4 Jüngste Einsichten in das Wesen des Lebens
Wells-1945
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Eine Kette von Ereignissen hat dem intelligenten Beobachter die Erkenntnis aufgedrängt, daß die Menschengeschichte bereits ein Ende gefunden hat, und daß es mit dem Homo sapiens — wie es ihm beliebt hat, sich zu nennen — in seiner jetzigen Gestalt aus und vorbei ist.
Die Sterne in ihrer Bahn haben sich gegen ihn gewandt, und er hat irgend einem anderen Lebewesen Platz zu machen, das besser ausgerüstet ist, dem Verhängnis entgegenzutreten, das mit wachsender Schnelligkeit über die Menschheit hereinbricht. Dieses neue Lebewesen mag einer völlig fremden Rasse angehören, oder es mag als eine neue Modifikation der hominidae zustande kommen, ja sogar als direkte Fortsetzung des menschlichen Stammes, aber ganz entschieden wird es nicht menschlich sein.
Es gibt keinen Ausweg für den Menschen, er kann nur steil hinauf oder steil hinab. Sich anpassen oder zu Grunde gehen ist — heute wie immer — der unerbittliche Imperativ der Natur.
Für viele von uns ist diese krasse Alternative des Hinauf oder Hinab außerordentlich unverdaulich. Die Kräfte, die uns in der langen Aufeinanderfolge von Lebewesen entwickelten, haben uns mit einer Hartnäckigkeit der Selbsterhaltung begabt, welche gegen die bloße Vorstellung aufbegehrt, Ratten oder unsauberen, herandrängenden Ungeheuern, die mit Streptokokken zu unserer Vernichtung ausgerüstet sind, Platz zu machen.
Wir wünschen, geladen zu sein zum Tode des Menschen und ein Mitspracherecht zu haben bei seiner Ersetzung durch den nächsten Herrn der Schöpfung, selbst wenn die erste Handlung dieses Nachfolgers, oedipushaft, ein Vatermord ist.
Über unseren ganzen Planeten sind die Spuren und die Leistungen des Menschen verstreut, und für die meisten von uns gehört eine gewaltige geistige Anstrengung dazu, sich klarzumachen, daß diese Verteilung menschlicher Erzeugnisse auf weite Gebiete eine Angelegenheit der letzten hunderttausend Jahre ist.
Die radioaktiven Substanzen und der Prozeß des Radiumzerfalls müssen im Sonnensystem vor etwa dreitausend Millionen Jahren begonnen haben und hatten bereits aufgehört, längst ehe das Leben auf der Erde möglich geworden war.
Dr. N. Feather vom Cavendish-Laboratorium in Cambridge schreibt in <Chemical Products>, Band 7, No. 11-12, Sept.-Okt. 1944:
"Alle radioaktiven Stoffe sind <natürlich> in dem Sinne, daß in irgend einem Stadium der kosmischen Evolution im Innern der heißeren Sterne Bedingungen geherrscht haben und wahrscheinlich noch herrschen, unter welchen ihre Entwicklung vor sich ging - und noch immer möglich ist, aber auf der Erde haben diese Bedingungen seit ihrer Abtrennung von der Sonne nicht geherrscht, und als Bewohner der Erde betrachten wir gewohn-heitsgemäß als <natürlich> nur diejenigen Radiumelemente, von denen festzustellen ist, daß sie nach etwa dreitausend Millionen Jahren (3x109 Jahren) auf unserem Planeten noch vorhanden sind."
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Nachher wurde der Planet schrittweise eine mögliche Wohnstätte für diesen seltsamen Eindringling, das Leben. Er wirbelte in einem Tempo, von dem wir nichts wissen, und in einer Entfernung, die wir nicht kennen, um die Sonne, er bekam einen Mond zum Satelliten, dessen Rotation durch eine Flutwelle verlangsamt wurde, bis er auf immer der Mutter Erde sein Antlitz zuwandte. Ein Mond-Monat ist also ein Mond-Tag.
Unser eigener Planet muß der Sonne gegenüber eine ähnliche Verlangsamung erfahren, so daß in der Frühzeit Jahre und Lebensperioden auf der Erde mit einer Geschwindigkeit vorbeisausten, die in gar keinem Verhältnis zu diesen letzten, bedachtsamen Zeiten steht. Die Maschine lief mit schwächeren Bremsen. Irgendwann einmal im Verlauf dieser Phase des Ungestüms begann unter einem schirmenden, dichten, von Dampf gebildeten Wolkendach die Reihe der Abläufe, die wir Leben nennen.
Im unwandelbaren Dunkel der Tiefsee, in der unbarmherzigen Trockenheit des trockenen Landes gab es keine Möglichkeiten dieser Abläufe. Sie waren, wie Prof. J. Haldane in einem seiner bewundernswerten populären Artikel aufgezeigt hat, nur in dem Streifen zwischen Ebbe und Flut zu finden. Licht folgte auf Dunkel, und Dunkel auf Licht, und das Leben, dieses eigenartige Pulsieren in der Materie, kam dann zustande.
Der Paläontologe findet in den Zeugnissen des Gesteins Hinweise auf eine sich über eine unbekannte Zeitspanne erstreckende Phase ohne Leben, ehe das Sonnenlicht in der Tat die Dampfhülle durchstieß und den Leben genannten Prozeß einleitete.
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Die Aufeinanderfolgen dieser Anfangsabläufe sind noch unbestimmt. Sie waren rudimentär, so daß die nächsten Analogien zu ihnen in den mikroskopischen Gewebeelementen des heutigen Lebens oder im Oberflächenwasser des Meers zu finden sind. Es kam zur Erzeugung einer gewaltigen Fülle von Spaltalgen und dergleichen, und sehr früh in der Geschichte führte irgend eine günstige Mutation zur Entstehung einer grünen Substanz, des Chlorophylls, welches unter der Auswirkung des Sonnenlichts ein quasi-permanentes, sich ausbreitendes Kompositum produzierte, solange das Licht anhielt. Die Folge ist, daß die Zeugnisse des Gesteins unvermittelt von Leblosigkeit zu einer Vielfalt zwischen Ebbe und Flut lebender Formen überspringen.
Diese Formen legen in all ihrer Mannigfaltigkeit eine gemeinsame Disposition an den Tag, einen elan vital, einen Trieb, ihr Sein zu erhalten. Sie zeigen bereits die primitiven Ansätze zu jenem "Kampf ums Dasein", der zum Grundthema der Geschichte des Lebens geworden ist. Sehr früh schon zerfällt diese lebende Materie in individuelle Bruchstücke, welche variierenden Umweltsbedingungen standhalten und da und dort weiterexistieren können, selbst wenn die übrigen an anderen Stellen vertrocknen oder sonstwie zu Grunde gehen. Diese primitiven Individuen scheinen frei von jedem Kampfimpuls zu sein, sowohl gegen die Nahrung, die sie aufnehmen, als auch gegen einander. Wenn sie zusammenkommen, fließen sie ineinander über und lösen sich wieder von einander, anscheinend neu belebt von der Begegnung. Diese Verjüngung geht ohne sexuelle Differenzierung vor sich. Sie ist ein Vorgang zwischen Gleichen.
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Aber das Zustandekommen eines Unterschiedes zwischen Individuen, so daß eine Gruppe sich auf Abenteuer, Experiment und schließlichen Tod spezialisiert, während eine andere die Species ohne Ende fortsetzt, begann sehr früh in der Geschichte des Lebens. Die vielzelligen Wesen auf diesem Planeten beginnen und enden in ihrer überwiegenden Mehrheit als befruchtete Eier. Manche sprossen und teilen sich; manche vermehren sich durch Abschnürungen, durch Parthenogenese (wie die Blattlaus) oder dergleichen, doch derartige Methoden der Fortpflanzung führen dazu, daß die Art fixiert, anpassungsunfähig und verwundbar bleibt, und früher oder später muß, wenn ihre Erhaltung zustande kommen soll, zur Stärkung und Veränderung eine Rückkehr zu den Rollen des Männlichen und des Weiblichen erfolgen, welche bereits in den frühesten Kapiteln der paläontologischen Vergangenheit in ihrer jetzigen Form eingeführt wurden.
Es gibt, je nach den wechselnden Lebens-Imperativen, weit auseinandergehende Schwankungen in der Differenzierung der Geschlechter. Wenige von uns bleiben stehen, um über das Geschlecht eines Tigers oder einer Tigerin nachzudenken, wenn uns ein solches Tier in der Freiheit begegnet, aber das Geschlecht einer vorübergehenden Katze, eines Kaninchens oder eines Stachelschweins, eines Wolfs in einem jagenden Rudel, einer Fliege oder einer Eidechse ist keineswegs ohne weiteres erkennbar.
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Selbst am Homo sapiens sind die Geschlechtsmerkmale heute viel weniger ausgeprägt, als sie es noch vor hundert Jahren waren. Die Übertreibung der Taille durch Schnüren ist verschwunden. Ebenso hat das geheimnistuerische Verhätscheln von Mädchen zum größten Teil aufgehört. Bei dieser Befreiung spielte das Fahrrad eine Rolle. Das heranwachsende Mädchen nahm sich zusammen und begab sich auf eine harmlose Ausfahrt mit dem neuen Spielzeug, wenn ihre Großmutter im Bett geruht hätte, und fühlte sich dabei umso wohler. Unsere Urgroßmütter pflegten bei jeder Krise "in Ohnmacht zu fallen", aber wer hört heute je davon, daß Frauen ohnmächtig werden? Heute fallen Männer öfter in Ohnmacht als Frauen.
In einem kurzen Zeitabschnitt, innerhalb der Lebensdauer eines älteren Mannes, haben die Beziehungen der Geschlechter in der britischen Gemeinschaft, die Altersverhältnisse bei der Eheschließung und die sich aus diesen Änderungen ergebenden sozialen Neuanpassungen eine große Wandlung durchgemacht. Früher pflegten ältere Männer junge Frauen zu heiraten und für sich zu monopolisieren; heute ist die Welt voll junger Paare, und es ist eine Ausnahme, wenn man den winterlichen Januar mit dem blühenden Mai verheiratet sieht.
Das Pendel mag zurückschwingen. Oder vielleicht ist es keine Pendelschwingung, was wir vor uns sehen.
Sorgfältig geplante Gesetzgebung, Nahrungsmittelknappheit und derartige ökonomische Prozesse, Wellen von Gefühlsregungen für oder gegen die Mutterschaft, patriotisches Empfinden oder sein Fehlen, die natürliche Neigung sich zu verheben im Verein mit einem Verlangen danach, durch irgend ein dauerndes gemeinschaftliches Interesse einer Beziehung Bestand zu verleihen, und Stolz auf körperlich und geistig wohlgeratene Kinder, all das mag von unberechenbarer Bedeutung für das Zustandekommen einer neuen Menschheit sein, die einer Anpassung an die wirbelnden Imperative rings um uns fähig ist — einer Anpassung, welche es ihnen vielleicht ermöglichen kann, die Geschichte des Lebens auf der Erde bis zu ihrem Ende mit anzusehen.
Verschiedene religiöse Körperschaften behaupten, "die Institution der Familie" zu schützen. Sie tun nichts dergleichen.
Die Familie existiert, seitdem Tiere zeugen, sich paaren und auseinandergehen, um ihre Jungen zu schützen und aufzuziehen. Doch priesterliche Einmengung hat diese saubere, einfache Beziehung degradiert, indem sie noch ungeborene Kinder mit der Vorstellung, sie seien "in Sünden empfangen", verdammt, die Illegitimität zu etwas rätselhaft Schimpflichem macht und alle Grundtatsachen und Möglichkeiten des Familienlebens vor jungen Menschen so lange verborgen hält, bis es für diese zu spät ist, aus ihren Kenntnissen Vorteil zu ziehen.
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