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14.  Fahrplan in den Untergang - Kein Platz für Menschen

Von Donald Widener 1970

 

209-216

Während diese Kapitel geschrieben wurden, begann eine der größten – und vielleicht wichtigsten – Schlachten in unserer Geschichte. Noch nicht organisiert, stark, aber ohne festes Ziel, gleicht die Bewegung einem riesigen Auflauf von Menschen, die wie Tiere Gefahr zu wittern beginnen. Die Gefahr, daß ihre Art ausgelöscht wird. Aufgrund bruchstückartiger, oft widersprüchlicher Berichte, die gelegentlich von Wissenschaftlern stammen, welche das ihnen auferlegte Schweigegebot durchbrechen, bildet sich ein neues Bewußtsein: Die Umwelt des Menschen ist in Gefahr!

Die Leute scheinen zu spüren, daß dies ihr Kampf ist; daß er von ihnen selbst ausgefochten werden muß, oft nur mit geringer Hilfe von anderer Seite, und daß sie berufen sind, in diesen Kampf Industrie und Regierung zu reformieren, und - nur zu oft - jenes feste Konglomerat, das sich aus beiden gebildet hat. Intuitiv lehnen sie Leitartikel ab und wollen der Sache auf den Grund gehen. Sie entdecken, daß wir im Begriff stehen, die Natur unter der Dampfwalze des Fortschritts zu zermalmen. Wir haben das letzte Viertel der Jagd erreicht, die Spur ist heiß.

Die Stimmen der Besorgten wurden gegen Ende der sechziger Jahre zu einem Chor, dem die Politiker lauschen mußten.

Flugs schwangen sie sich auf die ökologische Lokomotive; sie machten Versprechungen, schwatzten Gemeinplätze und boten Gesetze an. Man fragt sich, ob nicht viele dieser Volksvertreter sich (wie gewisse Mikroben) mehr nach der Hitze als nach dem Licht richten. So viele sind so schnell ins Lager der Naturschützer übergewechselt, daß man sich beinahe schämt.

Ein sehr angesehener Wissenschaftler flog kürzlich nach Los Angeles, um ein Urteil über die Kohlenwasserstoffe im Smog abzugeben. Er zog scharf gegen die Autoindustrie vom Leder und riet ihr, »auf die Kohlen­wasserstoffe zu achten«. Grinste ein unverschämter Zuschauer: »Vor einem halben Jahr konnten sie das Wort Ökologie noch nicht buchstabieren, jetzt halten sie schon öffentliche Vorlesungen darüber.«

Aber ob die Regierung nun Sorge wegen der Umwelt oder nur wegen der nächsten Wahlen hat, spielt keine Rolle. Tatsache ist, sie zeigt den guten Willen, unsere Gesundheit durch Gesetze zu verbessern. Die Gesetze werden zwar entsetzlich langsam erlassen, trotz des Eifers einiger Abgeordneten, die das Problem erkannt hatten. Doch das hat seine Gründe.

Warum wachte die amerikanische Nation so langsam auf?

Ein wesentlicher Grund dürfte bei jenen Wissenschaftlern zu suchen sein, die sich weigerten, über Gefahren zu sprechen, die sie als erste hätten entdecken müssen. Ihre Zurückhaltung entsprang keineswegs übergroßer Bescheidenheit; sie rührte häufig davon her, daß die Herren sich in einem Interessenkonflikt befanden. Zahlreiche talentierte Wissenschaftler übernahmen Aufträge von Regierung oder Industrie. Studien­aufträge oder Industriekontrakte bessern ihr akademisches Gehalt auf. Dies ist zwar nicht gegen das Gesetz, führt aber mit der Zeit zu einer Form der professoralen Prostitution. Sie sitzen sozusagen rittlings auf einem Zaun. In dieser unbequemen Lage müssen sie entscheiden, wie sie sich verhalten sollen, wenn bedeutende wissenschaftliche Erkenntnisse anfallen. Nicht selten schweigen sie, wenn die Erkenntnisse ihre Wohltäter mitbetreffen, um nicht auf das Geld verzichten zu müssen. Daß diese Praxis weitverbreitet ist, haben mehrere Wissenschaftler in jüngster Zeit öffentlich festgestellt.

Zu ihrer Ehre sei gesagt: Zahlreiche Wissenschaftler möchten gerne sprechen, bringen es aber nicht übers Herz, die Öffentlichkeit zu informieren.

Gelegentlich ziehen sie einen Journalisten in eine Ecke und geben ihm anonyme Warnungen und Informationen, die ihrer Ansicht nach publiziert werden sollten. Ein Biochemiker wandte sich auf diese Weise vor zwei Jahren an mich. Er fühlte sich gezwungen, mir privat mitzuteilen, was er von den Insektentötern hielt, die auf dem Markt sind:

210/211

»Es sind Papierstreifen, die Menschen kaufen und in der Küche aufhängen. Sie enthalten organische Phosphate – die giftigsten Stoffe, die man sich ungefähr vorstellen kann. Ich glaube, wenn ein Kind so einen Streifen in die Hände bekommt und später seine Finger ableckt, könnte es sterben.« Der betroffene Chemiker arbeitete vertragsmäßig für einen Konzern, der solche Insektizid-Streifen herstellt.

In einem anderen Fall, der sich zur gleichen Zeit ereignete, durfte ich mich telefonisch mit dem Direktor eines wissenschaftlichen Instituts unterhalten. Doch als ich dann mit dem Tonbandgerät bei ihm erschien, um ein Interview aufzunehmen, saß ich einer Front von fünf Wissenschaftlern gegenüber und durfte nicht auf dem Band festhalten, welcher der Wissenschaftler bestimmte Erklärungen abgegeben hatte. Mut in der Masse, kann man da sagen.

Das heißt natürlich nicht, die gesamte Wissenschaft sei korrupt oder hasenfüßig. Im Gegenteil! Es gibt viel erfrischende Offenheit bei Forschern, die heute auf diesem Feld arbeiten. Sehr viele scheinen nicht daran zu denken, daß irgendeine öffentlich abgegebene Erklärung ihnen beim Auftraggeber schaden könne. In der Vergangenheit war es für diese Naturwissenschaftler oft quälend, daß sie zwar einen fundierten Verdacht hegten, aber schweigen mußten, weil die Hypothese noch nicht wissenschaftlich abgesichert war. Heute haben sie erkannt, daß wir es uns nicht mehr leisten können zu warten, bis die ganze Ernte eingebracht ist, wenn es um die Gefährdung der Öffentlichkeit geht. Daher werden Gegenstände und Themen, die auf Widerspruch stoßen und Unbehagen hervorrufen, öffentlich besprochen.

Noch vor zwei Jahren war es sehr schwer für mich, etwa die Frage, ob Pestizide das Phytoplankton schädigen – wodurch Fische sterben und der Sauerstoff rar wird –, mit irgendeinem Mann der Wissenschaft vernünftig zu besprechen. Heute ist das anders. Das Problem ist bekannt, man darf darüber sprechen, wenngleich es immer noch umstritten scheint. Erstklassige, berühmte Leute, die seit Jahren voll Besorgnis sehen, wie schlecht der Mensch seinen eigenen Planeten behandelt, fragen jetzt mit tiefer Besorgnis, ob der Mensch die Zerstörungen, die bereits stattgefunden haben, überhaupt noch überleben kann.

211/212

Für Piloten eines Flugzeuges gibt es einen sogenannten point of no return; es ist der Punkt auf dem Flug zwischen zwei Orten, von dem an – wegen der Treibstoffvorräte, des Windes und anderer Umstände – eine Rückkehr zum Ausgangspunkt nicht mehr möglich ist. Einige Wissenschaftler glauben, daß es etwas Ähnliches auch bei der Umweltverschmutzung gibt; irgendwann wird ein Punkt erreicht, an dem man nicht mehr zurück kann. Dann befindet sich die Menschheit im Monat Dezember ihrer Geschichte. Und einige glauben, daß wir uns bereits auf dem Weg zum programmierten Selbstmord befinden.

Es fällt uns allen ein wenig schwer, glaube ich, ernsthaft anzunehmen, der Mensch habe es fertiggebracht, sich selbst in einen verlorenen Winkel der Evolution zu schieben. Es ist eine Unverschämtheit, so etwas zu behaupten, meinen viele.

Sind wir denn nicht das letzte Glied einer riesigen Kette, die höchste Ordnung des natürlichen Plans, die einzigen Mitglieder im Königreich der Tiere, die gelernt haben zu sprechen, zu lesen und zu schreiben? Haben wir nicht so wunderbare Dinge wie den Atomreaktor oder das Auto-Kino erfunden? Natürlich haben wir das, und hier ist auch der Haken. Irgendwann haben wir in unserer Überheblichkeit vergessen, daß wir Teil unserer Umwelt sind. Ungleich den geringeren Mitgliedern jenes Königreichs haben wir beschlossen, unsere Umwelt selbst zu gestalten, sie mit Planierraupen zu bearbeiten, mit Asphalt und Beton zu begießen, sie so zu machen, wie es uns gefiel. Wir wünschten eine Welt mit einer Bügelfalte, die nie wieder ‘rausgeht, doch das Vorhaben war undurchführbar. Die Hose platzt jetzt an den Säumen.

Einen qualvollen Tod bereitete die Ölpest
vielen tausend Vögeln an der britischen und französischen Küste
nach der
Torrey-Canyon-Katastrophe

wikipedia  Torrey_Canyon  1967

213/214

Immer mehr Wissenschaftler stellen ernsthaft die Frage, ob das ökologische Gewebe unserer Erde dem Druck der modernen menschlichen Gesellschaft noch standhalten kann.
Der Alarm läßt sich in Stufen einteilen.

Einige wenige glauben, wir hätten den kritischen Punkt schon verfehlt und stolperten nun unaufhaltsam unserem Untergang entgegen. Vor uns liege das Schicksal, ausgelöscht und vergessen zu werden.

Andere, gehen noch nicht so weit. Sie glauben, daß es noch Chancen gibt, daß wir aber den Punkt, an dem es keine Umkehr mehr gibt, sehr bald erreichen werden. Ein Vertreter dieser Ansicht ist Doyle Grabarck, Biochemiker an der Physiologischen Fakultät der Universität von Maryland und Präsident der amerikanischen Habitat Society. Grabarck sagt:

»Das Problem der Umweltvergiftung und Verpestung ist so groß geworden, daß die Mehrzahl der Ökologen mit vollem Recht glaubt, der Punkt, an dem es noch möglich gewesen wäre, den Verfall aufzuhalten, sei bereits überschritten. Ich für meinen Teil fühle, daß wir in den Vereinigten Staaten sowohl den Verstand als auch die finanzielle Macht haben, diesen gefährlichen Trend nicht nur in Amerika, sondern auch in der Welt aufzuhalten. Doch wenn es nicht innerhalb der nächsten fünf Jahre zu einem dramatischen und breit angelegten Programm kommt, dann wird die sinnlose Vernichtung der menschlichen Umwelt unabweisbar zur Vernichtung der menschlichen Rasse führen.«

Von Grabarck stammt die Metapher, daß die Ökologie, die Gemeinschaft aller Tiere und Pflanzen in einem Revier, mit einem Netz vergleichbar sei. »Wenn wir eine seiner Hauptschnüre lösen«, sagt er, »dann hält das Netz nicht mehr zusammen. Ich glaube, es wird schon an den Hauptschnüren gearbeitet. Wenn das wirklich eintritt, wird es noch zu meinen Lebzeiten geschehen. Ich bin 28 Jahre alt.«

Ist es möglich, überhaupt nur denkbar, daß diese Männer recht haben? Sie können die Vorgänge besser beurteilen als wir. Es gibt Zeichen, die andeuten, daß ihre Ansichten zutreffen.

detopia-2022:    bing  R.+Doyle+Grabarck+North+American+Habitat+Preservation+Society     214/215

An der Nordküste von Kalifornien verschwinden die Sardinen. Der Krabbenfang rund um San Francisco ist innerhalb von 10 Jahren um 90 Prozent gesunken. Tausende von Vögeln sterben auf geheimnisvolle Weise in Großbritannien. Pelikane und andere fischfressende Vögel liegen auf einem Kurs, der geradewegs in die Ausrottung führt. Der »Dornenkronen«-Seestern erlebt eine Bevölkerungsexplosion.

Ist das alles nur Zufall? Oder ist es vielleicht doch der Griff des Menschen in die Natur, das Spiel mit tödlichen Giften wie dem DDT? Was immer die Ursache sein mag, wir sind Zeugen einer weltweiten Auflösung des ökologischen Systems, unter dessen Gesetz alle Lebewesen stehen. Soviel ist bereits offenbar. Was sich nicht so offen anbietet, ist dies: die subtilen Änderungen, die wir bisher nicht entdeckten, die aber bereits der Samen der großen Katastrophe sein können. Wie es einer der Wissenschaftler mit eisiger Logik ausdrückte: »Bis wir so weit sind, nachzuweisen, daß wirklich etwas geschieht, ist es schon zwanzig Jahre zu spät.«

Wenn unsere erwählten Volksvertreter auch nur einen Bruchteil dessen glauben, was die Naturwissenschaften sagen, dann reagieren sie auf ziemlich rätselhafte Art und Weise darauf.

Für eine Nation, die in ihrem eigenen Unrat erstickt, werden Pfennige ausgeworfen, mit denen man bestenfalls ein paar Abflußkanäle reparieren kann – etwa so, als wollte man den Assuandamm mit der Hilfe von drei Bibern erbauen. Nachdem die Verantwortlichen, was das DDT betrifft, bereits mit dem Rücken an der Wand stehen und sich das Beweismaterial seit Jahren zu Bergen aufhäuft, gibt die Regierung schließlich ein wenig nach und stimmt einer »zeitweisen Aussetzung« des Mittels in den USA zu. Doch da das meiste DDT exportiert wird, kommt es mit der Regelmäßigkeit eines Liniendampfers immer wieder zu unseren Küsten zurück. Dieses Verhalten ist etwa so sinnvoll wie das jenes Teenagermädchens, das immer nur am Samstagabend die Pille nahm, wenn es mit seinem Freund ausging.

Wenn wir wirklich auf Kollisionskurs mit einer Tragödie liegen, hervorgerufen durch die Vergiftung unserer Umwelt, dann werden wir keine weiteren Voraus­warnungen mehr erwarten dürfen. Wissenschaftler erklären, daß zahlreiche Einzelinformationen, die uns erlauben würden, die große Katastrophe genauer zu bestimmen, noch fehlen. Auf manchen Gebieten haben Untersuchungen nur unklare Anzeichen ergeben, die neue Forschung erforderlich machten. Das zu untersuchende Feld ist riesengroß, die Zahl der wissenschaftlichen Gebiete, auf denen sich das alles abspielt, gigantisch.

Dennoch genügt das, was vorliegt, um uns vor dem Jüngsten Gericht zu warnen. So ist die Lage heute. Vielleicht die beste Antwort gab ein Botaniker, den ich fragte, wann seiner Ansicht nach der Punkt erreicht werde, an dem es keine Rettung mehr gibt. Er warf mir einen merkwürdigen Blick zu und sagte achselzuckend: »Wann? Wir können es uns einfach nicht mehr leisten, dieser Frage nachzugehen.«

Natur scheint, das ist die endgültige Analyse des Problems, ihre eigenen Methoden zu kennen, um das Leben zu erhalten. Der Verfasser dieser Zeilen glaubt, daß die Natur zu guter Letzt doch wieder ins Gleichgewicht kommt, und daß das Leben auf der Erde dann weitergeht, so wie es immer weitergegangen ist. Die Natur hat eine herzerfrischende Fähigkeit, sich selbst von Körpern, die ihr Dasein gefährden, zu befreien. Es ist nur leider unser Pech, daß jene Reizkörperchen, die die Natur gefährden, im vorliegenden Fall die Menschen sind.

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