3: Meine Tochter und ich
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Meine Tochter Katja und ich waren im April 1993 miteinander verabredet. Wir hatten in diesem Frühjahr bereits zwei Treffen, die mir für die Gestaltung der Beziehung zu ihr unergiebig erschienen. Denn wir hatten uns darauf geeinigt, keine Probleme und Konflikte mehr zu erörtern, einfach — soweit dies möglich sein würde — locker und entspannt zusammenzusitzen und zu reden.
Im Laufe des Tages wurde ich zunehmend unruhiger. Mir wurde bewußt, daß ein drittes Treffen dieser »zwanglosen«, scheinbar problemfreien Art nicht in meine Stimmung paßte. Ich beschloß, Katja anzurufen: »Wir sind heute verabredet«, sagte ich.
»Wir hatten bereits zwei Gespräche, in denen wir uns gegenseitig locker darüber informiert haben, was jeder so erlebt hat. Für ein weiteres Gespräch dieser Art ist mir meine Zeit zu schade. Heute scheint es mir angebracht, daß wir die Schonung aufgeben, damit anfangen, über die Situation zwischen uns zu sprechen, über die Konflikte, die in den vergangenen Jahren entstanden, aber noch nicht aufgearbeitet worden sind. Übrigens möchte Irmgard nicht, daß Du in unsere Wohnung kommst, weil Du ihren Brief nicht beantwortet hast und zur Zeit kein Kontakt zwischen Euch besteht. Ich möchte darauf Rücksicht nehmen.«
Katja antwortete, es habe gar keinen Zweck, daß wir beide über irgendwelche Konflikte reden. Sie könne sich überhaupt nicht vorstellen, daß ein solches Gespräch zwischen uns produktiv wäre; zwischen uns könne es nicht zu einer Verständigung kommen. Sie hätte Angst, wir landeten wieder schnell im Streit.
Ich gab zu bedenken, daß nach meinem Empfinden ein Gespräch anstünde, ich mir aber auch Sorgen machte, wir könnten uns noch mehr voneinander entfernen, weil wir uns gegenseitig nicht entgegenkommen würden. Ich sei ihr einige Monate lang mit Briefen hinterhergelaufen und hätte mich um die Wiederaufnahme der Beziehung gekümmert. Darauf antwortete Katja: »Du hast dich einen Scheißdreck dafür interessiert, was ich für ein Leben führe.«
An dieser Stelle wurde mir unser Telefonat unbehaglich. Ich verabschiedete mich, indem ich sagte: »Auf diese Art und Weise kann ich mit dir nicht reden. Ich möchte das Gespräch beenden.«
In diesem Kapitel möchte ich die Geschichte meiner Beziehung zu Katja schildern, etwas Licht in ein Dunkel zu bringen versuchen: Was geschah zwischen Vater und Tochter, das beide in eine derartig massive Distanz und Unfreundlichkeit zueinander hineinführte?
Bevor ich diese komplizierte Beziehungsgeschichte nachzeichne, will ich erklären, wieso ich gerade jetzt, im Dezember 1993, plötzlich die Kraft spüre, diese Anstrengung der Erinnerung auf mich zu nehmen, mich den Schmerzen der Trauerarbeit auszusetzen.
Immerhin hatte Johannes Thiele seit 1988, als die erste Idee zu einem »Brief an die Tochter« entstand, immer wieder nach diesem Manuskript gefragt. Und ich hatte stets einwenden müssen, daß ich die Kraft dazu noch nicht hätte.
Zunächst einmal hatten mich die beiden »zwanglosen« Gespräche aus dem Frühjahr 1993 ernüchtert und ermüdet, aber auch den Trauerschleier zerrissen, der seit Anfang 1991 über mir lag, weil ich Katja zwei Jahre lang nicht gesehen hatte. Diese Gespräche waren mir einfach zu »langweilig«, zwar entspannt, aber für mich unzureichend.
Dann kam Pisselberg...
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1 Woher ich nach 5 Jahren des Zögerns plötzlich den Mut hatte, nach meiner Tochter zu suchen
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Drei Jahre lang hatte ich — außer diesem »zwanglosen« — keinen Kontakt mit Katja gehabt, habe in dieser Zeit meine Arbeit gemacht, unter anderem auch die mit einigen sexuell gewalttätig behandelten Frauen.
Was hat diese Arbeit mit der Beziehung zu meiner Tochter zu tun? In einer bestimmten Weise habe ich als Vater versagt. Es gab keinen sexuellen Mißbrauch, auch keine Anwendung von Gewalt, wohl aber mangelndes Einfühlungsvermögen. Das war für Katja schlimm genug. Ich bin mir nicht sicher, ob in dieser Kultur nicht alle Kinder, Jungen und Mädchen, von ihren Eltern in gewisser Weise »mißbraucht« werden, weil sie in den seltensten Fällen die nötige Zuwendung, Aufmerksamkeit und Liebe erfahren, die heranwachsende Menschen benötigen.
In der Zeit unserer Beziehungspause habe ich immer wieder darüber nachgedacht, ja gegrübelt, wieso es mir so schwerfällt, mich mit meiner Beziehung zu Katja zu beschäftigen. Zeitweise habe ich mir geradezu »verboten«, ins Auge zu fassen, daß auch bestimmte Charaktereigenschaften von Katja zur Vertiefung der Kluft zwischen uns beitragen.
Im Dezember 1993 lernte ich Maria und Johanna neu kennen, zwei Frauen, die schon seit mehreren Jahren mit mir am Thema sexueller Gewalt arbeiten. In der Arbeit mit ihnen habe ich auch ein verändertes Verständnis für Katja entwickeln können.
Ich erlebte, daß diese Frauen, die sexuell gewalttätig behandelt worden sind, manchmal sehr kraftvoll wirken, sehr cool, daß sie auch aggressiv auftreten können und dann scheinbar unbeeindruckbar sind. Sie haben sich verpanzert und wollen gar nichts mehr an sich heranlassen. Sie wollen niemals wieder diesen Schmerz erleben, den sie in der Kindheit verdrängen mußten, nicht fühlen durften, den sie jetzt aber aussprechen und durcharbeiten wollen, weil das Geheimnis des Mißbrauchs nicht mehr gewahrt werden muß.
Daraus entsteht ein großes Problem für Männer im Umgang mit sexuell gewalttätig attackierten Frauen. Die Frauen brauchen unsere ganze Zuwendung, unseren Trost und unsere Liebe. Aber sie greifen uns auch an.
Mit diesen, schon vor Beginn des gemeinsamen Aufenthalts aufgebauten Aggressionen gegen mich ist Maria nach Pisselberg gekommen, zu einer unserer »Therapiereisen«. Sie mußte ihre Aggressionen gegen mich loswerden, sie mußte sich wütend und schmerzerfüllt an irgendeinem Mann rächen, der in ihrer Nähe war. Der Rachewunsch saß tief in ihrem Herzen. Die immer wieder verschobene Rache suchte sich ein aktuelles Motiv.
Maria sagte später, sie habe im Gefühl, daß ihr Herz ganz hart sei, daß sie uns Härte entgegenbrächte, vor allem mir gegenüber. Und daß sie die Einsicht in die Rache, die sie ausübe und die auch manchmal »unschuldige« Personen träfe, mit nach Hause nähme.
Aggression und Rache. Katja wurde im Alter von drei Jahren von mir verlassen, weil ich mich von Almuth und ihr getrennt habe. Das war ein furchtbar großer Schmerz für die kleine Dreijährige. Erst als Katja dreizehn Jahre alt war, nahm ich wieder kontinuierlichen Kontakt mit ihr auf. Zehn Jahre lang ist sie quasi ohne ihren Vater gewesen. Vielleicht ist ihr unbewußt ein Rachebedürfnis erwachsen, weil ich sie verlassen habe.
Dieser Gedanke führte bei mir zu einer gewissen Erleichterung. Ich konnte etwas von diesem Problem zwischen Wilfried und Katja zurücktreten, weil mir klar wurde, daß ich es heute schwer habe, wenn sie — besonders empfindlich — auf die nächste Enttäuschung »wartet«. Ich kann das nicht verhindern oder vermeiden.
Ich mache Fehler, aber ich mache auch manches richtig. Das Richtige kommt bei Katja nicht immer an. Ich werde in Zukunft deutlich zum Ausdruck bringen müssen, daß mir sehr viel an der Beziehung zu ihr liegt, daß ich diese unter allen Umständen wiederherstellen möchte. Ja auch, daß ich bisweilen Sehnsucht nach meiner Tochter habe — und daß ich sie liebe.
Aber ich muß mir andererseits nicht alles gefallen lassen. Ich darf nicht jede Aggressivität auf mich ziehen, muß mich selber auch schützen — selbst meiner eigenen Tochter gegenüber.
Die neunzehnjährige Birgit sagte mir im Gespräch in Pisselberg etwas sehr Wohltuendes. Weil ich erfreut war über das, was sie uns erzählt hatte, hatte ich zu ihr gesagt: »Wenn du meine Tochter wärst, dann wäre ich sehr stolz auf dich.« Und sie hatte geantwortet: »Wenn du mein Vater wärst, ich auch.«
Nicht dieser Satz allein, aber auch er hat mir geholfen und mich gestärkt. Er gab mir ein gutes Gefühl für die in Zukunft anstehende Bemühung um meine Tochter.
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2 Der erste offen ausbrechende Konflikt
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Ich begebe mich auch deswegen auf die Suche nach meiner Tochter, weil ich herausfinden will, warum sie mir gesagt hat, ich hätte mich einen Schreißdreck um sie gekümmert. Ich verstehe das; ich hatte selber häufig das Gefühl, als Vater versagt zu haben. Sachlich hätte ich darüber sprechen können, aber die Schimpfworte konnte ich nicht verwinden.
Im Dezember 1993 spürte ich zum ersten Mal die Kraft, meinen Beitrag zu leisten und herauszuspüren, warum Katja sich so gefühlt hat, und was in unserer Beziehung geschehen ist.
Ich beginne im Jahr 1991, dem Jahr, in dem wir beide den ersten offenen Konflikt erlebten.
Schon lange vorher hatten wir über Katjas Vorhaben gesprochen, wieder nach Kreta zu fahren. Kein Ort der Welt faszinierte sie mehr, vielleicht auch deshalb, weil sie dort leichter Beziehungen zu Männern aufgenommen hatte. Ich wollte sie nach Beendigung ihrer Ausbildung zur Krankenschwester bei einem längeren Auslandsaufenthalt finanziell unterstützen. Sie hatte sogar erwogen, auf Kreta ein kleines Bistro aufzumachen. 1991 war es dann so weit, sie wollte reisen, zunächst mit einer Freundin nach Lanzarote, dann nach Kreta, ein halbes Jahr war vorgesehen. Ich richtete einen Dauerauftrag ein, statt bisher 900 Mark wollte ich ihr nun ein Jahr lang 2000 Mark überweisen.
Einige Wochen vor Reisebeginn saßen wir mit Irmgard zusammen im Hotel Excelsior in der Hardenbergstraße und besprachen alles noch einmal.
Es traf mich unvorbereitet. Ich bekam einen Schreck, als Katja sagte, sie wolle ihren Wohnungsschlüssel zurück. Ich hatte ihr angeboten, einmal wöchentlich nach den Pflanzen und der Katze zu sehen. Sie entgegnete, die Katze brauchte tägliche Pflege, und ich müßte einsehen, daß sie den Schlüssel jetzt benötigte, weil sie jemanden damit beauftragen müsse. Damals wußte ich noch nicht, daß sie zu diesem Zeitpunkt schon mit einer Frau, die während ihrer Abwesenheit in ihrer Wohnung leben sollte, einen Mietvertrag abgeschlossen hatte.
Katja wußte, daß ich ihre Wohnung in Schlachtensee sehr mochte. Ich verstand überhaupt nicht, warum ich den Schlüssel zurückgeben und nun keine Gelegenheit mehr haben sollte, irgendwann im Sommer einmal an den Schlachtensee zu fahren und mich hinterher vielleicht in Katjas Wohnung auszuruhen, gegebenenfalls dort ein bißchen zu arbeiten. Ich hätte gern den Schlüssel behalten und war nun so überrascht, daß ich ihn wortlos von meinem Schlüsselbund löste und Katja gab.
Ich kann mich in derartigen Situationen manchmal nicht schnell genug vertreten, eine Schwäche von mir. Ich fragte Katja nicht einmal, warum sie den Schlüssel wollte, brachte meine Enttäuschung nicht zum Ausdruck. Diese mangelnde Fähigkeit, in bestimmten Situationen zu reagieren, meine Wünsche zu äußern, nachzufragen usw. ist sicherlich auch in unserer Beziehung ein hinderliches Moment. Wahrscheinlich ist ein gewisser Arger in mir geblieben.
Am 3. März 1991 flog Katja nach Lanzarote. Irmgard und ich hatten uns auf dem Flughafen von ihr verabschiedet.
Sie hätte T., einen netten Deutschen, kennengelernt, schrieb sie mir, mit dem sie einige schöne Tage verbracht hätte. »Bei ihm habe ich mich richtig aufgehoben und ernstgenommen gefühlt. Aber selbst das hat alles nicht richtig geklappt. Denn eigentlich wollte er mich sobald wie möglich hier wieder besuchen ... Und was mache ich? Ich verliere seine Adresse aus meinem Portemonnaie.«
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In diesem Brief konnte Katja uns noch keine feste Adresse mitteilen. Ich konnte ihr nicht schreiben und mußte nun auf ihr nächstes Lebenszeichen warten. Nach etwa zwei Monaten wurde mir die Sache zu bunt. Ich erfuhr, daß sie inzwischen auf Kreta war, im Hotel »Niki« wohnte, fragte die Telefonauskunft, bekam nach einigem Hin und Her tatsächlich die Nummer und rief Katja an. Dabei brachte ich meinen Ärger zum Ausdruck, daß ich seit Monaten nichts von ihr gehört und mir Sorgen gemacht hatte. Aufgebracht teilte ich ihr mit, daß ich es begrüßt hätte, wenn sie sich bei mir gemeldet hätte. Unser Telefonat dauerte nicht lange; ich ließ nur meinen Arger heraus.
Katja räumte in einem Brief ein, daß sie meinen Ärger verstehen könne, mahnte aber auch die Beantwortung ihres letzten Briefes an: »Jedenfalls hätte ich mich sehr darüber gefreut, da ich mich manchmal sehr einsam hier gefühlt habe. Und obwohl mir Dein Ärger zwar einleuchtend ist und es mir leid tut, daß ich mich so verhalten habe, ist mir Dein Verhalten am Telefon gänzlich unverständlich. Ich habe den Eindruck, daß Du Dich gerne mit Absicht in eine unverhältnismäßige Wut hineinsteigerst. Ich finde die Rolle des brüllenden Wüterichs nicht so erstrebenswert. Ich möchte mich eigentlich so nicht behandeln lassen, finde, Du hättest Deinen Ärger auch anders deutlich machen können. Es wäre dann noch wenigstens dazu gekommen, von Dir zu hören, wie es Dir geht, und ich hätte Dir vielleicht auch kurz etwas von mir erzählen können.«
Über diesen Brief freute ich mich, wartete aber bis zum 21. Juli mit der Antwort. In meinem Schreiben kam ich noch einmal auf den »brüllenden Wüterich« zu sprechen: »Wie soll ich Dein Verhalten mir gegenüber nennen? Ignoranz? Sorglosigkeit? Oder Aggression? Ja, Katja, ich finde Dich ziemlich aggressiv mir gegenüber. Ich brülle zurück, weil ich Dir auch einmal zeigen will, daß ich sehr ärgerlich und zu einer anderen Haltung fähig bin.«
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Ich schrieb ihr auch, warum ich sie aggressiv fand. Vor allem beanstandete ich, daß es nicht zu einer ausführlichen Aussprache zwischen uns kam, bevor sie auf die große Tour ging. Ich dachte, ich hätte sie verwöhnt, wollte ihr ermöglichen, ein Jahr lang finanziell unbeschwert zu nutzen, um sich über ihre berufliche Zukunft klar zu werden: »Ich zahle Dir 2000 Mark pro Monat, aus Großzügigkeit, und Du nimmst mir den Wohnungsschlüssel ab, weil eine Frau dort wohnen wird, die die Katze versorgen muß. Die Katze kommt nächstens ins Tierheim oder ich stelle meine Zahlung ein.«
Wenn ich diesen Brief heute lese, dann erscheint er mir hart und autoritär. Damals fühlte ich mich völlig im Recht. Zu meinem Anliegen kann ich jedoch auch heute noch stehen. Es war nicht richtig, daß sie sich nicht gemeldet hat, daß ich ihre Adresse nicht kannte, daß sie — das kam dazu — unsere Geburtstage ignorierte. Trotzdem bleibt ein Unbehagen über meine Art. Mir wird auch klar, daß ich selbst recht kräftig zum Zerwürfnis beigetragen habe.
Irmgard wies mich daraufhin, daß Katja mir keine Anerkennung geben wolle, weil sie über meine Trennung von Almuth und ihr selbst verletzt sei, mit Wut im Bauch und Schmerzen im Gemüt. Und das sei nicht so leicht zu überwinden, selbst wenn ich mich in späteren Jahren um sie bemüht hätte. Sie legte noch einmal den Finger auf meine Wunde, traf etwas Richtiges. Ich gab Katja immer wieder Gelegenheit, sich über mich zu ärgern, und Irmgard erwähnte gewisse Übergriffe von mir: Ich hatte einen Geburtstagsbrief gelesen, der offen auf Katjas Schreibtisch lag, hatte in ihrem Zimmer eine Lampe umgehängt usw.
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Ich hatte ein Gespräch mit Sarah Haffner über unseren Zwist. Sie antwortete mir zunächst, daß Katja offenbar durch die Schrägheiten Unabhängigkeit beweisen will, weil sie von mir finanziell abhängig ist oder war. Sarah sagte: »Liebesentzug — mit Geldentzug verbunden, der angedroht wird.« Sie meinte, daß sie sich in Katja einfühlen könne, daß diese zeigen wolle, es auch allein schaffen zu können, daß sie »erwachsen« sei.
Ich wies Sarah und Irmgard gegenüber daraufhin, daß es nicht um Liebesentzug gehe, sondern um die Zurücknahme einer überhöhten finanziellen Zuwendung, im Grunde also um eine konsequente, ja »liebevolle« Haltung. Sarah war nicht umzustimmen. Katja lebe in einem Widerspruch, sagte sie, zwischen der Dankbarkeit dem Vater gegenüber und der notwendigen Befreiung von ihm finde sie sich noch nicht zurecht.
Um noch einmal auf den erwähnten Brief zurückzukommen: Roswitha Neumann fand ihn etwas zu hart, im Kern aber einfühlbar und notwendig. Irmgard hielt ihn wegen der Erwähnung des Geldes für überzogen und meinte: »Typisch Wilfried, erst lange warten, dann platzen und übers Ziel hinausschießen.«
Ich hatte damit gerechnet, daß Katja auf meinen Brief hin einen Schreck bekommt, sich drei Tage lang ärgert, vielleicht drei Wochen braucht, um meine Stellungnahme zu verstehen, und mir dann schreiben würde. Das geschah nicht. Ich nahm das als Hinweis, daß sie von mir in Ruhe gelassen werden wollte. Die deutliche und anstrengende Auseinandersetzung schien ihr schwerzufallen.
Nüchtern betrachtet, war Katjas Ignoranz eine Aggression gegen mich, allerdings eine, die, wie ich vermutete, auch ihr manchmal wehtat und sie viel Kraft kostete.
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Am Dienstag, 10. Juli 1991, war ich wie vom Donner gerührt, als ich von Roswitha zufällig erfuhr, daß Katja in Berlin war. Das gab mir einen Stich, und ich fühlte mich elend. Sie kommt nach Hause, nimmt aber mit mir keinen Kontakt auf. Roswitha erzählte mir auch, Katja habe Frauen der Gruppe gesagt, sie sei nicht freiwillig nach Berlin zurückgekommen, die Interpretation nahelegend, ich hätte sie durch Geldentzug dazu gezwungen. Das empfand ich als aggressiv, weil es nicht stimmte. Ich vermutete einen anderen Grund: Auf Kreta war es nicht so schön, wie sie gehofft hatte. Und ihren neuen Freund T. aus F. konnte sie in Berlin besser erreichen als auf Kreta.
Katja war offenbar dabei, Distanz zu mir aufzubauen, zu der sie bisher nicht die Kraft gefunden hatte. Sie suchte bewußt nicht die Auseinandersetzung, aber ich empfand, daß sie eine solche längst begonnen hatte. Nur wurde sie von ihr nicht offensiv, sondern passiv, schweigsam und durch Verweigerung geführt.
Immer wieder dachte ich über Katjas Kindheit nach. Schon ihre Großmutter war von ihrem Mann mit vier Kindern im Stich gelassen worden. In der Familie wurde daraufhin der Männerhaß gepflegt. Katjas Mutter setzte die Tradition fort: Den Männern kann man nicht trauen. Die werden dich im Stich lassen. Die sind untreu.
Katjas Männerskepsis ist unverkennbar. Männer, mit denen sie in Kontakt kommt, müssen in das Schema »Schurke« passen. Leisten sie Widerstand oder äußern sie Widerspruch, dann fallen sie durch, werden hart beschimpft und kritisiert.
Die Familientradition bedeutet für alle Frauen: Der Mann ist da, wird aber bald verschwinden, sich einfach entziehen. Dann wird sich wieder einmal bestätigen, daß alle Männer unzuverlässig sind.
Ich habe Almuth und Katja tatsächlich verlassen. Es gab bei mir andere Frauen, bei Almuth andere Männer, sogar einen, mit dem sie sofort nach unserer Trennung zusammenzog. Für Katja war mein Verschwinden schmerzlich und traumatisch. Sie hatte ja den Wunsch, von mir geliebt zu werden, und brauchte mich. Und sie hatte ein Recht darauf, geliebt zu werden.
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Ihre Schmerzen konnte Katja mich damals noch nicht spüren lassen, ihren Ärger auch nicht. Beide Gefühle sind tief in ihr vergraben. Als wir beide wieder Kontakt bekamen, war sie dreizehn. Almuth fühlte sich der Beziehung nicht mehr gewachsen. Ich sollte Katja zu mir nehmen, meinte Almuth, was ich nicht konnte. Und wieder der Beweis: Dein Vater liebt dich nicht, sonst würde er dich ja zu sich nehmen. So oder ähnlich wird Almuth gesprochen und Katja gefühlt haben.
Almuth ist viel zu früh gestorben, im Alter von 44 Jahren. Katja war siebzehn Jahre alt gewesen. Als wir dann nach Almuths Tod (im September 1984) Verbindung zueinander aufnahmen, wollte Katja mich prüfen. Sie blieb skeptisch, es gab Mißverständnisse und Unannehmlichkeiten in unserer Beziehung. Und sie blieb in der Erwartung, daß sich die Prophezeiung — »Der ist ein Schwein. Das wirst du schon noch sehen« — erfüllte. Irgendwie mußte doch die alte Familienprognose in Erfüllung gehen, daß alle Männer Verbrecher sind.
1991 war es dann so weit: Katja, unabhängig genug von mir, konnte riskieren, sich zu distanzieren und mich zu ärgern: Wenn es sich herausstellen sollte, daß Großmutter und Mutter mit ihrem Pessimismus und Männerhaß recht haben, dann verzichte ich eben auf diesen sogenannten Vater.
Ich komme auf diese Deutung auch deshalb, weil Katja häufig jede sich bietende Gelegenheit nutzt, sich über mich zu ärgern und mich zu verdammen. Ich sehe es daran, daß ein unverhältnismäßig großer Zorn in ihr hochkommt. Dieser wiederum zeigt mir, wieviel sie bisher hinuntergeschluckt und mühsam zurückgehalten hat. Nun durfte ich eben keine Fehler mehr machen.
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Wenn ich mich in das kleine dreijährige Mädchen einzufühlen versuche, empfinde ich wegen damals viel Trauer. Heute aber ist sie kein kleines Mädchen mehr, heute ist sie eine erwachsene Frau, die ihren Vater strapaziert und fordert. Sie hat wahrscheinlich vor ihren eigenen Aggressionen Angst, weil sie mit deren Stärke noch nicht umgehen kann. Katja hat mit ihrer Mutter schlechte Erfahrungen gemacht, weil diese krank und pflegebedürftig war. Ich vermute, daß sich bei Katja unbewußt die Angst festgesetzt hat: »Wenn ich jemanden sehr aggressiv angehe, dann stirbt der vielleicht deswegen.«
Vielleicht war auch Katjas Berufswahl, Krankenschwester zu werden, nicht einfach nur der Versuch, die Heilung ihrer Mutter symbolisch an Fremden zu vollziehen, sondern auch der Versuch, die verdrängten, selbstverständlich total unangebrachten Schuldgefühle wegen des Todes der Mutter durch samariterhaftes Engagement zu verdecken. Dafür spricht, daß Katja auch bei mir Zeichen der Weichheit und Tränen nie gut akzeptieren konnte.
Ich merke, daß Katja immer dann zu jemandem auf Distanz geht, wenn Auseinandersetzung, Streit und Konfliktbewältigung anstehen. Nicht nur, weil sie die Aggressionen des anderen furchtet, sondern vor allem, weil sie vor ihrer eigenen Aggression und den befürchteten katastrophalen Folgen für andere — indirekt auf sie selbst zurückwirkend — Angst hat.
Um den 28.Juli 1991 herum schrieb mir Katja einen sehr langen Brief, in dem sie mir ausführlich ihre Reaktion auf die verschiedenen Streitpunkte, die zwischen uns schwelten, mitteilte. Eine Passage daraus möchte ich zitieren:
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»Zuerst einmal finde ich Deine Argumente, weswegen Du meinen langen Brief nicht beantwortet hast, nach wie vor kleinkariert, albern und einfach völlig daneben. Hättest Du einmal anstatt nur an Dich auch an mich gedacht, wie ich mich im Ausland wohl fühlen mag und wie es wohl für mich ist, einen Brief zu bekommen, wäre es Dir wohl nicht mehr unter Deiner Würde erschienen, die Adresse aus Irmgards Brief zu übernehmen. Außerdem hast Du ja auch keine Mühe gescheut, meine Telefonnummer herauszubekommen und mich dann anzubrüllen...
Wenn Du eine Aussprache wünschst, weil Du dich geärgert hast, dann mußt Du die schon herbeiführen. Du kannst das dann schlecht von mir erwarten, wenn ich noch nicht einmal weiß, daß Du dich geärgert hast. ... Übrigens, daß ich Dir meinen Wohnungsschlüssel abnehme, wenn ich ihn brauche, ist mein gutes Recht. Im Gegenteil, daß ich ihn Dir vorher gegeben habe, ist ein großes Entgegenkommen. (Anmerkung: Eine unpassende Argumentation, wie ich finde. Denn ich hatte ihr ja auch meinen Wohnungsschlüssel gegeben. Es war also gar kein Entgegenkommen gewesen, sondern ein gegenseitiges Arrangement.)
Meine Wohnung ist und bleibt meine Wohnung, egal, wieviel Geld Du mir gibst. Dir scheint es immer noch nicht klar zu sein, daß meine Wohnung mein Heim ist. Ich lebe und arbeite hier. Es gibt in meiner Wohnung einiges aufrechtzuerhalten, auch wenn ich im Ausland bin. Du würdest Deine Wohnung auch nicht einfach jemandem überlassen, der Deine Angelegenheiten nicht weiter regeln kann. Und Du hättest diese Angelegenheiten nicht regeln können, weil Du nicht erreichbar bist.
So, und nun zum wichtigsten Punkt. Ich empfinde es als einen so schwerwiegenden Vertrauensbruch, mir, während ich im Ausland sitze und von Deinem Geld abhängig bin, anzudrohen, kein Geld mehr zu überweisen, und dazu noch Deine Wut einer Katze anzulasten, daß meine Stimmung Dir gegenüber nun die denkbar schlechteste ist.
Vielleicht solltest Du einmal versuchen, Dir klar zu machen, wie es auf einen wirkt, wenn man im Ausland hockt, überhaupt nicht weiß, was hier in Berlin vor sich geht, und der Vater, mit dem man ausführlich vorher darüber gespro—
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chen hat, daß das Geld zuverlässig kommen muß, plötzlich solche Drohungen brieflich ausstößt. Ich nehme stark an, daß Du beim Schreiben Deines Briefes wiederum nur an Dich und Deine Wut gedacht hast. Du hast wieder einmal nicht einen einzigen Gedanken daran verschwendet, wie ich mich wohl fühlen könnte. Und daß Du dann auch noch höchst erstaunt bist, daß ich auf Grund dieses Briefes zurückkommen mußte, ist wirklich der Gipfel des Egoismus.
Jedenfalls bin ich im Moment so enttäuscht und sauer über Dein Verhalten, daß ich auch keine Lust auf ein Gespräch mit Dir habe. Ich habe mich bisher deswegen auch noch nicht gemeldet.
Deine Großzügigkeit in Bezug auf Geld — in Bezug auf Gefühle bist du ja mir gegenüber weniger großzügig — kann ich übrigens nicht mehr als solche sehen. Wenn mir jemand Geld gibt und hinterher Forderungen auf meine Wohnung und meine Lebensführung stellt, ist das keine Großzügigkeit, sondern Geschäft. Ich möchte Dich also bitten, in Zukunft nicht mehr >großzügig< zu sein und mir kein Geld mehr zu überweisen. Solltest Du Dich entschließen, mir statt Geld Interesse, Fürsorge und Liebe geben zu wollen, können wir ja wieder in Kontakt treten. Wie Du siehst, ist dieser Brief auf keinen Fall witzig oder diplomatisch. Ich hoffe sehr, daß Dir diesmal das Lachen über meine Kritik vergangen ist.
Deine Katja.»
Etwas geschluckt habe ich schon beim Lesen dieses Briefes. Ich entschloß mich zu der Einschätzung, daß sich Katja nicht mehr ganz im Lot befand, eventuell unter Einfluß von Leuten stand, die mich nicht kennen. Irmgard dagegen sagte mir relativ kühl: »Dieser Brief deiner Tochter ähnelt deinen Briefen.«
Immerhin war es ein Brief, mit dem ich etwas anfangen konnte.
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Katja kennt mich nur zum Teil; über andere Aspekte meiner Person trägt sie Fehleinschätzungen mit sich herum. Heute hat mir die Suche nach meiner Tochter aber auch die schmerzliche Erkenntnis gebracht, daß ich bedeutenden Irrtümern über mich selbst unterliege, auch vielen falschen Erinnerungen.
Ich stellte von August 1991 an die Überweisungen ein, nahm mir vor, mich nicht mehr zu melden, weder brieflich noch telefonisch. In gewissem Sinn war ich erleichtert, daß ich zu dem Zeitpunkt nichts mehr unternehmen konnte, daß Katja es mir »leicht« machte, auch einmal abzuwarten, was von ihr kommt.
Am 31.Juli schrieb ich ihr dann doch noch kurz, daß ich einiges akzeptieren kann, anderes überzogen finde:
»...Mehr will ich dazu heute nicht sagen, weil Du ja schreibst, daß Du kein Gespräch willst. Gespräch aber ist die Grundlage jeder Möglichkeit der Konfliktbereinigung. Die Aggressionen gegen mich in Deinem Brief werden Dir vorübergehend Entlastung verschaffen. Das wird nicht lange dauern, dahinter lauert die Depression, und es sind selbstzer— . störerische Tendenzen in einer solchen blinden Abgrenzung. Ich werde mich zurückhalten, bis Du glaubst, ein oder mehrere Gespräche verkraften zu können. Bis dahin wünsche ich Dir alles Gute und hoffe von Herzen, daß es Dir gut geht, Du Deine Arbeit gut schaffst und nicht zu starke Enttäuschungen erlebst.«
Ihre Antwort kam postwendend ein paar Tage später:
»Nun möchte ich Deinen Brief doch beantworten, da ich in ihm doch endlich wieder einmal etwas sehr Vertrautes und Liebes von Dir entdecken konnte. Allerdings muß ich sagen, daß ich es eine arrogante Haltung finde, meine keineswegs blinde, sondern ganz bewußte Abgrenzung als irgendeine merkwürdige oder depressive Phase von mir abzutun. ... Auch halte ich es für wichtig, daß ich endlich einmal ehrlich sage, was ich denke. Ich möchte nicht mehr
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ständig diplomatisch, vorsichtig, zurückhaltend und abgedämpft sein. Ich bin eigentlich ein spontaner und impulsiver Mensch und möchte das endlich auch zeigen dürfen. ... Ich halte es gerade für unsere Beziehung für enorm wichtig, daß ich mich auch einmal deutlich gegen einige Sachen abgrenze. Wenn Du wieder Lust hast, mir auf meinen Brief zu antworten, würde ich mich freuen. Bis bald. Deine Katja.«
Ich hatte Lust; schon am nächsten Tag setzte ich mich an den Schreibtisch und antwortete unter anderem:
»Auch in Deinem letzten Brief sehe ich, wie Du Deinen Anteil am Konflikt sehr verharmlost und meinen hochspielst. Da fehlt wirklich eine Ausgewogenheit. Abgesehen davon fand ich Deinen Brief auch nett, und ich konnte etwas damit anfangen. Jetzt habe ich auch das Gefühl — durch Deine beiden letzten Briefe —, daß Du ein Gegenüber bist, zuweilen freilich recht anstrengend (das bin ich auch), in Teilen aber auch unpräzise auf meine Gedanken eingehend.... Warum finde ich in Deinem Brief gar keine Selbstkritik? Mein Brief vom 20. Juli enthält durchaus Selbstkritik, ich nehme diese auf mich, weil ich sehr wohl weiß, daß ich meine Einseitigkeiten und Fehler habe. Nur, ob Du diese schon so genau siehst, das erscheint mir zumindest fraglich. Zum Sehen der Fehler gehört ein Sehen der Vorzüge.
Ich grüße Dich, Dein Wilfried.«
Auf diesen Brief hat Katja dann nicht mehr geantwortet. In einem langen Gespräch mit Irmgard, Roswitha und Eberhard Neumann konnte ich ein schwieriges Stück Selbsterkenntnis leisten. Alle drei waren sich darüber einig, daß ihnen in meinen Briefen etwas fehlt. Sie räumten ein, daß sie Katjas Briefe zum Teil unmöglich fanden, aber Irmgard zum Beispiel sagte mir, daß ihr in meinem Brief Gefühle fehlten: Trauer, Verlustangst, Liebe.
Eberhard sagte, daß er deutlich empfinde, ich stelle mich über Katja; da sei noch keine gleiche Ebene. Und mit Deutungen wie »Dahinter lauert die Depression« solle ein autoritäres Gefälle zuungunsten von Katja hergestellt werden. Ihm fehle, daß ich zu Katja uneingeschränkt verläßlich stehe.
Dazu sagte ich ihm, daß dies auch nicht der Fall sei; ich sei keineswegs bereit, um jeden Preis verläßlich zu Katja zu stehen.
In diesem Gespräch brauchte ich relativ lange, um zu begreifen, was die anderen mir sagen wollten. Gebe ich meiner Tochter das Gefühl von hundertprozentiger Sicherheit — daß ich zu ihr stehe, in jedem Fall? So wie es andere, die Freunde, aber auch Katja, mir geben? Offenbar nicht genug. In ihren Augen habe ich keine Angst um sie, bleibe unbeteiligt, werde manchmal sogar schulmeisterlich, wenn der Verlust der Beziehung droht. Spürt Katja von mir genug Verbindlichkeit und Freundlichkeit?
Mir ist klar geworden, wie die Beziehung zu Katja in den vergangenen Monaten gelaufen ist, welche Fehler ich gemacht habe und warum meine Reaktionen so schwer annehmbar gewesen sind. Vor allem, weil ich Schwäche und Angstgefühle zurückhalte.
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3 Kontaktversuch mit Trauer
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Ich schrieb Katja im Laufe des Jahres 1991 noch mehrmals; es waren meist kurze Briefe, mit Bitten um Vorschläge zur weiteren Vorgehensweise, mit Gratulationen zum Führerschein usw. Im Freundeskreis sprachen wir über das Zerwürfnis. Irgendwann kamen mein Freund Eberhard Neumann und ich auf die Idee, daß es hilfreich sein könnte, wenn auch er einmal versucht, mit Katja Beziehung aufzunehmen. Er schrieb ihr am 13. Dezember 1992:
»Liebe Katja, wie Du Dir denken kannst, ist es mir nicht entgangen, daß der Kontakt zwischen Deinem Vater und Dir abgebrochen ist, ohne daß ich allerdings über Einzelheiten dieses Abbruchs wüßte. Dies auf die Beziehungen zu meinen Töchtern übertragen, empfinde ich das als sehr schmerzlich, und deswegen schreibe ich Dir. Zwar bin ich der widersprochenen Meinung, daß Dein Vater in der Pflicht ist, die Beziehung zu Dir zu suchen, Du müßtest dies allerdings zulassen. Ich glaube unbesehen, daß es für Dich Gründe zu Groll gibt, daß vieles Schwierige unbesprochen geblieben ist, daß Marginalien im Vordergrund gestanden haben, die der Auseinandersetzung nicht wert waren. Kurz, daß Du Gründe hast, Dich zu beklagen. Aber ich glaube, daß der Abbruch des Kontakts unbedingt vermieden werden muß, bevor nicht sehr viel an Auseinandersetzung ohne Erfolg versucht wurde. Dies ist bei Euch beiden längst nicht der Fall.
Ich würde es mit meinen Töchtern so machen, mich intensiv um sie bemühen, wobei ich allerdings sicher sein möchte, daß sie es auch wollen. Dies weiß Dein Vater von Dir nicht. Ich schreibe Dir, weil ich nicht zusehen möchte, wie die Beziehung zwischen Dir und Wilfried möglicherweise dauerhaft beendet ist, weil ich — seit fünfzehn Jahren — Sympathie für Dich empfinde, ... weil ich Dir sagen möchte: Konfrontiere Wilfried, laß ihn nicht aus, laß ihm seine Ausweichmanöver, mit denen er seine Gefühle verdeckt, nicht durchgehen. Alles dies ist schwierig, ich weiß es. Aber brich den Kontakt nicht ab. Um Dir klar zu machen, daß ich Deine Partei ergreife, schlage ich Dir vor, uns zu einem Spaziergang oder zu einer Radtour zu treffen.
Sei herzlich gegrüßt, Dein Eberhard Neumann.»Nicht nur mit diesem Brief, sondern auch mit zwei Treffen, die zwischen ihm und Katja stattfanden, hat sich Eberhard sehr intensiv um die Wiederherstellung meiner Beziehung zu Katja bemüht. Er erzählte mir, daß Katja stark emotional unterlegte Kritik an mir geäußert hat, berichtete aber auch von Anzeichen, daß die Wiederaufnahme des Kontakts möglich sein könnte, von Äußerungen Katjas, die versöhnlich schienen. Ich war sehr froh über diese Versuche Eberhards, zumal ich von ihm auf diese Weise manches von Katja hörte, was ich sonst nicht erfahren hätte. Eine dauerhafte Veränderung der Gefühlsbeziehung — sowohl von Katjas, als auch von meiner Seite — konnte allerdings durch seine Intervention nicht erreicht werden.
Im Dezember 1992 hatte ich sehr viel an Katja gedacht, mit schmerzlichen Gefühlen. Sabine und Johannes Carnap sprachen mich wegen Katja an, wie denn die Beziehung inzwischen stünde. Ich erzählte, daß wir keinen Kontakt miteinander hätten. Sabine tröstete mich, berichtete, daß es mit einigen ihrer Kinder ähnlich verlaufen sei, daß es in den Jahren, als die Kinder etwa zwischen 25 und 35 Jahre alt waren, sehr wenig Kontakt gegeben hätte. Ihre Erfahrung aber sei, daß sie dann wieder auf ihre Eltern zukommen. Nun, ich glaubte das. Sabine Carnap hat viel Lebenserfahrung und Menschenkenntnis, und ich kann mir vorstellen, daß es mir mit Katja genauso geht. Ich wollte allerdings nicht mehr so lange warten.
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Ich hatte Sehnsucht, Katja wiederzusehen. Und ich machte einen neuen Versuch, schrieb einen weiteren Brief: »Ich finde es betrüblich, daß Du Dich so lange nicht gemeldet hast, aber ich bin außerdem so wütend, daß ich mir keine Trauer gestatte. Dennoch hoffe ich, daß es Dir gut geht, weil mir Deine eisige Distanz ja auch zeigt, daß ich mir keine Schuldgefühle machen muß und Du sehr wohl in der Lage bist, Dein Leben auch ohne mich zu führen. An die kleine Katja, die mir auf der Straße entgegengeflogen kam, weil sie Sehnsucht nach mir hatte, denke ich mit Wehmut, mit viel Wehmut. Dein Wilfried.«
Dieser Brief blieb endlich nicht ohne Reaktion; drei Wochen später kam Katjas Antwort. Darin las ich unter anderem:
»Wahrscheinlich kann man jeden Menschen im Leben irgendwie entbehren. Ich habe auch ohne meine Mutter weiterleben können. Das heißt selbstverständlich nicht, daß es nicht wichtig sei, eine gute Beziehung zu Dir zu haben. Ich erinnere mich sehr wohl an schöne und vertraute Zeiten, in denen ich mich auch aufgehoben und geborgen gefühlt habe. Allerdings scheinst Du mit Wehmut nur an die kleine Katja zurückzudenken und auch nur diese zu vermissen. Das war, wie Du weißt, schon oft mein Eindruck. Ich furchte, wir werden dann nicht zusammenfinden. Heute bin ich eine erwachsene und selbständige Frau und möchte auch als solche respektiert und gemocht werden. Klein und niedlich werde ich nicht mehr werden.
Deine Katja.«Ich fand diesen Brief zugewandt und freundlich, mir kamen aber auch allerhand kleinkarierte Bedenken in den Sinn. Dabei hat hier Katja auch von ihrer Trauer gesprochen, hat ihre wirklichen Gefühle ausgedrückt und mir zu verstehen gegeben, daß sie es wichtig findet, eine gute Beziehung zu ihrem Vater zu haben. Ich war nicht glücklich mit meiner andauernden Gefühlsverhaltenheit, mit meinen Widerständen, Katja etwas Liebesvolles, Werbendes zu sagen. Dummheit und Stolz wachsen auf einem Holz.
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Wieder führte ich ein Gespräch mit Irmgard, Roswitha und Eberhard. Sie hatten es wirklich mit einem verstockten Vater zu tun. Ich hatte das Gefühl, es wären mindestens dreißig Seiten Brief nötig, um all die Mißverständnisse aufzuklären, die sich zwischen Katja und mir angesammelt hatten. In schlaflosen Nächten dachte ich an dieser Beziehung herum. Weil mir Schreiben als sehr schwierig erschien, kam mir die Idee, meine Tochter besser anzurufen.
Nun stand ich vor der Frage, was ich am Telefon sagen sollte. Auch ein Telefonat kann sehr schwierig sein. Wenn ich zum Beispiel sage: »Ich möchte dich gerne sprechen«, könnte sich das autoritär anhören. Auch »Ich möchte Dich gerne treffen« schien mir immer noch zu direktiv, zu festlegend. Ich entschloß mich zu sagen: »Ich möchte dich gerne einmal wiedersehen.«
Einige Tage später horchte ich noch einmal in mich hinein, stellte fest, daß ich keine Lust hatte, Katja zu treffen. Mir wurde die Angst bewußt, mich bei einem Telefonat wieder zu argen, womöglich würde alles noch schwerer werden. Und dann wäre es ganz aus, für sehr lange Zeit. Manchmal dachte ich in diesen Tagen auch, daß ich mir Zeit lassen sollte. In mir scheint etwas zu liegen, das abwartet, den anderen werben lassen möchte. Es ist kein Zufall, daß mein erstes Buch den Titel »Männer lassen lieben« trägt; er hat selbstverständlich auch mit mir zu tun.
Am 10. Januar 1993 entschloß ich mich zu schreiben. Ich schilderte meinen Zwiespalt zwischen Anruf und Brief, daß ich nicht genügend Courage und Motivation hätte, noch Zeit brauchte, um zu wissen, was nun richtig sei. Es dauerte wiederum etwa zwei Monate, bis Katja antwortete:
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»Lieber Wilfried,
nun antworte ich doch recht spät auf Deinen Brief, obwohl ich das nicht wollte. Allerdings brauche ich immer eine gewisse Ruhe zum Briefeschreiben. Die hatte ich in letzter Zeit nicht.
Ich war erstaunt, von Dir zu hören, daß Du genau den gleichen Gedanken hattest wie ich, nämlich, sich einfach zu treffen, ohne den Anspruch, eine Auseinandersetzung zu führen oder gar einen Konflikt zu lösen. Ich hatte bisher den Eindruck, daß Du solch ein Treffen niemals in Betracht ziehen könntest. Auch ich furchte, daß solch eine Verabredung sehr schwierig werden könnte, aber andererseits würde mich ganz einfach interessieren, was Du inzwischen machst, wie Du aussiehst und so weiter.
Immerhin haben wir uns seit zwei Jahren nicht gesehen, das heißt, ich Dich schon, im Fernsehen. Einiges würde ich Dir auch gerne erzählen. Ob das möglich ist? Ich weiß nicht. Jedenfalls würde ich solch ein Treffen auf alle Fälle begrüßen. Vielleicht rufst Du doch einfach an, wenn Deine Motivation noch etwas mehr wird. Ich würde mich freuen.
Deine Katja.»Irgendwann rief ich an. Es kam zu zwei Treffen. Ich hatte Katja am 3. März 1991 zum letzten Mal — auf dem Flughafen — gesehen und sah sie jetzt, am 19. März 1993, zum ersten Mal wieder. Am Morgen dieses Tages hatte ich keine gute Stimmung. Alle Leute schienen mir aggressiv zu sein. Ich stand auf, fühlte mich unbehaglich, das mußte wohl in Zusammenhang mit dem bevorstehenden Treffen mit Katja stehen.
Wir begrüßten uns freundlich, unverbindlich, wollten ja keine Konflikte ansprechen. Sie erzählte mir, was sie inzwischen erlebt hatte, zum Beispiel auf einer Reise nach Tunesien. Ich hörte zu, versuchte mich einzufühlen, dachte: »Katja wird mich alt finden.« Wir gingen um den Schlachtensee herum, dann in ein Antiquitätengeschäft. Ich kaufte ein Glas, steckte es in meine Tasche, dann spazierten wir weiter am See entlang. Ich hatte mit Rückenschmerzen zu kämpfen.
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Nach dem Spaziergang fuhr mich Katja mit dem Auto nach Hause. Sie machte den Eindruck, als ob es ihr gut ginge, hatte offenbar unser Treffen nicht schlecht gefunden, und erzählte mir noch, daß sie für zwei Wochen nach Thailand fahren wolle.
Nachmittags rief mich Irmgard an, die in Salzburg war. Ich erzählte ihr: »Es war langweilig. Ich spüre kein richtiges Interesse bei mir. Katja lebt in einer ganz anderen Welt. Ich verstehe sie nicht mehr. Sie will nach Thailand fahren...«
Danach arbeitete ich zwei Stunden an meinem Buch, ordnete Unterlagen, wurde müde und ging noch eine Stunde spazieren. Auf der Fredereciastraße sah ich ein Reisebüro. Da war doch früher ein Blumenladen. Ich stutzte, wurde sehr traurig — und mußte weinen. Der Blumenladen war so schön. Warum ist hier jetzt ein Reisebüro? Ich spürte das unbedingte Gefühl, die Zeit anhalten zu müssen. Es sollte alles wie früher sein. Mir wurde schmerzlich zumute, dann dachte ich kurz: Ich habe doch gar keinen Grund zur Trauer. Dann fühlte ich wieder Rückenschmerzen, und mir wurde allmählich klar, daß ich trauerte. Die Rückenschmerzen waren Trauer. Es war wichtig, daß ich sie zuließ.
Offenbar trauerte ich um Katja! Ich hatte sie wiedergetroffen, nach zwei Jahren Pause, aber ich hatte sie doch verloren. Sie lebte nicht mehr in meiner, sie lebte in einer ganz anderen Welt. Wie kann ich die Brücke schlagen? Katja lebt in den Tag hinein, so schien es mir. Sie hatte zwar davon gesprochen, ein Studium der Pflegewissenschaften an der Humboldt-Universität ins Auge zu fassen — ich riet ihr natürlich sofort zu — ein Pionierstudium, eine große Chance. Ob Katja diese beherzt ergreift, war mir sehr fraglich.
Ich trauerte, weil ich Katja für mich verloren glaubte. Jedenfalls hatten wir uns verständigt. Nach dem 26. April waren wir beide in Berlin, wollten uns wiedertreffen. Wir führten das Telefonat, von dem eingangs die Rede war.
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