Mexikanern den Zutritt zu verwehren, diesem Druck nicht standgehalten hätten. Heute hat die durchschnittliche mexikanische Familie nur 2,2 Kinder: kaum noch mehr als bloß die Ersatzquote. Dennoch wird Mexikos Bevölkerung in den kommenden Jahrzehnten weiter anwachsen, da die bereits geborenen Kinder selbst wieder Kinder bekommen.

Pfarrer Bill Wasson hatte bereits mehr Kinder, als er ernähren konnte. Über die Hälfte der Zeit war er unterwegs, um Geldmittel für ihre Nahrung, Kleidung und Schulbildung aufzutreiben. Mitte der 7oer-Jahre zog er mit seiner riesigen Familie von Cuernavaca aus Richtung Süden auf eine ihnen überlassene ehemalige Zuckerrohr-Hacienda, die Emilia-no Zapatas Truppen während der mexikanischen Revolution von 1910 geplündert hatten. Der Plan war, dort genug Mais, Bohnen und Gemüse anzubauen, um alle Kinder ernähren zu können. Unterstützt wurde Wasson von Edwin Wellhausen, der sich vor Kurzem aus dem International Maize and Wheat Improvement Center, bekannt unter seinem spanischen Akronym CIMMYT*, zurückgezogen hatte. Diese Forschungseinrichtung, die die Rockefeller Foundation nordöstlich von Mexiko-Stadt in der Nähe der berühmten Pyramiden von Teotihuacän gegründet hatte, gilt heute als der Geburtsort der sogenannten Grünen Revolution. Der frühere CIMMYT-Leiter Norman Borlaug war für die Entwicklung einer krankheitsresistenten, ertragsstarken Sorte Zwergweizen (Zwergweizen, weil normale Weizenpflanzen vom Gewicht der zusätzlichen Körner, die Borlaugs Sorten produzierten, umgeknickt wären) 1970 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden.

*Centro Internacional de Mejoramiento de Maiz y Trigo.

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Edwin Wellhausen war der Maiszucht-Spezialist des CIMMYT. Er hatte eine lysinreiche Maissorte entwickelt, die nun den Proteingehalt in den Tortillas erhöhte, die die Kinder von Nuestros Pequenos Herma-nos zu jeder Mahlzeit aßen. Wellhausen, ein groß gewachsener, dünner Mann mit Brille und Stroh-Sombrero, traf mit einem Laster samt Anhänger ein, der mit Hunderten von weißen Säcken beladen war. Einige enthielten gespendetes Saatgut, andere Ammoniumnitrat und Harnstoff: Stickstoffdünger. Die restlichen Säcke waren mit Pestiziden und Fungiziden gefüllt: Den im Rahmen der Grünen Revolution eilig im Labor auf hohe Erträge gezüchteten Hybriden fehlte die Widerstandskraft gegen verschiedene Bazillen, die Getreide wie der in Mexiko beheimatete Mais im Verlauf Tausender von Jahren der Evolution aufgebaut hatten.

Pfarrer Wasson hatte nun einen ziemlich großen Mitarbeiterstab, zu dem auch viele seiner inzwischen erwachsenen Kinder gehörten, die dabei halfen, die nächste Generation von kleinen Brüdern und Schwestern großzuziehen und zu unterrichten. Das Auftauchen all dieser Chemikalien, von denen mehrere giftig waren, löste eine Diskussion über deren potenzielle Gefahr für die Kinder sowie die Böden der Hacienda aus. Kopfzerbrechen bereiteten auch die Kosten. Die Wagenladung war ein Geschenk, doch nach einem Vierteljahrhundert hatte das Waisenhaus gelernt, dass ein Akt der Wohltätigkeit nicht fortlaufend weitere nach sich zog.

Es war eine kurze Diskussion. Sie mussten zu viele Mägen füllen. Sie würden sich später darüber Gedanken machen.

Auf der 40 Kilometer langen Strecke zwischen Mexiko-Stadt und dem CIMMYT führt die Straße plötzlich für kurze Zeit durch etwas Überraschendes: leeres Land. Die trostlose Salzmarsch ist alles, was noch vom Texcoco-See geblieben ist, dem größten der fünf Seen in der zentralmexikanischen Hochebene zu der Zeit, als Hernan Cortes und seine spanischen Truppen sie zum ersten Mal zu Gesicht bekamen. Die aztekische Hauptstadt, Tenochtitlan genannt, lag auf einer Insel, die durch Dammwege mit dem Festland verbunden war.

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Nach der Eroberung legten die Spanier die Seen trocken. Später füllte sich die Ebene jedoch wieder mit einer neuen Flut - von Menschen. Heute leben hier 24 Millionen Menschen in einer der ausgedehntesten Beton- und Asphaltwüsten der Welt, die Mexikos Distrito Federal, den Hauptstadtbezirk, und Teile von fünf umliegenden Bundesstaaten bedeckt. Durch das schiere Gewicht der Stadt ist deren überbeanspruchter Grundwasserleiter so weit gesunken, dass die Abwasserkanäle nicht länger abfließen können. Vor allem wenn es regnet, läuft Mexiko-Stadt Gefahr, in ihren eigenen Abfällen zu ertrinken, was den Bau des längsten Kanalisationsrohrs der Welt nötig machte: eines Rohrs mit einem Durchmesser von sieben Metern, einer Länge von 60 Kilometern und mit bis zu 150 Meter tiefen Einströmkanälen.

Wenn man das ausgetrocknete Seebett mit den grauen Dornenbü-schen und ein paar niedrige, aus Autowrackteilen geformte Hügel hinter sich gelassen hat, fährt man erneut durch städtisches Gebiet, bis die Straße zu Feldern mit Weizen und Mais führt, die rund um das landwirtschaftliche Forschungszentrum liegen. Eine Werbetafel nahe dem Eingang zeigt Norman Borlaug, der 2009 im Alter von 95 Jahren starb, in khakifarbenem Hemd und Hose inmitten von hüfthohem Zwergweizen, ein Notizbuch in der Hand. Seine zahlreichen internationalen Auszeichnungen sind oberhalb des grünweißen CIMMYT-Logos aufgelistet, einschließlich des Friedensnobelpreises von 1970. Nur fünf Jahre zuvor hatten Borlaug und sein Team ihre in Mexiko entwickelten Hybriden in Indien und Pakistan getestet. Beide Länder steuerten trotz massiver Getreideimporte aus den USA auf eine Hungersnot zu. Bis 1970 hatten sich die Ernten in beiden Ländern verdoppelt, und eine drohende Katastrophe war abgewendet worden. Die im Rahmen der Grünen Revolution entwickelten Hochertragssorten und Zuchttechniken verbreiteten sich allmählich auf der ganzen Welt. 2007 verliehen die Vereinigten Staaten Borlaug die Goldene Ehrenmedaille des Kongresses, weil er mehr Menschenleben gerettet hatte als jeder andere in der Geschichte.

Als Verdienst rechnete man ihm auch weithin an, dass er die düsteren Voraussagen des britischen Ökonomen und anglikanischen Pfarrers Thomas Robert Malthus über den Haufen geworfen hatte. Der hatte in seinem Opus magnum von 1798, Eine Abhandlung über das Bevölkerungsgesetz, behauptet, dass das Bevölkerungswachstum immer größer

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sein würde als das Nahrungsangebot. Das, so Malthus, treibe die Massen ins Elend, weil sich aufgrund ihrer wachsenden Zahl immer mehr Menschen das winzige Stück Kuchen teilen müssten, das man ihnen überlassen habe. Viele Wissenschaftler, allen voran Charles Darwin, waren direkt von Malthus' Werk beeinflusst. Die meisten Ökonomen wehrten sich jedoch gegen die Vorstellung, dass Wachstum - womit in Malthus' Zeit vor allem das Arbeitskräftewachstum gemeint war - alles andere als wunderbar sein sollte. Malthus' Behauptungen schienen so düster zu sein und dem natürlichen Impuls, der Welt mehr Leben hinzuzufügen, so stark zuwiderzulaufen, dass seine wissenschaftliche Abhandlung weltberühmt wurde. Mehr als zwei Jahrhunderte später hat dieses allseits bekannte Werk nichts von seiner beunruhigenden Eindringlichkeit verloren und der Name seines Autors Eingang in mehrere Sprachen gefunden, normalerweise als Pejorativum: malthusianisch.

1968 wurde Malthus' Unheil verkündende Warnung von Paul Ehrlich, einem Ökologen der Stanford University, in dessen Buch Die Bevölkerungsbombe wieder aufgegriffen. Zu diesem Zeitpunkt waren wir bei 3,5 Milliarden angelangt - der Hälfte von heute. Ehrlich, ein Insektenforscher, der die Populationsdynamik von Schmetterlingen untersuchte, hatte nach einer Indienreise mit seiner Frau und Mitarbeiterin Anne begonnen, über die menschliche Population zu schreiben und Vorlesungen zu halten. Das Buch von Paul und Anne Ehrlich* warnte vor weitverbreiteten Hungersnöten und Katastrophen, zu denen es binnen Kurzem kommen werde.

In eben jenem Jahr, in dem Die Bevölkerungsbombe erschien, gelang es den Menschen auch erstmals, sich so weit von der Erde zu entfernen, dass sie ein Foto von ihr machen konnten. Das vom Apollo-8-Astronauten Bill Anders aufgenommene Foto von der Erde, die am Mondhorizont aufstieg und im Vergleich zu der sie umgebenden schwarzen Leere so lebendig wirkte, verhalf einer Umweltbewegung zum Leben, die bereits seit dem 16 Jahre zuvor von Rachel Carson veröffentlichten bahnbrechenden Buch Der stumme Frühling geschwelt hatte.

* Anne Ehrlich war darin aufgrund einer Entscheidung des Verlags nicht als Koautorin genannt. Viele nachfolgende Bücher und Artikel sind unter beider Namen erschienen.

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Im Jahr darauf führten die Vereinten Nationen den Tag der Erde ein. Bereits 1970 wurde er in vielen Ländern der Welt begangen. Das Buch der beiden Ehrlichs sorgte dafür, dass die Bevölkerungsfrage neben Pestiziden und Umweltverschmutzung als wichtiger Punkt auf die Umweltagenda gesetzt wurde. In den Vereinigten Staaten wurde Paul Ehrlich zur Berühmtheit und trat mehr als 20 Mal in The Tonight Show with Johnny Carson auf. Wie Malthus' Name fand sein Buchtitel - Bevölkerungsbombe - Eingang in die Umgangssprache vieler Sprachen, obwohl sich das Hauptargument als offensichtlich falsch erwies. Zu den vorhergesagten Hungersnöten, an denen innerhalb eines Jahrzehnts Millionen von Asiaten sterben würden, kam es nicht. Die Ehrlichs hatten nicht vorhergesehen, dass Norman Borlaugs erstaunliche Grüne Revolution die Nahrungsversorgung auf der Welt stark verbessern würde.

In den folgenden Jahrzehnten wurden die Namen von Ehrlich und Borlaug regelmäßig in einem Atemzug genannt, normalerweise von Ehrlichs Kritikern. »Ehrlich war sich sicher, dass >der Kampf, die Menschheit zu ernähren, vorbei ist<. Er behauptete beharrlich, dass Indien 1980 nicht in der Lage sein würde, seine um 200 Millionen Menschen gewachsene Bevölkerung zu ernähren«, schrieb Daniel Vallero von der Duke University 2007 in einem Lehrbuch mit dem Titel Biomedical Ethics for Engineers. »Er hatte unrecht - dank solcher Biotechnologen wie Norman Borlaug.« Während der Untergangs­prophet Hungersnöte in Indien und Pakistan voraussagte, so spottete man gern, verhalf Borlaugh beiden Ländern bis Mitte der 70er-Jahre zur Autarkie hinsichtlich ihrer Weizenproduktion.

Die Schlussfolgerung schien auf der Hand zu liegen: Indem Borlaug das Überleben von weiteren Millionen von Menschen ermöglichte, hatte er Ehrlichs und Malthus' Panikmache in Bezug auf eine Überbevölkerung widerlegt. Borlaug selbst teilte diese Schlussfolgerung jedoch nicht. Seine Dankesrede für den Friedensnobelpreis endete mit einer Warnung:

»Wir haben es mit zwei gegensätzlichen Kräften zu tun: der wissenschaftlichen Macht der Nahrungsproduktion und der biologischen Macht der menschlichen Fortpflanzung. Der Mensch hat in letzter Zeit in Bezug auf die potenzielle Beherrschung dieser beiden gegen-

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sätzlichen Kräfte erstaunliche Fortschritte gemacht. Wissenschaft, Erfindungen und Technologie haben ihm Materialien und Methoden an die Hand gegeben, sein Nahrungsangebot erheblich, ja zuweilen sogar spektakulär zu steigern ... Dem Menschen stehen inzwischen auch Mittel zur Verfügung, die Fortpflanzungsrate effektiv und auf menschenwürdige Weise zu verringern. Er nutzt seine Fähigkeit, in kürzerer Zeit mehr Nahrungsmittel zu produzieren. Aber sein Potenzial, die eigene Fortpflanzungsrate zu reduzieren, nutzt er noch nicht angemessen ... Einen dauerhaften Fortschritt im Kampf gegen den Hunger kann es erst geben, wenn die Organisationen, die für eine vermehrte Nahrungsproduktion kämpfen, und diejenigen, die für eine Bevölkerungskontrolle kämpfen, zusammenarbeiten.«

Die Grüne Revolution, sagte Borlaug oft, gab der Welt im Grunde genommen nur eine weitere Generation lang Zeit, das Bevölkerungsproblem zu lösen. Den Rest seines Lebens war er im Vorstand von Bevölkerungs­organisationen tätig, setzte aber gleichzeitig seine Getreideforschung fort, um all die Millionen zu ernähren, um die die Weltbevölkerung dank seiner Arbeit angewachsen war.

  Zwei Generationen später 

In Norman Borlaugs geräumigem ehemaligem Büro im zweistöckigen Gebäude der CIMMYT-Zentrale hockt Hans-Joachim Braun auf dem Rand eines hölzernen Konferenztisches und sucht auf einem Dell-Laptop nach einer PowerPoint-Folie. Er stellt den Laptop vor Matthew Reynolds hin. »In den nächsten 50 Jahren«, ist auf dem Bildschirm zu lesen, »werden wir so viele Nahrungsmittel produzieren müssen, wie im Verlauf unserer gesamten Menschheitsgeschichte konsumiert wurden.«

Reynolds nickt. Keine Diskussion.

Zusammen mit diesem Büro hat Braun von Borlaug den Titel geerbt und ist jetzt der Direktor von CIMMYT. Sein Kollege Reynolds steht an der Spitze eines internationalen Konsortiums von Genetikern, Biochemikern, Getreidezüchtern und Pflanzenphysiologen (wie er selbst einer ist), das fieberhaft daran arbeitet, die Weizenerträge schneller zu verbessern, als eine wachsende Bevölkerung sie verzehren kann.

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Borlaugs Zwergweizen war ein Quantensprung, der mancherorts zu einer Steigerung der Ernteerträge bis um das Sechsfache führte. Seither haben sich die Ertragszuwächse jedoch dramatisch verlangsamt und liegen jährlich unter einem Prozent. Währenddessen wächst die Weltbevölkerung noch immer schneller als um ein Prozent und wird den Höchststand so bald nicht erreicht haben: In sieben der ersten zehn Jahre des neuen Jahrhunderts wurde mehr Weizen konsumiert als produziert. Um da mitzuhalten, so Reynolds, müssen sie es irgendwie schaffen, die Erträge bis 2020 jährlich um 1,6 Prozent zu steigern.

Wie könnte ihnen das gelingen? Weitere Wälder zu roden ist keine Option, schon weil mit den Bäumen auch das Wasser verschwindet. Braun ärgert sich noch immer über ein Meeting bei den Vereinten Nationen, das vor Kurzem stattgefunden hat. »Wir reden über die globale Erwärmung, wir reden über all die anderen Probleme, aber das allem zugrunde liegende Problem - das Bevölkerungs­wachstum - wurde mit keinem Wort erwähnt.« Mit seinem graubärtigen Kinn deutet er auf den Laptop.

Nicht dass die Probleme in keinem Zusammenhang stünden. Wie die meisten Getreidesorten ist Weizen temperaturempfindlich. Für jeden Temperaturanstieg um ein Grad Celsius sinken die Weizenerträge laut Berechnungen der Agrarwissenschaftler in heißeren äquatorialen Gebieten der Erde um zehn Prozent. Viele Agronomen (und Ökonomen) hatten hoffnungsvoll spekuliert, dass die globale Erwärmung die Ernteerträge in den kühleren Regionen steigern würde, doch während der jüngsten europäischen und russischen Hitzewellen betrugen die Verluste mehr als 30 Prozent. Das Einzige, was durch die größere Wärme unbestreitbar zunahm, war der Bestand der getreideverschlingenden Insekten.

Die Temperatur steigt, da sind Braun und Reynolds sich einig, weil immer mehr Menschen Brennstoff verbrauchen und Nahrungsmittel konsumieren, für deren Herstellung Öl benötigt wird. Die Zahl der Menschen steigt, weil es mehr Nahrung gibt. Die beiden größten Erfolgsgeschichten der Grünen Revolution laufen Gefahr, nach hinten loszugehen: Indien wird China noch vor 2025 den Rang der bevölkerungsreichsten Nation ablaufen. Pakistan gehört derzeit zu den am schnells-

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ten wachsenden Ländern der Erde. Dort hat sich die Bevölkerungszahl seit 1970 auf 187 Millionen verdreifacht. Da Pakistan nicht in der Lage ist, im gleichen Maße Arbeitsplätze zu schaffen, vor allem für Millionen frustrierter junger Männer, gehört es auch zu den instabilsten Ländern der Welt - und ist zudem noch eine Atommacht.

Aber nicht nur die Zahl der Menschen steigt. Paradoxerweise hat die Steigerung der Nahrungsproduktion dazu geführt, dass es auf unserem Planeten mehr hungrige Menschen gibt als je zuvor - rund eine Milliarde. Dank der Agrartechnik ist der Prozentsatz mangelernährter Menschen gesunken, doch die Zahl derer, die überleben, um sich fortzupflanzen, nimmt in einem schnelleren Tempo zu als die Nahrungsproduktion, was auf beklemmende Weise an Malthus' Warnung erinnert.

»Ich habe zwar keinerlei Zweifel daran, dass die Erträge weiter steigen werden, doch ob sie genügend steigen, um das Bevölkerungsmonster zu ernähren, ist eine andere Sache«, sagte Norman Borlaug 1997. »Wenn in Bezug auf landwirtschaftliche Erträge nicht weiterhin immense Fortschritte erzielt werden, wird es im nächsten Jahrhundert mehr menschliches Elend geben als je zuvor.«

Wenn seine Nachfolger dem nicht schnell entgegenwirken können, wird sowohl die Zahl als auch der Prozentsatz Hunger leidender Menschen steigen - und damit auch ihr Zorn. Es gibt allerdings nicht mehr viele Möglichkeiten, etwas dagegen zu tun. »Zum Mond zu gelangen war ein ingenieurwissenschaftliches Problem«, sagt Braun. »Die Nahrung zu produzieren, die wir in den nächsten 40 Jahren brauchen, ist viel komplizierter. Die Lösung dieses Problems erfordert viel größere Investitionen als das Apollo-Programm. Und es wird einfach nicht genügend investiert.«

Besonders beunruhigend ist, dass es nicht genügend Forschungsmittel für Weizen gibt, der mehr Protein enthält als Reis oder Mais und damit die wichtigste Nutzpflanze ist. Der Grund liegt darin, dass Weizen selbstbefruchtend ist, sodass die Bauern ihren eigenen Weizen wieder neu anpflanzen können. »In Mais wird fünfmal so viel investiert«, sagt Reynolds, »weil die Bauern Jahr für Jahr Maissamen kaufen müssen. Beim Weizen wird der eigene Samen wieder benutzt. Das hat also nichts mit der Ernährungssicherung zu tun; vielmehr geht es darum, Profit zu machen.«

Er schlägt mit der Faust auf den Tisch. »Wenn wir

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die Ernährungssicherung ernst nehmen würden, sähe die Sache anders aus, oder nicht?«

Der Gedanke, dass die treibende Kraft der Landwirtschaft nicht die Ernährungssicherung, sondern der Profit ist, bringt ihn auf die Palme. Reynolds erhebt sich und stolziert zum Fenster hinüber. Er und Braun haben hier Karriere gemacht, haben an der Seite von Borlaug gearbeitet und zusammen mit ihm wissenschaftliche Veröffentlichungen verfasst. Ein Nobelpreisträger - und doch ist das Geld, um seine Arbeit an dem Nahrungsmittel fortzusetzen, von dem die menschliche Zivilisation noch immer abhängt, so verdammt knapp. Reynolds heftet den Blick auf die braunen Dezemberfelder und zieht die Fleeceweste enger um seinen Körper. Hinter den Testreihen mit Hybridmais, jede versehen mit einem Schild, das die komplexen Kreuzungen erklärt, bewerten ein Dutzend mexikanische Hochschulabsolventen in blauen CIMMYT-Kappen ein Conservation-Agriculture-Experiment, mit dessen Hilfe der Anbau von Nahrung mit geringstmöglichem Schaden erreicht werden soll.

Was erhalten werden soll, ist die Fruchtbarkeit des Bodens und möglichst auch die Atmosphäre: Dies ist CIMMYTs Version des jüngsten Trends zur Direktsaat. Normalerweise verbrennen die Bauern nach der Ernte organischen Abfall oder verfüttern ihn an ihre Tiere, pflügen und eggen dann, um Unkraut zu beseitigen, mischen Kunstdünger unter und lockern den Boden für die Aussaat. Egal ob dies mit einer Hacke, einem Zugtier oder einem Traktor erfolgt, es erfordert Zeit - oft eine Woche oder mehr - und Energie. Es zerstört auch die von Würmern, Insekten und Bakterien geschaffene Bodenstruktur.

Verzichtet man hingegen auf das Pflügen, werden der Boden und seine biologische Aktivität intakt gehalten. Wenn man Getreidereste stehen lässt, werden sie zu einem Nährstoffschwamm, der Wasser speichert. Theoretisch bleibt bei der Direktsaat auch das Kohlendioxid in der Erde gebunden.

In 32 CIMMYT-Direktsaat-Testbeeten überwachen die Studenten die Feuchtigkeit, das Getreidewachstum, Unkraut, Würmer, zusätzliche Vorteile des Wechsels mit Hülsenfrüchten und Treibhausgasemissionen. Enttäusch­ender­weise ist die Kohlenstoffbindung nicht signifikant, obwohl eindeutig Traktortreibstoff eingespart wird. Das Unkrautwachstum ist ein weiteres Problem: Wenn nicht gepflügt wird, braucht man mehr Unkrautvernichtungsmittel.

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Doch wie in der Natur ist das System extrem produktiv: Die Weizenreihen, die man mithilfe von Geräten gesät hat, mit denen sich die Saat durch die Reste der vorherigen Ernte hindurch in den Boden einarbeiten lässt, sind doppelt so üppig wie die gesäuberten, konventionell gepflügten Kontrollreihen. Dies ist jedoch kein organischer Ackerbau; die Geräte - einige handbetrieben, andere mechanisiert - bringen auch Stickstoffdünger in den Boden. Die Direktsaat hilft, doch offensichtlich nicht in ausreichendem Maß: Da es so viele Menschen zu ernähren gilt und da die Hälfte der Kalorien weltweit aus Getreide bezogen wird, sieht CIMMYT keine Möglichkeit, ein globales Chaos zu vermeiden, ohne Feldfrüchte mit Chemikalien zu behandeln.

Vielleicht würde es helfen, etwas zu entwickeln, was die Photosynthese enorm beschleunigen würde, also die Umwandlung von Luft und Sonnenlicht in Biomasse mithilfe der Pflanzen. Doch dazu benötigt Matthew Reynolds' weltweites Konsortium finanzielle Mittel. Möglicherweise lässt sich ein gewisser Anstieg einfach durch phantasievolle Physik erzielen. So untersucht im Auftrag von Reynolds ein chinesischer Mathematiker, wie Licht auf ein Weizenfeld einfällt. »Die Lichtmenge, die auf Blätter trifft, die in einem Wald unter einem Blätterdach am Boden liegen, ist eine ganz andere als die, die ein Blatt in vollem Sonnenlicht abbekommt. Die Blätter nehmen auch unterschiedliche Mengen an Stickstoff auf. Ein Feld ist ein Mikrokosmos dieses Blätterdachs - wenn wir ihn besser verstehen, können wir die Wirksamkeit der Photosynthese einfach durch eine bessere Licht- und Stickstoffverteilung steigern.«

Aber auch dem sind Grenzen gesetzt. Borlaugs verbesserter Weizen wandelt bereits 90 Prozent der Sonnenenergie um, die er erhält. Die einzige Möglichkeit, die noch bleibt, ist die, mit RuBisCO* zu experimentieren, dem Enzym, das atmosphärisches Kohlendioxid in Zellulose, Lignin und Zucker umwandelt. RuBisCO ist im Grunde genommen die Basis für das Pflanzen- und Tierleben. Um seine Fähigkeit zur Kohlenstoffbindung zu steigern, wäre eine genetische Modifikation erforderlich.

* Eine Abkürzung für Ribulose-i,5-bisphosphat-carboxylase/-oxygenase.

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Im Zusammenhang mit der Photosynthese sind Weizen und Reis als C3-Pflanzen bekannt - was bedeutet, dass die Kohlenwasserstoffmoleküle, die sie aus dem eingeatmeten CO2 gewinnen, drei Kohlenstoffatome haben. Mais und Sorghumhirse, die sich später entwickelten, sind C4-Pflanzen. An einer Schwesterinstitution des CIMMYT, dem International Rice Research Institute (IRRI) auf den Philippinen, versuchen Pflanzengenetiker, die Zellstruktur in den Reisblätter so zu verändern, dass aus der C3-Pflanze eine C4-Pflanze wird, was deren photosynthetische Effizienz um 50 Prozent erhöhen könnte. Gelinge dies, dann könne der Trick vielleicht auch beim Weizen funktionieren, hofft CIMMYT. IRRI-Experten schätzen jedoch, dass es mindestens 20 Jahre dauern wird, um marktgerechten C4-Reis zu produzieren. Sie verfolgen auch noch ein anderes Ziel: Sie wollen nicht nur die Erträge steigern, sondern Reis auch so viel Energie zuführen, dass er seinen eigenen Stickstoff aus der Luft binden kann, um ihn von den synthetischen Düngemitteln, zu deren Herstellung teure fossile Brennstoffe nötig sind, unabhängiger oder sogar ganz unabhängig zu machen. Es könnte sogar noch länger dauern, die von IRRI entwickelten Technologien bei Weizen einzusetzen, wodurch das unmittelbare Problem, mehr Pakistaner zu ernähren, bevor es zu Nahrungskriegen kommt, nicht gelöst wird.

Ein britischer Forscherkollege von Reynolds hat vor Kurzem das Biomassenwachstum einer Tabakpflanze durch die Manipulation eines einzigen bakteriellen Enzyms um 40 Prozent erhöht. Herauszufinden, ob dies auch bei Weizen möglich ist, wird kostbare Zeit und finanzielle Mittel erfordern. Zu allem braucht man Zeit und Geld: Selbst wenn man eine neue Sorte einführt, indem man einfach nur Pflanzen kreuzt, braucht man zehn bis zwölf Jahre. Die erfolgreiche Entwicklung von genmanipuliertem Weizen würde doppelt so lange dauern und zwischen 20 und 75 Millionen Euro kosten. Und schließlich sollte man die internationalen Vorschriften und die Angst der Verbraucher vor genetisch veränderten Pflanzen nicht vergessen!

Die weißen, vom Fußboden bis zur Decke reichenden Metallregale im Wellhausen-Anderson Genetic Resources Center, CIMMYTs Genbank für Weizen- und Mais-Keimplasma, enthalten die weltweit größte Sammlung an lokalen Maissorten: rund 28.000, vor allem aus Lateinamerika, woher der Mais kommt.

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All diese Sorten wurden von den Bauern aus den unterschiedlichsten Regionen im Verlauf Tausender von Jahren selbst gezüchtet. Und alle gehen zurück auf ein Wildgras namens Teosinte, den wilden mexikanischen Vorfahr des Mais, der ebenfalls hier lagert. Die gelben, weißen, blauen und roten Maissorten werden in Plastikkrügen aufbewahrt - die Weizensammlung, die aus rund 140 000 modernen Kultursorten und alten Sorten aus aller Welt besteht, in luft-abgeschlossenen Aluminiumbehältern, die ihrerseits in langen Pappschachteln stecken. Alles ist mit einem Barcode versehen und wird bei einer Temperatur von o °C aufbewahrt, ein zweiter Satz ein Stockwerk tiefer langfristig bei -18 °C eingelagert.

Ein dritter identischer Satz ist im National Center for Genetic Resources Preservation in Fort Collins, Colorado, untergebracht, ein vierter im Svalbard Global Seed Vault (weltweiter Saatgut-Tresor) in einer Höhle tief im norwegischen Permafrost auf Spitzbergen: der sogenannten Weltuntergangs-Aufbewahrungsstätte für die botanische Vielfalt der Erde, sollten die Samenbanken andernorts aufgrund einer Katastrophe oder eines Kriegs verloren gehen oder ihre Ursprungssorten dem Klimawandel nicht standhalten. Der Zweck dieser Genbank ist der, an Züchter, die neue Sorten entwickeln, genetisches Material auszuteilen, und zwar jeweils fünf Gramm. Doch sie ist auch eine Absicherung gegen Notfälle wie den von 1999, als in Uganda Schwarzrost, ein gefürch-teter Weizenpilz, ausbrach und CIMMYT auf dem Luftweg Hunderte Kilo resistenter Samen nach Ostafrika verfrachtete.

CIMMYT will in den kommenden Jahren seine gesamte Keimplasmasammlung genetisch klassifizieren. Neben historischen Sorten wird in diesem Zentrum Saatgut aufbewahrt, das Norman Borlaug während jedem seiner einzelnen Schritte hin zur Entwicklung jener Sorten archivierte, mit denen er die Grüne Revolution begründete, weil er glaubte, dass die Biotechnologie es ihm und seinen Kollegen eines Tages ermöglichen würde, genau zu erkennen, was sie im Lauf der letzten Jahrzehnte zur Verbesserung des Weizens getan hatten. Die Forscher bei CIMMYT werden mit mehreren Tausend Sorten beginnen, deren Nützlichkeitsmerkmale - hoher Ertrag, Resistenz gegen Krankheiten oder Dürre - bereits identifiziert worden sind. Von jeder dieser Sorten werden sie Samen nehmen und mindestens eine Pflanze in einem Gewächshaus züchten und dann frische Blätter an einen Genotypisierungsdienst ' schicken, um die DNS zu gewinnen und genetische Sequenzen für jede Sorte zu produzieren.

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All dies geschieht in der Hoffnung, dass die Entschlüsselung dieses gewaltigen genetischen Erbes aufzeigen wird, wie sich die Erträge - ob durch transgene Pflanzen oder noch einfallsreichere Hybriden - weltweit erhöhen lassen, ohne mehr Anbaufläche zu benötigen. Das ist ein von vielen als dringlich angesehenes ökologisches Erfordernis, doch für CIMMYT ist es auch eine Frage des Stolzes. Auf die Empörung über den maßlosen Verbrauch fossiler Brennstoffe während der Grünen Revolution, ihre die Flüsse verunreinigenden Düngemittel, ihre Abhängigkeit von giftigen Chemikalien und ihre monokulturelle Bedrohung der Artenvielfalt erwidern sie immer und immer wieder, dass ohne verbesserte Getreidesorten weitere Milliarden Morgen Wald und Grasland hätten weichen müssen, um die Weltbevölkerung ernähren zu können.

Diese Erwiderung zeugt von der Einsicht, dass eine Welt, die ihre Bäume und andere einheimische Flora verliert, eine Welt am Abgrund ist, doch sie vernachlässigt auch CIMMYTs eigene Verantwortung für das Übermaß an hungrigen Menschen, deren Existenz Flora und Fauna bedroht. Mehr Menschenleben zu retten als jeder andere in der Geschichte, heißt auch, dass es mehr Menschen gibt. Punkt. Mehr Menschen, die dann sogar noch mehr Menschen zeugen. CIMMYTs Dilemma ist ein Mikrokosmos des Dilemmas, in dem die ganze Welt steckt: Wie soll ein unbegrenztes Wachstum bei begrenztem Raum möglich sein?

Jeder neue Erfolg verschärft die Situation noch und stärkt das Verlangen nach weiteren Erfolgen. Selbst die elegante Mathematik der genetischen Sequenzierung kann den Teufelskreis nicht durchbrechen.

Mehr als 30 Jahre sind vergangen, seit Nuestros Pequenos Hermanos ihre Hacienda im mexikanischen Staat Morelos in ihr Zuhause und in eine Farm der Grünen Revolution verwandelt haben, um Waisenkinder zu ernähren. Pfarrer William Wasson starb 2006 im Alter von 82 Jahren. Vorher hatte er jedoch weitere Waisenhäuser auf Honduras, Haiti, in der

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Dominikanischen Republik, in Guatemala, El Salvador, Nicaragua, Bolivien und Peru gegründet. Viele der 15 000 Kinder, die er großzog, helfen nun, die neuen Heime zu leiten.

Das ursprüngliche Heim in Mexiko ist noch immer das größte, doch die Zahl seiner Bewohner ist von 1200, dem Höchststand, auf rund 800 gesunken. Dies spiegelt Mexikos eigenen demografischen Wandel wider - den Wandel eines Landes, dessen Bevölkerung sich alle 20 Jahre verdoppelte, als Wasson 1954 seinen ersten obdachlosen Jungen aufnahm, das nun aber ein jährliches Wachstum von weniger als einem Prozent verzeichnet. Wird dieses Tempo beibehalten, verdoppelt sich Mexikos Bevölkerung erst in 71 Jahren wieder, doch die Wachstumsrate, die jetzt knapp über der Ersatzrate liegt, sinkt weiter. Mexikos planifi-caciön familiär führte dazu, dass die Frauen weniger Kinder bekamen -und ihre Töchter noch weniger. Die meisten Mexikaner leben jetzt in Städten, wo sie keine zusätzlichen Arbeitskräfte benötigen, die ihre Herden hüten oder Brennholz sammeln. Die meisten mexikanischen Frauen möchten oder müssen arbeiten und lassen sich nicht mit acht Kindern ans Haus fesseln.

Heute bekommen die meisten Frauen nur noch zwei Kinder, doch ihre Großmütter bekamen mehr, sodass aus den ländlichen Dörfern im Umkreis des Waisenhauses Städte geworden sind. Die ehemaligen Zuckerrohrspeicher der Hacienda sind zu Schlafsälen umfunktioniert worden, und es gibt dort eine Grund- und eine weiterführende Schule. Jenseits des Rasens, auf dem die Kinder Volleyball spielen, steht eine lebensgroße Bronzeskulptur des Bildhauers Carlos Ayala, der hier aufwuchs: ein sitzender Pfarrer Bill, der mit einem Jungen und einem Mädchen spricht.

Hinter den Schlafsälen befinden sich die Felder. Neben einem Silo aus verzinktem Stahl entfernen fünf Mädchen die Blätter von Maiskolben. Im Silo gibt es ein paar Säcke mit Stickstoffdünger, eine Spende eines deutschen Gönners. Schafe grasen in der Nähe von Fischteichen und einem Laichplatz für Buntbarsche. Es gibt Schweinepferche und Hühnerhäuser. In einem vor Kurzem gespendeten Gewächshaus sät ein Dutzend Kinder zwei Sorten Wintertomaten aus. Rote Bete, Wassermelonen, Kohl, Salat, Chilischoten, Blumenkohl und Karotten wachsen in einem Gemüsebeet, in dem die Tröpfchenbewässerung zum Einsatz kommt. Für das Bepflanzen der einzelnen Furchen wie auch das Unkrautjäten ist jeweils ein anderes Kind verantwortlich.

Luis Moreno, der Tierarzt, der für die Farm verantwortlich ist, inspiziert einen Maiskolben. Er ist dankbar, dass der Ertrag der acht Hektar, die sie noch bepflanzen, in diesem Jahr ganz ordentlich war. Doch die zwölf Tonnen werden nicht länger als 100 Tage reichen, um die Kinder mit Tortillas zu versorgen. Es ist gut, dass die Zahl der Bewohner abnimmt. Als er vor drei Jahren hier eintraf, war er über den Zustand des Bodens schockiert. Eine jahrzehntelange intensive Behandlung mit Chemikalien hatte die Felder aussehen lassen, »als seien sie von einer Napalmbombe getroffen worden«. An manchen Stellen wuchs nicht einmal mehr Unkraut. Es erinnerte ihn an die Staubstürme in Oklahoma in den 30er-Jahren, von denen er gelesen hatte. Er konnte den Nachbarn und den älteren Kindern, die ihm erzählten, wie viel Mais hier gewachsen war, kaum glauben.

Moreno hat auf Direktsaat und kleinere Beete umgestellt. Der Besitzer einer nahe gelegenen Düngemittelfabrik, der eine Art agro-religiöse Bekehrung erfahren hat, verkauft ihnen nun organische Nährstoffe, angereichert mit wertvollen Bakterien und Pilzen, die Moreno jetzt in einer 50:50-Mischung mit synthetischem Stickstoff einsetzt. Im Gewächshaus und in der Gärtnerei versucht man zudem, ganz auf organischen Anbau umzustellen.

»Ich hoffe, dass wir eines Tages völlig ohne künstliche Düngemittel auskommen. Naturdünger wirkt nicht sofort, aber langfristig. Der chemische Dünger ist nach 20 Tagen aufgebraucht und der Boden salzig.« Sie verstreuen Abfallprodukte von Tieren und vom Getreide und geben dem Rest des Landes Zeit, sich zu erholen. Vögel und Erdwürmer kehren zurück. Moreno schaut zu den Mädchen hinüber, die Plastikeimer mit weißen Maiskörnern füllen. »Wir wollen nicht, dass noch mehr Kinder aus Dürregebieten hierherkommen.«

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